Kann Moral schädlich sein?

Die Frage mutet eigentümlich an: Üblicherweise ist Moral in der öffentlichen Diskussion eine begehrte Ressource. Je stärker die eigene Position moralisch abgesichert werden kann, desto besser. Wer zeigen kann, dass die eigene Position sich als moralisch begründet, ja moralisch gefordert darstellen lässt, ist im Vorteil.

Moralische Forderungen sind notwendig

Ist das nicht auch gut so? Ist es nicht erforderlich, dass moralische Werte wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Selbstbestimmung usw. in gesellschaftlichen politischen Debatten möglichst viel Aufmerksamkeit finden? Was sollte dagegensprechen? Alles, was diese Werte fördert und vergrößert, ist gut.

Moralische Forderungen führen aber nicht automatisch zu moralischem Handeln

Es gibt aber ein grundlegendes Problem: Nicht alle moralischen Forderungen stärken die Moral im Handeln. Es gibt keinen Automatismus zwischen der Proklamation der Werte und ihrer Umsetzung. Nicht jeder und jede, die, der das Gute im Munde führt, stärkt auch eine gute Sache.

Lügen sind oft leicht durchschaubar

Dabei geht es hier nicht um eine bewusste Lüge oder Verstellung. Diese Möglichkeit ist Menschen immer gegeben: Dass sie das eine sagen, das andere aber tatsächlich wollen. Dass sie Gerechtigkeit im Munde führen, sich aber Zielen mit größerer Ungerechtigkeit verschreiben. Aber oft können solche Positionen auch schnell durchschaut werden. Mit genügenden Informationen können aber andere Menschen das böse Spiel erkennen und die Haltung verurteilen.

Moral unterschätzt die Eigenständigkeit der kulturellen und ökonomischen Kräfte

Es geht hier vielmehr um jene, die subjektiv den Eindruck haben, ihre Position sei tatsächlich moralisch und sie mit großer Aufrichtigkeit vertreten. Aber eine Konzentration auf den moralischen Anspruch legt oft nicht genügend Rechenschaft darüber ab, ob das moralisch Vorzügliche auch umgesetzt werden kann. Sie ignorieren, dass dem moralisch Vorzüglichen widrige politisch-kulturelle Kräfte entgegenstehen, die sich nicht einfach mit Empörung beseitigen lassen. Der Soziologe Hans Joas stellt mit Bezug auf das moralische Engagement der Kirchen fest: „Mit der Konzentration auf Moral wird aber nicht nur der Eigencharakter des Religiösen verfehlt, sondern auch der des Politischen.“ (Kirche als Moralagentur, S. 64) Dadurch aber kann eine starke Betonung der Moral eine politische Position schwächen, statt ihr zu nützen.

Beispiel Klimadiskussion

Nehmen wir als Beispiel die Diskussion um das Klima. Seit über 50 Jahren, seit der Veröffentlichung des Berichts des Club of Rome ist die Ahnung einer nahenden Katastrophe in der Öffentlichkeit. Vieles haben wir seitdem dazu gelernt, aber die Grundaussage war von Beginn an richtig: Wenn der Mensch weiterhin Raubbau an der Erde, an der Ökosphäre begeht, wird sie zerstört werden. Nun sind wir 50 Jahre weiter, können die Gefahren viel präziser beschreiben, erleben auch schon starke Auswirkungen, etwa durch die Erhöhung der Welttemperatur. Doch unser alltägliches Handeln hat sich kaum darauf eingestellt. Viele Menschen fahren Auto, fliegen gern, leben in großen Wohnungen, kaufen sich energieintensive Güter. Die allermeisten stimmen aber sofort zu, wenn sie gefragt werden, ob es wichtig sei, den Klimawandel zu begrenzen. Offenkundig geht beides gut zusammen: Der allgemeine moralische Anspruch und das konterkarierende alltägliche Verhalten.

Die kritische Frage an eine ganze Generation

Diese Frage muss sich eine ganze Generation stellen: Warum sind die Aufbrüche der 90er Jahre (die UN Konferenz von Rio de Janeiro 1992, die Diskussion um die Agenda 21, lokale Agenden etc.) so wenig ertragreich gewesen? Die moralischen Forderungen waren da. Viele Initiativen entstanden, die Umweltverbände wuchsen und gewannen an Macht. Warum ist die Zahl der Fernflüge seitdem explodiert, sind die produzierten Automobile immer schwerer geworden, statt kleiner und leichter?

Aussagestarke Bilder

Wer das Problem moralisiert, macht es sich offenkundig zu einfach und bekommt nicht die widrigen Kräfte in den Blick. Diese Kräfte sitzen offenkundig tief in den bewussten und unbewussten kulturellen Wahrnehmungsmustern. Nachrichten über einen wirtschaftlichen Aufschwung werden auch heute gerne mit dampfenden Schloten bebildert. Bilder eines glücklichen Urlaubs zeigt Menschen an Südseestränden. Auch die viel gepriesenen E-Autos sind groß und schwer und rasen in Werbebildern durch eine offene Ebene.

Kulturelle Prägungen, ökonomische Interessen

Eine Arbeit an dem Problem müsste also sich der Frage widmen, wie die widrigen Kräfte überwunden werden können. Diese Kräfte aber sind kulturelle Prägungen einer großen Zahl von Menschen in Tateinheit mit handfesten politischen und ökonomischen Interessen. Hinzu kommen soziale Verwerfungen, die die Moral nicht abbilden kann: Manchen Menschen fällt es bei den sehr ungleichen Vermögen leichter, sich umweltbewusst zu geben als anderen, die weniger Geld zur Verfügung haben. Eine einfache Moralisierung lässt all dies unberührt und so bleibt das alltägliche Verhalten  neben dem allgemeinen moralischen Anspruch bestehen. Das eigentlich Gewünschte, die Veränderung des Verhaltens, bleibt aus.

Follow the Science?

Wie steht es in unserer Gesellschaft um das Vertrauen in wissenschaftliche Forschung? Wissenschaften werden sehr unterschiedlich beurteilt. Das Spektrum reicht von Verschwörungstheorien bis hin zu dem Aufruf „Follow the Science“. In gewisser Weise finden sich die Wissenschaften mitten in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen wieder. Können wir einem offenen wissenschaftlichen Erkenntnisprozess trauen? Gerade auch dann, wenn die Unsicherheit der Erkenntnis betont wird? Welche Wirkung hat die gesellschaftliche Auseinandersetzung um Vertrauen/Misstrauen auf die Wissenschaften und ihre Stellung in der Gesellschaft?

Der wissenschaftsskeptische romantische Ansatz

Nicht wenige gesellschaftliche Stimmen heute lehnen Wissenschaften rundum ab. Die Fundamentalkritik an wissenschaftlicher Erkenntnis ist nicht über Nacht entstanden. Seit vielen Jahrzehnten gibt es gesellschaftliche Strömungen, die wissenschaftliche Erkenntnisse radikal hinterfragen. Wichtige Quellen sind die alternative Medizin, eine weitgehende die Ablehnung der technikdominierten Industriegesellschaft, der Wunsch, zur naturnahen Lebensweise zurückzukehren, die Hochschätzung der Erkenntnisse antiker und indigener Völker. Für all diese Haltungen gibt es gute Argumente, aber bei vielen verhärten sie sich zu einer Weltanschauung, in der das vermeintlich Ursprüngliche den modernen zerstörerischen Entwicklungen gegenübersteht. Populär wurde die Einstellung in den 70er Jahren, für eine längere Zeit war sie eng verbunden mit einem progressiven politischen Ansatz.

Von der Romantik zur Gegenaufklärung

Doch das wandelte sich zusehends. Es entstanden Milieus, die von einem tiefsitzenden Misstrauen gegenüber den Wissenschaften geprägt sind. Das verknüpft sich in der letzten Zeit immer mehr mit der Bereitschaft, alternative Erkenntnisquellen zu trauen, die Tür zu Verschwörungstheorien ist weit offen. Denn alle eint miteinander das Feindbild einer seelenlosen wissenschaftlichen Forschung, die nur Ausdruck der herrschenden Schichten sei. Der politische Ansatz ist nicht mehr progressiv, sondern aufklärungsfeindlich.

Die Gegenbewegung: Follow the Science!

Zugleich entstanden in den letzten Jahren jene Milieus, die sich gegensätzlich orientieren. Es scheint, dass ihre Einstellung sich auch darüber findet, dass sie ein Antipode zu der erstgenannten ist. Hier gilt geradezu die Devise „Follow the science“. Im Zentrum stehen die neuen Bewegungen gegen den Klimawandel. Wird der Wahrheitsgehalt wissenschaftlicher Aussagen von der ersten Gruppe in Frage gestellt, so wird hier ein nahezu unbedingtes Vertrauen gefordert. „Die Wissenschaft“ wird zur Instanz, die über die richtige politische Einstellung entscheidet. Die Wissenschaft ist die Quelle moderner und weltoffener Erkenntnis.

Die Wissenschaft sagt Wahrheit?

Doch auch diese zweite Haltung ist in hohem Maße fragwürdig. Das ist aus mindestens zwei Gründen so. Zum einen ist auch der wissenschaftliche Forschungsprozess korrumpierbar. Das hat sich in der Vergangenheit leider des Öfteren gezeigt. Deshalb muss wissenschaftliche Forschung vor allem eines sein: selbstkritisch. Eine kritiklos angenommene wissenschaftliche Aussage droht ihre Wissenschaftlichkeit zu verlieren. Nach Popper ist es gerade die hohe Würde wissenschaftlicher Aussagen, dass sie widerlegt werden können. Man kann der Wissenschaft nichts Schlimmeres antun, als ihre Aussagen kritiklos zu akzeptieren. „Follow the science“? Verräterisch ist hier schon der Singular: Es gibt die Wissenschaften nicht im Singular. Es gibt „die Wissenschaft“ als Instanz nicht, sie ist eher ein Fetisch. Es gibt sehr wohl wissenschaftlich arbeitende Menschen, Gruppen, Communities. Aber diese ringen, wenn sie wissenschaftlich arbeiten, immer wieder darum, ob ihre Erkenntnisse konsistent, korrekt sind, was noch unbeantwortet, was unverstanden ist.

Wissenschaft nicht im Elfenbeinturm

Es gibt einen weiteren Grund, warum die zweite Haltung fragwürdig ist. Es gibt gute Gründe, den real existierenden Wissenschaften zu misstrauen. Tatsächlich ist jede wissenschaftliche Forschung von Geltungsdrang, Machtfragen, Ressourcengewinnung und so weiter bedroht. Es sind Menschen, die forschen. Es steht immer in Gefahr, dass gesellschaftliche Macht- und Einflussfragen in die Wissenschaft hineingetragen werden: Wer die Forschung bezahlt, will auch an den Ergebnissen partizipieren. Das gilt für Patentierungsverfahren wie für die Erschließung staatlicher Ressourcen.

Im Für und im Wider fehlt das Vertrauen in offene Erkenntnisprozesse

Beide Haltungen haben im Grunde kein Vertrauen in einen offenen und fehleranfälligen wissenschaftlichen Forschungsprozess. Die einen lehnen die Wissenschaft grundsätzlich ab, die anderen machen sie zur Instanz, die sagt, was wahr ist. Der größte Teil der wissenschaftlichen Forschung besteht aus Vermutungen und Hypothesen. Ein aufgeklärter Umgang mit Wissenschaft wird das immer betonen. Doch auch hier zeigt sich eine Variante eines grundlegenden Vertrauensverlustes in unserer Gesellschaft!

Zur Einführung zum Thema Vertrauen und zu weiteren Beiträgen

Fragen zu Lützerath

Die Demonstration heute (Samstag, 14.2.) in der Nähe von Lützerath führt allen vor Augen, wie dramatisch die Auseinandersetzung um den noch benötigten Umfang des Braunkohleabbaus ist. Lützerath ist ein Symbol geworden für die Auseinandersetzung um die zukünftige Energieversorgung.

Die Eckpunktevereinbarung mit RWE

Im Mittelpunkt steht die Eckpunktevereinbarung, die Bundesregierung und Landesregierung NRW mit der RWE Konzern Mitte des Jahres geschlossen haben. Diese Vereinbarung sollte eigentlich eine positive Botschaft aussenden: In NRW soll der Ausstieg aus der Braunkohleförderung um 8 Jahre von 2038 auf 2030 vorgezogen werden. Die Vereinbarung beinhaltet eine Rechnung, wie ein vorzeitiger Ausstieg gelingen kann. Hierbei hat das so genannten Osterpaket der Bundesregierung von 2022 eine große Bedeutung, das den konsequenten Ausbau von regenerativen Energien vorsieht. Nur wenn dieser Ausbau geschieht, dann ist es möglich, den Ausstieg aus der Braunkohle um 8 Jahre vorzuziehen.

Die Kritik an der Vereinbarung

Nun steht die Vereinbarung mit dem RWE Konzern im Mittelpunkt der Proteste in Lützerath. Kritische Stimmen wie die des BUND und andere stellen alternative Rechnungen an, die einen viel schnelleren Ausstieg aus der Braunkohleförderung als möglich ansehen. Die Demonstrierenden fordern deshalb eine Revision der Vereinbarung und einen früheren Ausstieg.

Warum der Protest um die Vereinbarung?

Aber ist der skizzierte Streitpunkt aber wirklich so relevant wie es die dramatischen Bilder nahe legen? Stellt er nicht eher einen Nebenschauplatz dar? Es geht doch im Kern um die Bekämpfung des Klimawandels, um die Reduktion von CO2 Emissionen. Diese Reduktion wird möglich, indem klimaschädliche Energiequellen wie die Braunkohle, aber auch Schwarzkohle, Öl und Gas, so schnell als möglich reduziert werden. Das ist unstrittig.

Die Auseinandersetzung, die unsere Zukunft entscheidet

Die eigentlichen Felder der Auseinandersetzung, um dieses Ziel zu erreichen, sind genau zwei: Einerseits muss alles getan werden, um den Ausbau regenerativer Energien voranzutreiben. Andererseits muss alles getan werden, um den Energieverbrauch zu reduzieren. Von diesen beiden Seiten kann der Verbrauch klimaschädlicher Energiequellen und die Produktion von CO2 reduziert werden.

Szenario 2028

Nun nehmen wir einmal in der besten aller Welten an, es wäre möglich weit mehr und schneller als im Osterplan der Bundesregierung vorgesehen regenerative Energiequellen zu erschließen. Und nehmen wir an, es gelänge wirklich, unseren Energieverbrauch in der kommenden Zeit stark zu senken. Dann könnten wir vielleicht im Jahr 2028 feststellen, dass für die Energieversorgung in Deutschland Braunkohle nicht länger notwendig ist. Wer glaubt, angesichts der bis dahin weiter voranschreitenden Belastungen durch den Klimawandel, dass eine Bundesregierung dann für die Verfeuerung von Braunkohle eintritt, nur weil es in einer Vereinbarung von 2022 festgehalten ist?

Hindert die Vereinbarung den Ausbau regenerativer Energien? Das wäre vielleicht denkbar, wenn billige Braunkohle den Ausbau bremst. Hier müssen die Instrumente wie CO2 Besteuerung viel stärker zum Zugen kommen als bislang geplant. Dann steigen die Preise für Braunkohle und werden wirtschaftlich unrentabel, auch für RWE.

Was ist eine Vereinbarung?

Vereinbarungen und Verträge kann man bekanntlich kündigen. Ja, dann würde RWE klagen und müsste entschädigt werden. Dadurch entsteht ein Schaden. Deshalb sollte RWE nicht durch unbedachte Verträge in eine zu gute Position versetzt werden. Aber es ist ein finanzieller Schaden, keiner der den Klimawandel betrifft. Solche Entschädigungen sind immer wieder vorgekommen. Etwa auch beim vorgezogenen Atomausstieg. Nach der Katastrophe von Fukushima wurde der Ausstieg in kürzester Zeit politisch durchgesetzt. Die Firma UNIPER hat in kürzester Zeit ihr Geschäftsfeld durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine verloren. Dann ist der Staat eingetreten. Die Interventionen des Staates in privatwirtschaftliche Verhältnisse sind seit 2020 sehr zahlreich. Das alles ist teuer, aber nicht unmöglich. Die Diskussion im Jahr 2028 um den Klimaschutz wird noch viel heftiger sein als heute. Welche politische Partei würde es durchsetzen, wegen alter Verträge der Allgemeinheit massiven Schaden zuzufügen?

Deshalb ist die Konzentration auf den Vereinbarung mit dem Konzern RWE sehr fragwürdig, weil sie von den eigentlichen Feldern der Auseinandersetzung ablenkt: Der Ausbau regenerativer Energien und die Einsparung beim Energieverbrauch. Das und nur das reduziert CO2 Emissionen. Hier entscheidet sich, wie die Zukunft aussieht. Hier muss mobilisiert und müssen alle Kräfte konzentriert werden. Der Klimawandel schreitet voran, die Maßnahmen werden immer dringlicher.

Was ist Vertrauen?

In dieser Reihe geht es um das Thema Vertrauen in gesellschaftlichen Krisenzeiten. In Krisenzeiten sind grundlegende Formen des Vertrauens gefährdet. Dabei ist Vertrauen ist eine grundlegende Dimension menschlicher Existenz, ohne die vieles andere auch gefährdet ist. 

Vertrauen in die Umwelt

Menschen sind leibliche Wesen, sie brauchen Luft, Wärme, Flüssigkeit und Nahrung, um zu überleben. Jeder Mensch muss sich darauf verlassen, dass seine Umgebung diese Versorgung auch ermöglicht. Wir sind auf unsere Umwelt angewiesen, das erleben wir gerade jetzt, am Ende einer langen Periode der Ausbeutung fossiler Energien auf drastische Weise. Die Natur verändert sich durch unsere Eingriffe, sie wird bedrohlicher. Das ist auch für moderne Gesellschaften eine elementare Störung, weil Vertrauen immer auch Weltvertrauen ist.

Das soziale Miteinander lebt von Vertrauen

Menschen sind soziale Wesen, sie sind als endliche und bedürftige Wesen von Beginn des Lebens aufeinander angewiesen. Natürlich kann man sich im Idealfall einen Menschen vorstellen, der sich als Erwachsener völlig von der Gesellschaft isoliert und autark lebt. Das gilt jedoch nie für das gesamte Leben. Alle Menschen müssen ausnahmelos von anderen Menschen gezeugt, geboren, erzogen und behütet werden, bis sie dann im späteren Leben möglicherweise zur Selbstversorgung in der Lage sind. Die Menschheitsgeschichte ist auch die Geschichte einer zunehmenden sozialen Vernetzung. Das soziale Miteinander kompensiert nicht einfach nur Mängel, es setzt in den Kulturen einen großen Reichtum frei.

Vertrauen geht über Kontrolle hinaus

Die gegenseitige Abhängigkeit und die Unfähigkeit einzelner, ihre Beziehungen zur Umwelt, zu anderen Menschen vollständig zu kontrollieren, zeigen die grundlegende Bedeutung von Vertrauen. Wenn ich nicht alles kontrollieren kann, muss ich einfach darauf vertrauen, dass ich auch morgen satt werde, dass mir nahestehende Menschen nichts Böses wollen.

Eine Welt ohne Vertrauen ist kalt

Angenommen, die Kompensation wäre nicht mehr notwendig, angenommen es wäre einzelnen Menschen möglich, eine vollständige Kontrolle über ihre Versorgung und auch über die Entstehung von Nachkommen zu erlangen, so wäre diese Welt einer kontrollierten Sicherheit dennoch eine Horrorvorstellung. Alles wäre kalt und auf Funktionen reduziert. Vertrauen erst macht die menschliche Welt warm, erst sie lässt zwischenmenschliche Beziehungen reich werden und über sich selbst hinaus streben.

Vertrauen ist eine positive Kraft

Vertrauen ist nämlich nicht Ausdruck einer Strategie mit den eigenen Mängeln umzugehen. Als Kompensationsstrategie wäre Vertrauen nicht angemessen erfasst. Denn das Vertrauen ist eine positive, eine gestaltende Kraft. Menschen haben die Begabung, anderen Menschen zu vertrauen. Dies zeigt etwa auch die Redewendung „jemandem Vertrauen schenken“.  Hier zeigt sich eine Stärke, die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung möglich macht und bereichert.

Vertrauen ist immer gefährdet

Vertrauen ist nie von Sicherheit und Eindeutigkeit bestimmt. Das unterscheidet es fundamental von der Kontrolle. Vertrauen ist nicht ohne Risiko. Vertrauen kann ebenso gewonnen wie verloren werden. Es gibt beim Vertrauen eine grundlegende Asymmetrie, die wir alle kennen und auch schon erfahren haben: Vertrauen kann schnell zerstört werden, lässt sich aber nur langsam aufbauen. Das macht das Vertrauen gerade in gesellschaftlich krisenhaften Zeiten zu einer so kostbaren Größe.

Die große Anfrage an moderne Gesellschaften

Moderne Gesellschaften leben wie jede menschliche Gesellschaft von Vertrauen.  Stabile Vertrauensverhältnisse über die geteilte Lebenswelt vermittelt. Ich traue den Menschen, mit denen ich auf geraume Zeit zusammenlebe. Die starke Verunsicherung des gesellschaftlich vermittelten Vertrauens hat auch mit der Gestalt moderner Gesellschaften zu tun. Hier wird Vertrauen schnell zu einer prekären Größe, weil sie nicht mehr über traditionelle Formen sozialer Verbundenheit stabilisiert werden kann. In einer Krise, also in einer Situation, in der die eingeübten gesellschaftlichen Abläufe und Systeme nicht mehr so einfach fortgesetzt werden können, ist das Vertrauen schnell gefährdet und in besonderer Weise herausgefordert. Komplexe Gesellschaften leben aber von einer erheblichen Vertrauensbereitschaft. Vertrauenskrisen treffen moderne Gesellschaften unmittelbar.

Zur Einführung zum Thema Vertrauen und zu weiteren Beiträgen

Warum Vertrauen? Eine kleine Einführung

Mit diesem Blogbeitrag beginne ich eine Reihe, die sich mit dem Phänomen „Vertrauen“ auseinandersetzt. Warum „Vertrauen“? Vertrauen ist eine grundlegende Dimension menschlicher Existenz. Es ist grundlegend für alle zwischenmenschlichen Beziehungen, soziale Formen können ohne ein Mindestmaß an Vertrauen nicht existieren. Es geht dabei nicht nur um das Vertrauen, das ein Mensch zu einem anderen haben kann. Es geht vielmehr auch um das Vertrauen in zwischenmenschliche Strukturen, in Formen der Verbundenheit. Das können mehr oder weniger formale Strukturen sein, Nachbarschaften, Freundeskreise auf der einen Seite, Staat und Kommunen, Vereine, Parteien, Kirchen auf der anderen Seite. Wenn wir uns auf soziale Beziehungen einlassen, müssen wir ihnen gegenüber auch Vertrauen haben: Vertrauen, dass ein Wort gilt, Vertrauen, dass eine Regel gilt, Vertrauen, dass eine Zusage gilt. In eine kurze Formel gefasst: Vertrauen ist der Kitt menschlicher Gesellschaften.

Aktuelle Signale des Mißtrauens

Vieles deutet nun darauf hin, dass diese grundlegende menschliche Erfahrungsdimension in der kommenden Zeit in unserer Gesellschaft an vielen Stellen besonders herausgefordert, besonders gefährdet ist. Viele aktuelle Debatten zeigen, wie brüchig bislang zweifelfreies Vertrauen heute schon ist. Das zeigt sich auf der einen Seite in der Bereitschaft, Verschwörungstheorien zu folgen, die ja immer auch ein starker Ausweis von Misstrauen sind, das zeigt sich aber auch auf der anderen Seite in dem Unwohlsein, ob es vielleicht untergründige gesellschaftliche Bewegungen gibt, die das Ganze gefährden, wenn etwa „Volksaufstände“ befürchtet werden.

Eine Gesellschaft „im Stress“

Vertrauen als eigenständiges Thema gerät schnell in den Hintergrund, wenn das Leben „in geregelten Bahnen“ verläuft, wenn die nahen Menschen sich verlässlich zeigen, wenn die gesellschaftlichen Systeme funktionieren, wenn die Bedürfnisse weitgehend befriedigt werden können, kurz, wenn wir uns „aufgehoben“ fühlen. Das aber ändert sich in Krisenzeiten. Krisenzeiten führen zu vielfältigen Verunsicherungen und damit auch zur Belastung von Vertrauensstrukturen.

Wir bewegen uns nun nach einer längeren Phase der Beständigkeit und Konsolidierung in Deutschland (die Zeit nach der Finanzkrise 2008) aktuell auf eine Zeit multipler Krisen zu: die Pandemie, der Krieg, die Inflation, die Energieversorgung. Die Gesellschaft gerät in eine erhebliche Stresssituation. In diesen Zeiten zeigen sich jene gesellschaftlichen Risse deutlicher, die schon vorher da waren, die aber nicht so stark wahrgenommen wurden. Da Vertrauen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen sich ganz unterschiedlich zeigen kann, macht es Sinn, die Bereiche gesondert zu betrachten. Genau das soll in den folgenden Blogbeiträgen geschehen.

Die Linkliste zu den einzelnen Beiträgen findet sich unter diesem Artikel.

Die Wirtschaft:

Hier sind die Anlässe ein Schwinden des Vertrauens besonders vielfältig: Können wir unserer Währung noch vertrauen? Kann ich noch der Rentenzusage vertrauen? Können wir noch einem allgemeinen Versprechen einer Wohlstandssteigerung vertrauen, die in den vergangenen Jahren so unhinterfragt zu gelten schien? Können wir vertrauen, dass es in der Gesellschaft in der Verteilung zumindest einigermaßen gerecht zugeht?

Die nationale Politik:

Umfragen zeigen eine wachsende Entfremdung vieler Menschen gegenüber den politischen Parteien aus sehr unterschiedlichen, manchmal gegensätzlichen Gründen. Kann die Politik wirklich die sozialen Verwerfungen und Ungerechtigkeiten verhindern, die durch die Krisenhäufung drohen? Hat die Politik wirklich den Willen, die notwendige ökologische Transformation mit allen Konsequenzen zu gestalten?

Die internationale Politik:

Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine vertraut Russland im Westen niemand mehr. Aber wie ist es mit China, mit dem Iran, mit Katar, Saudi-Arabien? Diese Reihe ließe sich mühelos fortsetzen.

Die Wissenschaft:

Impfgegnern zweifeln an der Wirksamkeit der Impfstoffe, andere vermuten Inszenierungen oder bösartige Geschäftsideen. In der Corona Pandemie zeigt sich aber nur, dass das Misstrauen vieler Menschen in die evidenzbasierte, wissenschaftliche Medizin schon in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsen ist.

Führende Medien:

Gerade in diesem Jahr wurden etliche Skandale in den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten aufgedeckt und intensiv diskutiert. Aber auch die digitalen Medien sind in einer Vertrauenskrise, der Kauf von Twitter durch Elon Musk irritiert, der erratische Kurs von Zuckerberg mit dem Meta Projekt verstört die Nutzerinnen und Nutzer. Hinzu kommt eine Kommunikation, wo eine Aufregung die andere jagt, oft bleibt undeutlich, was davon Fake oder fakt ist.

Die Kirchen:

Insbesondere in der katholischen Kirche wächst mit jeder Missbrauch-Nachricht das Misstrauen. Das Misstrauen breitet sich ökumenisch aus, der Institution Kirche werden unabhängig der Konfession verdeckte, selbstbezogene Interessen zugesprochen.   

Die Kultur:

Welche kulturellen Traditionen sind akzeptabel, welche dagegen sind nur Begleiterscheinungen einer auf Unterdrückung anderer ausgerichteten kolonialen Kultur? Was transportiert die herkömmliche Sprache, welche Aussageformen sind zulässig, welche zu meiden? Wer sagt was und wie? Die Sprache wird immer mehr zu einem Feld der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Die Diskussion um die Documenta 15 hat jenseits der konkreten Vorwürfe gezeigt, wie schnell Misstrauen auch in der internationalen Kulturszene entstehen kann.

Der Sport:

Gerade in seinen internationalen Erscheinungen ist der Sport immer stärker mit intransparenten Geschäftsideen verflochten. Warum finden die Großereignisse in diesem, nicht in jenem Land statt? Durch die weltweite Aufmerksamkeit sind diese Großereignisse mit viel Geld verknüpft. Eine Missbrauchsdebatte bahnt sich hier erst gerade an.

Die zwischenmenschlichen Beziehungen: In einer hoch individualistischen Gesellschaft ist zwischenmenschliches Vertrauen stets eine herausgeforderte Größe, sofern sie vertragliche Verhältnisse überschreitet. Wie verbindlich ist eine Zusage, wie tragfähig diese Freundschaft, bewährt sich jene Beziehung auch morgen noch? Ist eine Gemeinschaft auf Dauer gestellt oder zerfällt sie schon in kürzerer Zeit?

Es gibt also viel Diskussionsstoff zum Thema Vertrauen! Bevor die einzelnen gesellschaftlichen Bereiche näher betrachtet werden, soll in dem kommenden Beitrag gefragt werden, warum wir Menschen ohne Vertrauen nicht auskommen können, warum es ein so grundlegendes menschliches Bedürfnis ist.

Vertrauen in der Philosophie

Vertrauen in der Wirtschaft

Vertrauen in der Politik

Vertrauen in die Wissenschaften

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