Wir leben in einer Zeit eines tiefgreifenden Übergangs. Wenn wir dabei Orientierung suchen, geht es zentral um die Deutung der Wirklichkeit.
In unsere westliche Kultur ist eine Haltung zur Wirklichkeit verankert, die sie auf das Objektivierbare reduziert. Die Welt erscheint wie ein Werkstück, das wir bearbeiten. Dies entspricht dem technisch-naturwissenschaftlichen Denken der letzten 200 Jahre. Diese Haltung findet sich auch heute nach wie vor in manchen klimapolitischen Beiträgen. Der Rahmen für die Wirklichkeit ist scheinbar genau beschreibbar.
Ein solcher, reduzierte Zugang zur Wirklichkeit ist weder natürlich noch vernünftig. Er basiert auf einer Weltanschauung, die sich immer mehr in den gesellschaftlichen Vordergrund geschoben hat und die durch zwei zentrale Thesen gekennzeichnet ist:
– Die Welt ist wie ein Objekt, das sich bearbeiten lässt.
– Menschen bewegen sich als Individuen in dieser objektiven Welt, als in ihren Körper eingekapselte Wesen, die soziale Beziehungen eingehen können, aber nicht eingehen müssen.
Anders stellt sich die Wirklichkeit dar, wenn wir bei unserer leiblichen Existenz ansetzen. Unser Leib trennt uns nicht, sondern verbindet uns mit der uns umgebenden Wirklichkeit und mit anderen Menschen. Philosophische Ansätze wie die von Maurice Merleau-Ponty, von Paul Ricoeur und Bernhard Waldenfels haben diese leiblichen Lebensbedingungen genauer untersucht.
Menschen leben aus einer elementaren Verbundenheit, einer Verbundenheit mit anderen Menschen, mit der Umwelt. Wir sind nicht nur aktive, gestaltende, sondern auch passive, empfangende Wesen. Der christliche Glaube vertieft diese Erkenntis und weist zugleich darüber hinaus auf eine radikale Erfahrung der Verbundenheit, auf die Verbundenheit mit Gott.
Wenn wir als leibliche Wesen so elementar verbunden sind, dann wird die Wirklichkeit zu einer offenen Wirklichkeit. Wir haben keine Möglichkeit, einen vollständigen Überblick zu erlangen. Die Wirklichkeit ist unüberschaubar, gerade weil sie uns zu nah ist. Orientierung in einer offenen Wirklichkeit fordert also eine Bescheidenheit ein, dass wir nur Teile der Wirklichkeit erkennen. Diese Intuition hatten und haben aber auch die großen Forscherinnen und Forscher: Es bleibt die Neugier, sich auf das Unbekannte einzulassen, immer wieder von neuem zu lernen.
Die Frage der Wirklichkeitsdeutung begleiten meinen Lebensweg. Parallel zum Ingenieurstudium haben mich philosophische und theologische Texte beschäftigt, im Theologiestudium ging es vor allem um ein Verständnis von Wissenschaft und Technik. An der Evangelischen Akademie im Rheinland betreue ich den Dialog zwischen Naturwissenschaften und Theologie.
In drei aufeinander aufbauenden Monographien, erschienen im Alber Verlag, bin ich den Fragen nachgegangen:
1. Was wissen wir über die Welt? (Offene Wirklichkeit)
2. Was wissen wir über die Identität des Mensch? (Identität in einer offenen Wirklichkeit)
3. Was tun wir, wenn wir von Gott reden? (Rede von Gott in einer offenen Wirklichkeit).
4. Inwieweit sind wir mit anderen Menschen verbunden? (Soziale Verbundenheit)
————-

Die Untersuchung zeigt die grundsätzliche Offenheit der Wirklichkeit, die man zwar erfolgreich naturwissenschaftlich erforschen, die man aber nicht in einer geschlossenen und vollständigen Darstellung abbilden kann. Sie knüpft an die phänomenologischen Arbeiten von Merleau-Ponty an, der eine Beschreibung der Wirklichkeit jenseits eines Subjekt-Objekt-Dualismus anstrebte. Aufgrund ihrer leiblichen Existenz können Menschen sich von der Wirklichkeit distanzieren, aber nicht vollständig aus ihr lösen. Weder monistische noch dualistische Ansätze der Weltbeschreibung können deshalb überzeugen. Einerseits werden die objektivierend arbeitenden Naturwissenschaften in vielen Techniken immer wieder bestätigt, andererseits gibt es darüber hinaus Erscheinungsweisen der Wirklichkeit, die etwa in bestimmten Sinnerfahrungen, Emotionen und Intuitionen einen Ausdruck finden. Ein Schema, das sich aus der Metapher des Chiasmus (griechischer Buchstabe mit zwei sich verschränkenden Linien wie ein X) ableitet, ist Grundlage für die Entwicklung eines phänomenologischen Realismus. Aus dieser Analyse der Wirklichkeit folgt die Forderung nach einer Kultur, die die lebensweltlichen und die wissenschaftlichen Erkenntnisse in eine fruchtbare Beziehung setzt. Demgemäß ist eine offene Erkenntnishaltung, die die Anstrengungen des Verstehens mit einer Achtsamkeit auf die unverstandenen und unverstehbaren Anteile der Wirklichkeit verbindet.
Inhaltsverzeichnis und Einleitung „Offene Wirklichkeit“
————–

In der Moderne kommt der Frage nach der Identität eine besondere Bedeutung zu. Antworten auf die Frage „Wer bin ich?“ sind immer weniger durch feststehende kulturelle Traditionen geprägt. Dieser Verlust kann philosophisch als Gewinn gedeutet werden, wenn er den Blick für unsere menschliche Situation öffnet. Der gegenwärtig populäre Ansatz beim Individuum als Ausgangspunkt für die Frage nach der Identität verkennt jedoch die Bedingungen der leiblichen Existenz. Arbeiten von Merleau-Ponty und Waldenfels zeigen, dass wir als leibliche Wesen immer schon auf die Wirklichkeit, die uns umgibt, und auf die Anderen, die mit uns leben, ausgerichtet und mit ihnen verbunden sind. Identität erweist sich so als verflochten in eine Dynamik, die immer auch über sie hinaus geht. Nie sind wir ganz bei uns selbst, Eigenes und Fremdes lassen sich nicht trennen. Die phänomenologische Analyse legt dar, dass Verbundenheit ebenso zu unserer Identität gehört wie Getrenntsein. Identität in einer offenen Wirklichkeit zeigt sich in unterschiedlichen Spuren, die je ihre eigene Qualität, Stärke und Begrenzung haben, sie zeigt sich als Verflechtung, als narrative Identität, als Individualität. Die Studie zeichnet diese Spuren nach.
Inhaltsverzeichnis und Einleitung „Identität in einer offenen Wirklichkeit„
————-

Die Rede von Gott ist eine bestimmte Weise, Wirklichkeit zu erschließen. Diese Aussage erscheint in einer Zeit verwunderlich, in der die Naturwissenschaften zu der maßgebenden Autorität der Wirklichkeitsdeutung avanciert sind. In weit verbreiteten Reaktionen auf deren Erfolg wird der Aussagebereich einer Rede von Gott eher auf ein unspezifisches Jenseits oder auf das subjektive Empfinden und moralische Handeln von Individuen eingeschränkt. Die phänomenologische Analyse weist aber auf, dass die Wirklichkeit, mit der der leiblich existierende Mensch immer schon verbunden ist, weiter ist als das, was objektivierende Darstellungen zeigen können. Narrative Formen und metaphorische Ausdrücke erschließen die Wirklichkeit in einer gegenüber den Naturwissenschaften eigenständigen Erscheinungsweise. Die Auslegung von Texten mittels hermeneutischer Methoden zeigt fragile und von Spannungen gekennzeichnete Ordnungen einer kontingenten und geschichtlichen Wirklichkeit. Dazu gehört auch die christliche Rede von Gott, die an die Erzählungen des biblischen Kanons anknüpft. Darüber hinaus gibt es eine Erscheinungsweise der Wirklichkeit mit nur indirekt beschreibbaren Phänomenen, die aber eine große Relevanz für das Wirklichkeitsverständnis hat. Die Rede von Gott erhöht mit Hilfe einer Vielzahl von Grenzausdrücken die Aufmerksamkeit auf die Phänomene dieser Erscheinungsweise. Einige Grenzausdrücke wie „Reich Gottes“, „Gott der Vater“, „In Christus sein“ sollen mit phänomenologischen Methoden interpretiert werden.
Inhaltsverzeichnis und Einleitung „Die Rede von Gott in einer offenen Wirklichkeit“
————
Eine weitere Publikation befasst sich mit der Frage, welche sozialphilosophischen Bedeutung die existentielle Verbundenheit zwischen Menschen hat. Die Untersuchung kritisiert den zurzeit hegemonialen Diskurs der Gesellschaft, der sich auf Individuen und gesellschaftliche Systeme wie das ökonomische System konzentriert. Sie fordert eine größere Beachtung der Formen sozialer Verbundenheit, die sich im Laufe der Geschichte kontinuierlich ändern.

In der Gegenwart verlieren die gesellschaftlichen Formen der Verbundenheit, politische Parteien, Gewerkschaften, Vereine oder Kirchen, an Bedeutung. Eine leibphilosophische Analyse zeigt, dass Menschen aber nicht nur selbstbestimmte Individuen, sondern immer auch existentiell miteinander verbundene Wesen sind. Das spiegelt sich in ihrer Suche nach Gemeinschaft und Solidarität. Welche Formen der Verbundenheit können in der Zukunft Bedeutung erlangen? Diskutiert werden traditionelle Gemeinschaften, die Solidarität in emanzipatorischen Kämpfen, die Verbundenheit in Religionsgemeinschaften und in digitalen Netzwerken.
Inhaltsverzeichnis und Einleitung „Soziale Verbundenheit“
(1. Auflage 2020, 2. Aufl. 2021 mit weiterem Vorwort)
————-