Gut oder böse? Identitätssuche mit dem Holzhammer

Digitale Plattformen, soziale Medien bestimmen heute das öffentliche Bewusstsein in großem Maße. Ihre Wirkung zeigen sie gerade in Zeiten der gesellschaftlicher Unsicherheit, wie jetzt, während der Corona Pandemie. Was ist angesichts der großen Herausforderungen richtiges Handeln? Was sollen wir tun? (Die staatlichen Verordnungen genau beachten? Gegen die staatlichen Verordnungen protestieren?) Aber auch: Wie sollen wir was benennen? Können wir uns darauf einigen, worum es überhaupt geht? (Als was ist die Pandemie zu beschreiben?) Hinter diesen Fragen steht immer auch die Frage: Wer sind wir? Wenn wir uns auf eine bestimmte Form des Handelns einigen und eine bestimmte Form des Sprechens, dann bringen wir damit zugleich zum Ausdruck, wer wir sind.

Digitale Kommunikation

Das ist erst einmal nichts Neues, das gab es immer schon und wird es in menschlichen Gesellschaften immer geben. Neu ist allerdings, dass die Fragen in einem relevanten Umfang in den digitalen Medien ausgehandelt werden. Es ist schon oft beschrieben worden, dass es hier zu starken Polarisierungen kommt. Das hat auch mit Beobachtungen zweiten Grades zu tun. Menschen beobachten nicht nur in den sozialen Medien, was andere tun, sie beobachten auch, wie andere sie beobachten. Nur wer dieses Spiel beherrscht, kann auf Resonanz hoffen. Es gilt in gewisser Weise, vorweg zu nehmen, wie andere auf eine bestimmte Nachricht, auf ein bestimmtes Ereignis reagieren. Die Wirkung dieses Verhaltens lässt sich sehr gut bei dem Kurznachrichten-Netzwerk Twitter nachvollziehen. Eine positive Reaktion läuft hier vor allem über die Funktionen „Like“ und „Retweet“. Wer diese beiden Funktionen nutzt, zeigt einerseits Zustimmung und andererseits, sofern die Zustimmung öfter erfolgt, Zugehörigkeit. Die Zugehörigkeit aber ist dann Teil der eigenen Identität.

Unvermeidlich Polarisierungen

Diese Mechanismen führen in der Praxis zu einer immer wieder neu zu bestätigenden Zweiteilung. Es gibt solche, die für eine bestimmte Position stehen und solche, die dagegen sind. Die Zugehörigkeit ist dann mit eindeutigen Wertungen verbunden. Es geht in gewisser Weise um die Unterscheidung von „gut“ und „böse“. In manchen Debatten ist eine solche Zweiteilung notwendig und triftig. Das gilt vor allem, wenn offene Konflikte ausbrechen und es gilt, die Konflikte zu bestehen. Doch bei weitem nicht alle gesellschaftlichen Debatten sind Ausdruck solchen Konflikte. Und da beginnt dann das Problem.

„Dünne“ und „dichte“ Wertungen

Menschliche Verhältnisse sind in den allermeisten Fällen irgendwo zwischen „gut“ und „böse“ zu verorten. Gesellschaftliche Konflikte sind oft schwer zu durchschauen, eine Position mag auf erstem Blick „gut“ sein, erweist sich aber auf dem zweiten auch in nicht geringen Anteilen als „böse“. In einer Welt, die immer mehr auf die Vermittlung zwischen Kulturen angewiesen ist, ist aber die Fähigkeit zu Zwischentönen von größter Bedeutung. Der Philosoph Kwame Anthony Appiah hat in seinem Buch „Der Kosmopolit. Philosophie des Weltbürgertums“ auf die Unterscheidung von „dichten“ und „dünnen“ Konzepten bzw. Wertungen hingewiesen. Dünn sind Wertungen wie „gut“ und „böse“, weil sie eine starke Wertung signalisieren, aber kaum mit einem festen Inhalt verbunden sind. In der Geschichte wurden schon sehr unterschiedliche Positionen „gut“ oder „böse“ genannt. Im gesellschaftlichen Alltag aber überwiegen „dichte“ Wertungen, wie „mutig“, „unhöflich“ oder „ungeduldig“. Diese Wertungen kann man nur verstehen, wenn man stärker in die Kulturen und die gesellschaftlichen Kontexte eintaucht, in der sie verwendet werden. Sie zeigen an, dass Menschen in ein dichtes Geflecht von Bewertungen eingebunden sind, die eine vielfältige Verbundenheit mit anderen Menschen und zur ihrer kulturellen und natürlichen Umgebung zum Ausdruck bringen. Diese Wertungen spielen in jeder Gesellschaft und Kultur eine erhebliche Rolle für die Bestimmung von Identität.

Kosmopolitische Kulturen brauchen Zwischentöne

Was passiert nun, wenn Identität immer stärker über die polarisierende Rede der digitalen Medien bestimmt wird? Dann gehen die Zwischentöne verloren. Die eigene Identität ergibt sich dann durch die Zugehörigkeit zu der einen oder zu der anderen Gruppe. Eine soziale Kommunikation, die polar strukturiert ist, führt zu einer ausgedünnten Form der Identität. Es ist die Identitätsbestimmung, die mit dem Holzhammer geschieht: Draufhauen oder nicht Draufhauen, das ist dann die Frage. Zwischentöne, aus denen das Leben besteht, gehen verloren. Das ist bedauerlich, aber ist es auch bedrohlich?

Die Zwischentöne sind aber gerade in einer kosmopolitischen Welt, wie Appiah betont, von allergrößter Bedeutung. Die unterschiedlichen kulturellen Ausdrucksformen, die Nuancierungen werden aber in einer polarisierenden Kommunikation immer weniger wichtig. Es sind aber gerade die dichten Konzepte und Wertungen, die unsere Identität in der Gesellschaft stabilisieren. Nur in den seltensten Fällen können wir in der Beschreibung unseres Lebenslaufes zwischen „gut“ und „böse“ unterscheiden. Wir waren und sind mehr oder weniger mutig, aufgeschlossen, tolerant oder auch abweisend, misstrauisch, engstirnig. Das, was für uns als Einzelne gilt, gilt auch für gesellschaftliche Formationen, für Formen der Verbundenheit, in denen wir uns organisieren. Auch die sind in der Regel nicht einfach „gut“ oder „böse“. Und es gilt für gesellschaftliche Ausdrucks- und Umgangsformen. Ein Indikator für solche dichten Wertungen ist zum Beispiel der Ekel. Europäer, so stellt Appiah fest, essen in größeren Mengen Schweinefleisch. Warum nicht auch Katzenfleisch, so fragt er provokativ. Es gibt offenkundig eine Unzahl von kulturell tief verankerten Wertungen, die die eigene Identität beeinflussen und die wir nicht mit einfachen, dünnen Unterscheidungen wie „gut“ und „böse“ erfassen können.

Instabile Identität – Wer sind die Anderen?

Deshalb kann der kulturelle Schaden auf Dauer groß sein, wenn man stets darauf schaut, ob man dafür (gut) oder dagegen (böse) ist. Ein Indikator für diesen Mechanismus sind immer wieder neue Ausdrücke für die „anderen“. Aus der Perspektive meiner Gruppe waren die anderen zunächst Pegida und die Rechten, dann die Hater im Netz, die Fake News Konsumenten, dann die Querdenker und Corona Leugner. Diese Gruppen sind bei weitem nicht identisch. Wer fungiert morgen als „die anderen“? Das führt zu einer Instabilität der Zuordnungen. Gesellschaftliche und kulturelle Äußerungen werden sofort darauf hin geprüft, ob sie dieser Gruppe zuzuordnen sind.

Instabile Identität – ein aktuelles Beispiel

Jüngst geschah das mit der eigenartigen Video Aktion von finanziell gut abgesicherten Schauspielerinnen und Schauspielern (erstaunlich viele Tatort-Mimen). Man muss die Aktion nicht gut finden. Manches war eher komisch pathetisch als treffend ironisch. Manches war völlig daneben („Angstmacher“). Aber sehr eigentümlich ist, dass, nachdem die Aktion von den Beteiligten, allesamt Menschen mit guter Reputation, etliche Wochen vorbereitet worden war, die Videos von etlichen innerhalb von 24 Stunden nach Publikation wieder mit einer öffentlichen Entschuldigung zurückgezogen worden sind. Die vorherrschende Meinung in den sozialen Medien war, in den Videos Hilfestellungen für Querdenker und Corona Leugner zu sehen. Zu allem Überfluss gab es auch noch Applaus von der falschen Seite. Muss es aber nicht auch möglich sein, etwas zu tun, was vielleicht nicht so gelungen ist, ohne damit zugleich die eigene Identität zu riskieren?

Für eine reiche, kulturell verankerte Identität

Eine reiche, gesellschaftlich und kulturell verankerte Identität lässt sich über solche Prozeduren, die sich allein an den „dünnen“ Wertungen wie „gut“ und „böse“ orientiert, nicht gewinnen. Sie ist nur über „dichte“ Wertungen möglich, in denen es ein Mehr und Weniger gibt, Nuancierungen, Urteile immer wieder neu justiert werden. Appiah macht deutlich, dass gerade der kulturelle Wandel in einer kosmopolitischen Welt hier ansetzen muss. Eine Identität, die sich über „dünne“ Wertungen von „gut“ und „böse“ abzusichern versucht, ist arm an Ausdrücken und dauerhaft instabil.

Zur Identität in politischen Diskursen

Welche Bedeutung haben Identitätsfragen in der Politik? Während politisch rechte Positionen sich klar an eine kulturelle oder nationale Identität binden, ist das bei linken Positionen nicht so eindeutig. Stehen hier nicht eher die Fragen von Gleichheit und Gerechtigkeit im Vordergrund? Das lässt die Frage aufkommen, was eigentlich Identität in den politischen Debatten genau meint. Der Begriff „Identität“ ist außerordentlich schillernd und das gibt Anlass für eine Vielzahl von Interpretationen.

Identität spielt in fast allen politischen Auseinandersetzungen eine wichtige Rolle. Leider wird Politik heute jedoch oft in einer technokratischer Engführung wahrgenommen. In einem solchen Politikverständnis ist ein Bezug auf Identität scheinbar nicht notwendig. Aber jenseits technischer Systemsteuerungen und Verwaltungserlasse spielen Identitätsfragen im politischen Handeln stets eine herausragende Rolle. Sie werden nur unterschiedlich artikuliert.

Zunächst ein paar Worte zur menschlichen Identität

Der Begriff der Identität ist notwendigerweise unscharf. Es gibt keine eindeutige Definition von Identität, so dass einige vorgeschlagen haben, beim Menschen eher von negativer Identität zu sprechen, also davon, dass das Besondere menschlicher Identität gerade darin besteht, immer im Letzten unbestimmbar zu bleiben. Die Philosophie von Maurice Merleau-Ponty, die bei der leiblichen Existenz des Menschen ansetzt, kann zeigen, dass menschliche Existenz auf keinem „Grund“ ruht. Menschliche Existenz ist in entscheidendem Maße immer auch mehr und anders als das, was gerade konkret als Identität bestimmt wird. In einer Formel nach Bernhard Waldenfels: Das Eigene ist nie ohne das Fremde. Es gibt keine Chance, sich des allein des Eigenen zu versichern. Auch die eigene Identität bleibt in Teilen fremd. So muss auch die Frage offen bleiben, worauf sich genau die „Identität“ bezieht. Geht es etwa um die Identität eines „Selbst“, so folgt die Frage: Wie ist dieses „Selbst“ bestimmt? In ähnlicher Weise entstehen Fragen, wenn das „Selbst“ durch das „Subjekt“ oder der „Mensch“ oder die „Person“ ersetzt wird.

Nun kann man entgegnen, das seien doch philosophische Fragen, in der konkreten politischen Auseinandersetzung sei schon klar, was unter Identität zu verstehen ist. Das ist in vielen konkreten Auseinandersetzungen tatsächlich so, insbesondere dann, wenn man die Identität in sozialen Auseinandersetzungen bestimmt. In konkreten politischen Auseinandersetzungen geht es nicht um die Identität an sich, sondern um diese oder jene Rechte, um soziale Teilhabe, um Anerkennung, um Gerechtigkeit. Aber es ist wichtig, zu Beginn festzuhalten, dass auch in jeder konkreten politischen Auseinandersetzung um Identität immer etwas ungesagt bleibt.

Es ist nicht nebensächlich, wie der Bezug zur Identität in der Politik hergestellt wird. Da es keinen exklusiven und ausgezeichneten Zugang zur Identität gibt, gibt es unterschiedliche Zugänge zur Identität in der Politik. Das kann weitreichende Folgen für das politische Handeln und Selbstverständnis haben. Die folgende Unterscheidung folgt der Veröffentlichung „Identität in einer offenen Wirklichkeit“.

1. Identität als Differenz

Eine Weise, die Identität einer Person zu bestimmen, ist es, sie von anderen Personen zu unterscheiden. Unterscheidungsmerkmale zwischen Menschen gibt es zuhauf. Jeder Mensch vereint auf sich unterschiedlichste Merkmale, kein Mensch gleich dem anderen aufs Haar. Jeder Mensch hat eine besondere DNA, die eine eineindeutige Zuordnung möglich macht.

Die Referenzgröße dieser Identitätsbestimmung ist das Individuum. Jeder Mensch hat Eigenschaften, die ihn besonders charakterisieren. Individuen sollen in ihrem Leben zu sich selbst kommen, sich selbst mit seinen Eigenschaften verwirklichen. Viele Aspekte der Identität sind erst einmal persönliche Bestimmungen, die nicht gleich politisch sind. Aber sie können politisch werden, etwa dann wenn Menschen mit bestimmten Eigenschaften sich in der Gesellschaft als benachteiligt erleben. Dann wird das Private, die individuelle Eigenschaft, politisch.

Die Konzentration auf Eigenschaften des Individuums macht die Ansätze bei der Identität als Differenz sehr anschlussfähig an den herrschenden gesellschaftlichen Mainstream. In diesem hegemonialen Diskurs stehen das Individuum und seine Rechte im Mittelpunkt. Die Grundideen speisen sich aus liberalen Traditionen. Die neoliberale Wirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte, die globale Marktorientierung mit flexiblen Produzenten und Konsumenten haben diese Entwicklung verstärkt. Weitere Einflussfaktoren sind eine Hochschätzung der Authentizität oder manche Wirkungen der digitalen Medien wie einer Selfie-Kultur.

Deshalb hat die Auffassung von Identität als Differenz oft eine gesellschaftsweite Resonanz. In den sozialen Medien finden Forderungen nach einer Identitätsbestimmung durch Differenz schnell Zustimmung. Offen bleibt aber die Frage, ob nach der Zustimmung auch ein gesellschaftlicher Wandel einsetzt oder ob es bei kurzfristigen Zustimmungs- oder Abgrenzungswellen bleibt.

Identität aus Differenz ist eng mit moralischen Argumenten verbunden. Andere gesellschaftliche Akteure werden als moralische Individuen angesprochen. Es werden Appelle zur Beachtung der moralischen Werte ausgesprochen und Empörung bei Übertretung geäußert. Strukturelle gesellschaftliche Konflikte spielen hier nur eine untergeordnete Rolle. Es entsteht der Eindruck, dass, wenn nur alle die moralischen Werte beachten würden, eine freie und harmonische Gesellschaft differenter Individuen entstehen könnte. Die geschichtliche Entwicklung kommt dann in einer „bunten“ Gesellschaft möglicherweise an ein Ende.

Oft geht mit diesem Verständnis von Identität eine diffuse Rede von Solidarität einher. Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist für moralische Individuen scheinbar jederzeit möglich. Die Potentiale für sie sind hiernach in der Gesellschaft immer gegeben und können leicht aktiviert werden. In der Corona Krise kann man immer wieder solche Appelle an eine eher unspezifische, einer sehr verallgemeinerten Solidarität hören. Manche Formulierungen appellieren an das große „Wir“. Das legt nah, es gäbe schon einen soliden gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das ist aber angesichts der Verwerfungen in der Gesellschaft bei Vermögensverteilung, bei Bildungschancen und bei vielem anderen divergenten Interessen sehr erstaunlich.

2. Identität aus sozialer Verbundenheit

Für diese Bestimmung von Identität ist die Verbundenheit mit anderen Menschen konstitutiv. Identität wird in sozialen Beziehungen verhandelt. Entscheidende Anteile der eigenen Identität kann ein Mensch nicht aus sich selbst schöpfen, sondern ist auf andere Menschen angewiesen. Menschen sind als leiblich existierende Wesen auf grundlegende Weise miteinander verbunden. Diese wechselseitige Verbundenheit ist etwas, was in der ersten Auffassung von Identität gerne unterschätzt wird. Jeder Mensch ist in soziale Kontexte eingebunden und auch die individuelle Identität und ihre Eigenschaften werden, genau besehen, sozial verhandelt. Es ist offenkundig, dass damit von Beginn an gesellschaftliche Konflikte in den Fragen der Identität angelegt sind.

Soziale Beziehungen bilden die Grundlage für die Ausbildung der Identität eines Menschen. Bevor ein Mensch sind individualisieren kann, existiert eine Verbundenheit mit anderen, die die eigene Existenz unvermeidlich prägt. Soziale Beziehungen sind nur in Grenzen von einem Individuum selbst bestimmbar, vieles entzieht sich der eigenen Verfügungsmacht. Insofern sind auch viele Eigenschaften, die der Identität durch Differenz zugrunde liegen, Ergebnis eines oft konflikthaften sozialen Aushandlungsprozesses. Die Identität, die aus der sozialen Verbundenheit resultiert, ist nie konfliktfrei. Aber diese Konflikte müssen nicht destruktiv sein. Es fragt sich, wie die Konflikte gestaltet werden, so dass sie gesellschaftliche Entwicklung voranbringen. Hier steht nicht das Individuum allein im Mittelpunkt, wichtig ist ebenso die soziale Struktur, die längerfristigen gesellschaftlichen Formen der Verbundenheit.

Menschen haben eine je eigene Individualität. Dies ist aber kein Naturzustand, sondern eine kulturelle Errungenschaft und Folge von sozialen Aushandlungsprozessen. Sie spielt in vielen Bereichen moderner Gesellschaften eine wichtige Rolle, insbesondere in der Rechtsprechung. Die Instanz, auf die hin die Rechtmäßigkeit eines Verfahrens geprüft wird, ist sehr oft das autonome Individuum. Diese Errungenschaft gilt es unbedingt zu bewahren. Allerdings darf man nicht außer Acht lassen, dass sie auf weitreichenden historischen und kulturellen Voraussetzungen beruht. Erst dann zeigen sich auch die Gefährdungen des Erreichten. Es kann auch wieder verloren gehen.

Die Identität, die sich aus der sozialen Verbundenheit erschließt, ist hoch dynamisch und eingebunden in eine geschichtliche Entwicklung. Sie entsteht in einem ständigen Wechselspiel, einem ständigen Austausch, jede Bestimmung von Identität bleibt fragil. Sie entsteht durch Zuspruch und Widerspruch. Menschen leben von der Anerkennung anderer Menschen, zugleich widersprechen sie aber auch Zuschreibungen, die sie nicht für angemessen halten.

Diese sozialen Strukturen umfassen auch technische und ökonomische Dimensionen von Gesellschaft. Die klassischen sozialen Bewegungen sind durch die Ausbildung einer sozialen Identität bestimmt. Das Kommunistische Manifest etwa adressierte jene Menschen, die durch die neuen, industriellen Produktionsformen ausgebeutet wurden. Dies war für die Autoren des Kommunistischen Manifests von größter Wichtigkeit: Die Identität der Proletarier bestimmte sich aus ihrem Platz im industriellen Produktionsprozess und der damit einher gehenden Verelendung. Das erst festigte ihre wechselseitige Solidarität. Solidarität ist nicht etwas, was einfach durch unspezifische Mitmenschlichkeit gegeben ist. Sie muss in sozialen Formationen immer wieder neu artikuliert und errungen werden. Solidarität ist deshalb eng mit einer sozialen Identitätsbestimmung verwoben. Die Unterscheidung zwischen einer „Soziallinken“ und einer „Identitätslinken“ ist insofern vordergründig, als es auch einer Soziallinken um die Identität geht, nämlich derjenigen, die in einem bestimmten sozialen Kampf der Industriegesellschaften verwickelt sind.

Die soziale Identität findet seinen im Alltag wohl wichtigsten Ausdruck in Erzählungen. Erzählungen machen soziale Formationen erkennbar. Erzählungen prägen auch die Antworten auf die Frage nach der Identität im Alltag. Wenn Menschen nach ihrer Identität gefragt werden, antworten sie zumeist, in dem sie zu erzählen beginnen: Ich bin da und da aufgewachsen, hatte diese Eltern, habe jene Ausbildung gemacht, arbeite in diesem Beruf, diese Menschen waren und sind in meinem Leben wichtig. In sozialen Formationen wird um identitätsbildende Erzählungen gerungen. Sie sind nie selbstverständlich oder einfach nur gegeben. Sie sind auch nie objektiv. Jede Erzählung lässt etwas weg, hebt bestimmte Aspekte hervor. Jede Erzählung kann und muss deshalb kritisiert werden. Nur in abgeschlossenen Ideologien wird eine bestimmte exklusive Erzählung normativ gesetzt.

3. Identität als letzte Gewissheit

Immer wieder gibt es Menschen, die ihre Identität maßgeblich auf singuläre Erfahrungen und unmittelbare Gewissheiten zurückführen. Das klassische Beispiel hierfür ist eine religiöse Offenbarung. Aber auch säkulare letzte Gewissheiten und Weltanschauungen gehören hierher. Diese Erfahrungen und Gewissheiten lassen sich nicht allgemein verbindlich begründen. Menschen bejahen sie oder aber auch nicht.

Nicht selten prägen aber diese Erfahrungen die soziale und politische Identität. Diese Form der Identität stellt ein großes Problem für die politische Kommunikation dar. Anders als bei der Identität als sozialer Größe ist es hier schwierig, einen Konflikt zu definieren, der eine konstruktive Seite hat und die gesellschaftliche Entwicklung fördert. Nur allzu schnell führen Identitäten, die auf letzten Gewissheiten basieren, in politischen Auseinandersetzungen zu destruktiven Effekten. Jederzeit ist es möglich, dass letzte Gewissheiten der Identitätsbestimmungen in den politischen Raum eindringen und dann totalitäre Strukturen fördern. Im 20. Jahrhundert waren das nicht religiöse, sondern säkulare letzte Gewissheiten und Identitätsbestimmungen. Identität wird hier hergestellt durch eine absolute Auszeichnung eines Volkes oder einer Nation. Identität wird zum Identitären und Totalitären. Eine demokratische Gesellschaft muss deshalb immer wachsam sein, ein verzerrter Identitätsbegriff kann schnell desaströse politische Folgen haben.

Fazit

Eine Diskussion von Identitäten ist in der Politik unumgänglich und wichtig. Die Frage ist jedoch, wie sie geführt wird. Wenn sie unter Verweis auf letzte Gewissheiten geführt wird, ist sie schnell gefährlich und kann ins Totalitäre abgleiten. Wird sie dagegen über die Identität als Differenz geführt, bleiben viele Fragen offen. Die wichtigste ist die, wie aus einem solchen Ansatz längerfristige gesellschaftsverändernde Impulse entstehen sollen. So bleibt die Identität eine politische Größe, die Menschen als leibliche und sozial verbundene Wesen stets aufs Neue verhandeln müssen.

Das Thema „Identität in der Politik“ stand im Mittelpunkt der kommenden Sendung „Philosophisches Radio“ am 12. April.

Weitere Informationen zu der Veröffentlichung „Identität in einer offenen Wirklichkeit“.

Weitere Informationen zu der Veröffentlichung „Soziale Verbundenheit. Das Ringen um Gemeinschaft und Solidarität in der Spätmoderne“