Judith Butlers Plädoyer für Gewaltlosigkeit inmitten ambivalenter menschlicher Beziehungen

Im letzten Jahr hat Judith Butler ein Buch zum Umgang mit Gewalt veröffentlicht: „Die Macht der Gewaltlosigkeit. Über das Ethische im Politischen“, Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. Gewalt, so ihr zentraler Gedanke, lässt sich nicht auf das Handeln einzelner Personen isolieren, Gewalt ist immer ein soziales Geschehen: „In einem bestimmten Sinne ist Gewalt, die einem anderen angetan wird, auch Gewalt, die dem Selbst angetan wird, aber nur dort, wo die Beziehung zwischen ihnen sie auf grundlegende Weise definiert.“ (S. 20) Das „Selbst“ und der „Andere“ sind zutiefst verbunden, nur, wenn das wahrgenommen wird, kann es auch gelingen, Gewalt durch Gewaltlosigkeit zu überwinden. Dies ist einer der zentralen Gedanken des Buches von Butler. Denn der soziale Bezug ist für Menschen elementar, eine Politik eine Ethik der Gewaltlosigkeit kann nicht davon absehen. Damit setzt die Autorin einen Kontrapunkt zu der hegemonial gewordenen Vorstellung vom Menschen als Individuum. Sie stellt fest, „dass die überzeugendsten Gründe für eine Ethik der Gewaltlosigkeit  direkt eine Kritik des Individualismus implizieren und ein erneutes Durchdenken der sozialen Bindungen erfordern, die uns als lebendige Wesen konstituieren.“ (S. 28)

Die fundamentale Bedeutung sozialer Verbundenheit

Die Bedeutung der sozialen Verbundenheit für das Verständnis des Menschen ist auch in diesem Blog von zentraler Bedeutung. Die soziale Verbundenheit lässt sich aus einer genaueren Analyse der Bedingungen leiblicher Existenz von Menschen ableiten. Es geht dabei nicht darum, die Individualität zu ignorieren, es geht aber darum, Individualität und Singularität auf der Grundlage sozialer Beziehungsgeflechte entscheidend zu relativieren: „Singularität und Abgrenzung existieren, aber sie bilden ausdifferenzierte Merkmale von Wesen, die kraft ihrer wechselseitigen Beziehungen existieren.“ (S. 30)  Jede Reduzierung auf ein isoliertes Individuum führt zu einer Verzerrung, die nach Butler nicht als Grundlage für eine Ethik und eine Politik der Gewaltlosigkeit dienen kann. Natürlich sind damit noch viele Fragen und Probleme ungelöst: Wie wird Gewalt interpretiert bzw. was wird in einer Gesellschaft auch nicht als Gewalt interpretiert? (vgl. S. 27) Wie kann man verhindern, dass die Rechtfertigung von Gewalt einer instrumentellen Logik folgt? (vgl. S. 32)

Konflikte gehören zu menschlichen Beziehungen

Butler betont immer wieder: Menschliche Verhältnisse lassen sich durch keinen Ansatz konfliktfrei gestalten. Viele Widrigkeiten und Widersprüche bleiben, auch wenn man dem von Butler vorgeschlagenen Weg folgt: Es gibt „keine Praxis der Gewaltlosigkeit ohne grundlegende ethische und politische Ambiguität; das heißt, dass ‚Gewaltlosigkeit‘ kein absolutes Prinzip ist, sondern eine andauernde Anstrengung bezeichnet.“(S. 38) Butler weist immer wieder darauf hin, dass auch soziale Beziehungen nicht einfach das Gute in die Welt bringen, sondern ebenso sehr Ursache von Konflikten sein können. Konflikte gehören „potentiell zu jeder sozialen Bindung“ (S. 55). Butler vertritt also keine romantisierende Vorstellung von gelingender sozialer Verbundenheit, sondern sieht in den so betonten „Abhängigkeiten und Interdependenzen“ (S.80) immer auch eine Quelle einer Vielzahl von Problemen. Dennoch kann man nicht von ihnen absehen. Im Gegenteil, wenn man beim Individuum ansetzt, ist der Weg zur Gewaltlosigkeit auch systematisch verbaut. Denn soziale Verbundenheit kennzeichnet menschliche Verhältnisse von Grund auf. Butler betont: „ Wir alle wurden, unabhängig von unseren späteren politischen Auffassungen, in einen Zustand radikaler Abhängigkeit hineingeboren.“ (S. 58) Weiterhin gilt, „dass wir mit dem Erwachsenenwerden die Abhängigkeiten der Kindheit nicht überwinden. „(S. 59).

Betrauerbarkeit als Basis universeller Würde

Verbunden sind Menschen aber immer nur in begrenzter Zahl miteinander. Wie gelingt es dann, einen universalen Anspruch analog der Menschenwürde zu etablieren? Butler führt als Grundlage für universale Werte den Begriff der „Betrauerbarkeit“ ein. Nur dann, wenn Menschen betrauerbar sind, haben sie einen fundamentalen Wert. Nur wenn alle Menschen betrauerbar sind, gilt dieser Wert universal. Jeder kulturelle oder nationale Ausschluss gefährdet die Betrauerbarkeit. Sie bietet die Basis der Menschenwürde. Es ist offensichtlich, dass Butler den etwas ungewöhnlichen Begriff der „Betrauerbarkeit“ einführt, um die universale Menschenwürde aus den sozialen Beziehungen abzuleiten, nicht aus der Existenz von Individuen. Ethischen Beziehungen gründen in einer wechselseitigen dyadischen Verbundenheit: „Ich betrachte dich als betrauerbar und wertvoll, und du betrachtest mich vielleicht ebenso.“ (S. 99) Der Begriff der Betrauerbarkeit bleibt dennoch sperrig, es fragt sich, ob ethische Verhältnisse nur mit der äußersten Grenze des Todes begründet werden können. Es wäre meiner Ansicht nach auch möglich, die Menschenwürde aus dem sozialen Zusammenhang direkt abzuleiten, nämlich so, dass der beurteilende Mensch sich in gleicher Weise als Mensch erkennt wie der beurteilte Mensch. Die Verbundenheit, die dann aufscheint, ist existential.

Verbundenheit von Kindheit an

Butler entwickelt weitere Argumente der ethischen Grundlegung zwischenmenschlichen Verhaltens unter anderem unter Bezug auf Immanuel Kant und Sigmund Freud, was nicht immer überzeugt, da beide ihren oben skizzierten Grundansatz ja eher nicht teilen. Anders ist es bei der ausführlichen Darstellung der Psychoanalytikerin Melanie Klein. Klein zeigt all die Ambivalenz zwischenmenschlicher Beziehungen auf zwischen Liebe und Schuld und Butler resümiert in Bezug auf Klein, „dass hier die psychoanalytische Basis für eine Theorie der sozialen Bindung liegt.“ Klein kann gerade in Kleinkindanalysen zeigen, wie fundamental sich zwischenmenschliche Verbundenheit gestaltet, die in der Kindheit erworben wird. Die Analyse gipfelt in dem Satz: „ Das ‚Ich‘ lebt so in einer Welt, in der sich Abhängigkeit nur durch Selbstauslöschung überwinden lässt.“ (S. 127) Jede Ethik und Politik der Gewaltlosigkeit muss vor Augen führen, dass Gewaltlosigkeit nicht einfach ein altruistischer Zug ist, sondern etwas mit der Selbsterhaltung zu tun hat. Das gilt selbst dann, wenn diese Beziehungen von Konflikten geprägt sind, was nach menschlichem Ermessen wohl für fast alle Beziehungen gilt. Eine Ethik der Gewaltlosigkeit an diesen anknüpfen, „denn ich bin zum Erhalt dieser konfliktuellen Bindungen angehalten, ohne die ich selbst nicht existieren würde“. (S. 129f)

Butler verfolgt ihren Ansatz in weitere Gefilde, etwa das des Rechts. Hier orientiert sie sich an einer frühen Schrift von Walter Benjamin. Butler scheint hier nahe zu legen, dass jede Form des Rechts inhärent gewalttätig ist. Diese Folgerung erscheint mir zu weitreichend. Gerade wenn man annimmt, dass Konflikte zwischen Menschen unumgänglich sind, ist doch das Recht eine große zivilisatorische Errungenschaft! Die Analyse des Todestriebs bei Freud führt nach Butler in eine Sackgasse: Es ist für sie offenkundig, dass Freud nicht das genügende Instrumentarium hat, um die destruktiven Tendenzen menschlicher sozialer Bezüge klar zu benennen.

Gefährdung und Widerstand in allen menschlichen Bezügen

Zum Abschluss macht Butler auf einen äußerst wichtigen Punkt aufmerksam: Es ist gängig geworden, Betroffenengruppen zu identifizieren, gefährdete Gruppen von Menschen, die es zu schützen gilt. Klar ist, dass der humane Impuls von großer Wichtigkeit ist. In den Worten von Butler geht der Kampf dann darum, dass auch diesen Menschen Betrauerbarkeit zukommt. Jedoch entsteht dabei unbesehen schnell eine Asymmetrie. Die „Fürsorge“ für die Gruppen der Gefährdeten kann nach Butlers Ansicht nicht die Basis eine Politik der Gewaltlosigkeit sein. Dafür gibt es zwei Gründe: Einerseits plädiert Butler entschieden dafür, auch in den gefährdeten Menschen aktive und gestaltende Menschen zu sehen, die auf den Zustand der Gefährdung mit aktivem oder passivem Widerstand reagieren. Andererseits entsteht so eine Verengung der Perspektive, weil Gefährdung immer zu jeder menschlichen sozialen Beziehungen gehört und eine Einschränkung auf bestimmte Gruppen dazu führt, nur über andere nachzudenken. „Gefährdung durchzieht und bedingt soziale Beziehungen, und ohne diese Einsicht können wir kaum erfassen, welche substantielle Gleichheit hier gefragt ist. (…) Der Blick auf Gefährdung als Bestandteil des verkörperten sozialen Bezugs und Handelns hilft uns verstehen, wie und warum ganz bestimmte Widerstandsformen entstehen.“ (S. 233) Schließlich gilt Gefährdung nicht „als Eigenschaft des Subjektes, sondern als Merkmal sozialer Beziehungen“. (S. 243)

Mit Butler lässt sich festhalten: Neuere Entwicklungen in der Politik, die dazu tendieren, isolierte Identitäten zu betonen, müssen immer wieder auf die Tatsache sozialer Verbundenheit rückgebunden werden. Isolierte Individuen und Identitäten können nicht die Grundlage für eine Gesellschaft sein, die sich das Ziel der Gewaltlosigkeit gesetzt hat! Es muss darum gehen, bei den sozialen Beziehungen, bei der sozialen Verbundenheit anzusetzen, die immer ambivalent sind. Nur so kann es gelingen, einen realistischen Weg zu einer Gesellschaft, die von Gewaltlosigkeit geprägt ist, zu finden.

Damit setzt Butler auch ein kräftiges Korrektiv zu bestimmten Strömungen so genannter identitätspolitischer Bewegungen, ohne dass diese explizit genannt werden. Ihr eindringliches Plädoyer ist, die immer schon bestehenden sozialen Bezüge, in denen wir leben, in all ihrer Ambivalenz ernst zu nehmen. Nur so lässt sich eine Politik der Gewaltlosigkeit auf Dauer installieren. Eine Politik dagegen, die von einer eher unverbundenen Menge von Individuen ausgeht, die sich über bestimmte Eigenschaften definieren und unterscheiden, eine Politik also, die die Grundsätze des Liberalismus mit der Fokussierung auf das Individuum fortzuschreiben versucht, wird dazu nicht in der Lage sein.

links, rechts, liberal – Zur aktuellen Diskussion um Identitäten in der Politik

Neuere identitätspolitische Positionen werden zurzeit intensiv diskutiert. Es handelt sich nicht um eine geschlossene Bewegung, eher kann man die unterschiedlichen Positionen eine gesellschaftliche Strömung nennen. Was zeichnet sie aus? Im Kern geht es diesen Stimmen um die Beseitigung von Ausgrenzung jeglicher Art. Diese Positionen begehren auf gegen Rassismus, gegen patriarchale Strukturen, gegen die Ausgrenzung von marginalisierten Gruppen, die sich unter dem Kürzel  LGBTIQ+ zusammenfassen lassen. Zentrale Begriffe wie „Diversity“ oder auch „Buntheit“ zeigen an, dass sich diese Positionen durch eine zentrale normative Vorgabe geprägt sind: freie Entfaltung für jede Person in kritischer Abgrenzung gegen die Einschränkungen des bisherigen gesellschaftlichen Status. Es gibt mehrere Quellen, prominent sind die Postcolonial Studies wie der Gender Diskurs, die Positionen können aber religiöse Differenzen ebenso betonen wie kulturelle Unterschiede. Das Spektrum der Angebote für die Deutung dieser Positionen ist groß.

Die identitätspolitische Positionen als Fortschreibung der klassischen Linken

Ein erster Versuch ist es, diese Positionen als links einzuordnen. In der herkömmlichen politischen Debatte wird vorausgesetzt, dass sich die neuen Positionen zwanglos mit der klassischen Linken verbinden lassen, es geht dann nur um Spielarten der gemeinsamen Linken. Dann sind die Unterschiede eher von ästhetischen Fragen bestimmt, die einen betonen die klassische gewerkschaftliche Perspektive, die anderen eher den großstädtischen Livestyle. Die Grundelemente der Debatte gibt es schon länger. So hat etwa Axel Honneth sich in dem Buch „Die Idee des Sozialismus“ deutlich gegen eine Fixierung der Linken auf die Ökonomie ausgesprochen und einen Diskurs eingefordert, der die Diskurse um gesellschaftliche Anerkennung und bürgerschaftliche Rechte in den Mittelpunkt stellt. Honneth sieht in der Engführung auf sozioökonomische Fragen, dem von ihm so genannten Industrialismus, eine späte Wirkung der Zeit direkt nach der industriellen Revolution. Doch das ist seiner Ansicht nach ein Kardinalfehler traditioneller linker Positionen und so plädiert er im Sinne der „sozialen Freiheit“ mit Nachdruck für demokratische und plurale Lebensformen. Für Honneth sind diese Ziele eine innovative Fortschreibung der traditionellen Linken, die ihre Berechtigung zu einer anderen Zeit der Industriekultur hatte, sich aber nun öffnen muss gegenüber einer erweiterten Vorstellung eines Sozialismus.

Doch zeigen sich in dieser Zuordnung Risse, die besonders jene Partei zu spüren bekommt, die beide Strömungen zu vereinen versucht, die SPD. Die jüngste Diskussion um den Text von Wolfgang Thierse in der FAZ vom 22. Februar zeigt das exemplarisch. Das ist wohl nur die Spitze eines Eisbergs, es gibt viele Debatten, die entlang der Risse verlaufen. Jüngst hat Martin Eimermacher in einem Zeitartikel auf den Versuch aufmerksam gemacht, aus der Perspektive der identitätsorientierten Linken die Positionen der klassischen Linken einzuholen. Dies geschieht mit dem neuen Begriff des „Klassismus“. Gesellschaftliche Klassen- und Schichtenunterschiede werden nun unter den Bedingungen der identitätsorientierten Linken reformuliert: Die im kapitalistischen Produktionsprozess Randständigen erfahren wenig Anerkennung. Diese Gruppe von Menschen definiert sich nicht über sexuelle Orientierung oder Hautfarbe oder Religion oder kulturellen Besonderheiten, sondern über die Benachteiligung im Produktionsprozess. Eimermacher ist aber von der Strategie nicht überzeugt: „Mit dem Klassismusbegriff wird die soziale Frage in gängige akademische Antidiskriminierungsdiskurse eingespeist.“ Und weiter: „So begrüßenswert es ist, dass der Klassismusdiskurs offenbar vielen Menschen ermöglicht, über ihre Erfahrungen mit Armut und Ausbeutung zu sprechen, wird es doch da heikel, wo diese Erfahrungen im gleichen Atemzug identitätspolitisch sozusagen re-individualisiert werden. So besteht die Klassismus-Praxis (…) in der moralischen Justierung persönlicher Einstellungsmuster.“

Die identitätspolitischen Positionen links und rechts

Armin Pfahl Traughber unterscheidet in einem Beitrag in perspektiven ds konzeptionell zwischen der von ihm so genannten „Identitätslinken“ und der klassischen „Soziallinken“. Während die erste sich an Anerkennungs- und Identitätsfragen orientiert, stehen bei der zweiten die Gerechtigkeits- und Verteilungsfragen im Mittelpunkt. Der Autor zieht als nächstes einen Vergleich zwischen einzelnen Argumenten der so beschriebenen „Identitätslinken“ und der rechter Identitätsbewegungen. Zunächst stellt er zentrale Unterschiede fest: die „Identitätslinke“ bemüht sich um Minderheiten, die Rechte stellt traditionelle Mehrheiten ins Zentrum des Interesses, die „Identitätslinke“ hält die universale Gleichheit wie Menschenrechte hoch, die Rechte betont die gerade Unterschiede zwischen den Kulturen. Doch bei einigen Kriterien sieht er aber auch Parallelen: in der Essenzfixierung – Identitätsmerkmale sind essentiell und konstitutiv für das Selbstverständnis – beim Homogenitätsdenken – das Ideal einer weitgehenden Homogenität der Beteiligten – beim Kultur- und Menschenrechtsrelativismus – Gruppen erhalten das Recht, von den universalen Werten abzuweichen, schließlich in der Separierungstendenz – Gruppen schließen sich von der Mehrheitsgesellschaft ab.

Dieser Vergleich trifft vielleicht einzelne Argumentationen, aber er ist meiner Ansicht nach nicht weiterführend, er berücksichtigt die langfristige Ausrichtung nicht genügend. So werden Homogenität und Separierung von der „Identitätslinken“ gerade nicht auf Dauer gefordert. Die „Identitätslinke“ kritisiert die Diskriminierung bestimmter benachteiligter Gruppen zwar oft nicht mit universalen Werten, sondern mit dem Verweis auf eine partikulare Identität, die in der Mehrheitsgesellschaft nicht zum Zuge kommt. Diese Ziele sind aber zumeist eingebettet in das zentrale langfristige Ziel einer vielfältigen Gesellschaft mit gleichberechtigten Identitäten.

Die identitätspolitischen Positionen als liberale Positionen

Die Argumentationen der neueren identitätsorientierten Positionen zielen zentral auf das Individuum und seine Rechte. Die leitende Grundidee ist die Gleichheit aller Individuen, völlig unabhängig von den Eigenschaften, die sie haben. Die Eigenschaften bilden aber bis heute Unterscheidungsmerkmale, die in der gesellschaftlichen Wirklichkeit Zurücksetzung und Ausgrenzungen zur Folge haben.

Die Menge der Individuen mit den gleichen Merkmalen kann nun aber Menschen mit einem sehr unterschiedlichen sozialen Status erfassen. Da die Argumentation beim Individuum ansetzt, bleibt die Menge der Betroffenen in der Regel abstrakt, das heißt, sie sind nicht über eine schon länger bestehende Sozialstruktur verbunden. Die identitätspolitischen Positionen ermöglichen auch Gruppenbildungen, die offene Frage aber ist, ob das zum Aufbau längerfristiger Formen der Verbundenheit führt. Denn die Unterschiede in anderer Eigenschaften jenseits der gemeinsamen können groß sein: Es können Menschen, auf die eine Eigenschaft zutrifft, Wohnungslose oder angelernte Hilfskräfte sein, aber auch leitend in der Wirtschaft oder der Administration, sie können in sehr unterschiedlichen Ländern mit repressiven Regimes oder liberalen Demokratien leben. Dass das Individuum konzeptionell im Mittelpunkt, ist auch an der Art der Aktionen abzulesen: Die Ansprache an die Mitmenschen ist in der Regel appellativ, die Moral hat einen zentralen Stellenwert. Öffentliche Äußerungen werden in erster Linie auf Authentizität hin geprüft.

Eine weitere Besonderheit der Bewegung ist ein bestimmtes Verhältnis zur Geschichte. Geschichte taucht vor allem als Schuldgeschichte auf. Die Geschichte der westlichen Kultur ist tatsächlich über weite Strecken eine Geschichte der Unterdrückung. Diese Sicht knüpft an klassische linke Positionen an: Antikolonialismus, das Bekämpfung einer imperialistischen europäischen Politik, die Auflehnung gegen patriarchale Bevormundung etc. Jedoch: Die Geschichte wird in vielen Debatten vor allem als Schuldgeschichte thematisiert. Die Gegenwart hat dann die Aufgabe, sich von dieser unheilvollen Geschichte abzulösen. Die klassische Linke, die „Soziallinke“ dagegen war an einer Geschichte interessiert, in der auch Kräfte der Vergangenheit den Weg in ein besseres Morgen bahnen, da sie die Gesellschaft in Widersprüche verwickeln und dadurch Neues herbeiführen.

Durch die skizzierten Punkte gibt es in der Tat erhebliche Differenzen zur klassischen Linken. Nicht zuletzt Karl Marx hat immer wieder die Bedeutung der Gesellschaft und der gesellschaftlichen Geschichte für das Verständnis der Menschen hervorgehoben. Der Mensch als Individuum ist für ihn ein Abstraktum. Menschen haben immer eine durch die sozialen Bezüge vermittelte Identität. So schreibt Marx in der Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie: „Der Mensch ist im wörtlichsten Sinn ein zoon politikon, nicht nur ein geselliges Tier, sondern ein Tier, das nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann.“ Wenn Marx die Vorstellung des Individuums im Naturzustand ablehnt, so ist das auch eine Kritik an liberale Positionen eines Hobbes, eines Smith und eines Ricardo. Auch Judith Butler, auf die sich viele Positionen der Strömung berufen, hat in der neueren Veröffentlichung „Die Macht der Gewaltlosigkeit“ an diese klassische Argumentation anknüpft: Sie betont die immer schon bestehenden sozialen Beziehungen, die einer Konstituierung der Individualität vorangehen. Sie gilt es zu beachten, um eine gewaltfreiere Gesellschaft zu erreichen.

Nicht nur die Relativierung des Individuums, auch die Geschichte spielt in der klassischen Linken eine andere Rolle. Die Geschichte ist durch sozioökonomische Kräfte und Entwicklungen bestimmt, die durch die Zeiten hindurch auf die Gestaltung der Zukunft ausgerichtet werden sollen. Um die Zukunft zu erringen, müssen die Akteure in gewisser Weise von den Entwicklungen der Vergangenheit zehren. So waren die Arbeitsverhältnisse der frühen Industrie ohne Zweifel ausbeuterisch und doch steckten in den Produktionsmitteln nach Marx auch die Keime für den Wohlstand einer sozialistischen Gesellschaft.

Im Fazit haben viele identitätspolitischen Positionen emanzipatorische Ziele, ihre Konzepte und ihre Methoden sind eher in den liberalen Traditionen zu finden. Die Diskrepanz zur klassischen Linken erklärt die Spannungen in der SPD. Die Beschreibung erklärt zugleich die Resonanzfähigkeit in der Mehrheitsgesellschaft. Diese sieht in dem Appell an die freie Selbstverwirklichung und Gleichheit aller Individuen auch ihr eigenes Anliegen verhandelt. Die identitätspolitischen Positionen repräsentieren emanzipatorische Bewegungen innerhalb des hegemonialen Diskurses der Spätmoderne. Eine entscheidende Frage der Zukunft ist, ob die Artikulation über moralische Appelle auch zu einer langfristigen gesellschaftsverändernden Formen der Solidarität führen kann und ob dazu nicht immer auch sozioökonomische Randbedingungen der Gesellschaft und ihre längerfristigen Formen der Verbundenheit stärker berücksichtigt werden müssen.