Christlicher Glaube als Weggemeinschaft. Anmerkungen zu einem Buch von Christoph Nötzel

Christoph Nötzel hat ein gut und allgemein verständliches und zugleich theologisch fundiertes Buch zum christlichen Glauben geschrieben: „Glauben – Was ist das eigentlich? verstehen – leben – teilen“ (Neukirchener Verlag 2020, ISBN-10 : 3761567405, 287 Seiten, 20 Euro). Wir leben in einer Zeit, in der eine solche Arbeit dringend notwendig ist. Hatte noch vor 50 Jahren ein Buch über die christlichen Glauben eher die Funktion, die eigenen Traditionen zu bestätigen, sie noch einmal umfassend darzustellen, so ist heute jede Selbstverständlichkeit verloren gegangen und bis in die inneren Zirkel der verfassten Kirche eine Unsicherheit darüber groß, worauf sich der Begriff „Glaube“ eigentlich bezieht. Leichter fällt es, in den alltäglichen Debatten eine moralische Position zu beziehen als die Grundlagen des Glaubens darzulegen. Denn moralische Positionen werden in der Gesellschaft stark diskutiert, die Anschlussfähigkeit ist hoch. Wohl auch nicht zuletzt deshalb haben sich diese Debatten in der Kommunikation der Kirche in den Vordergrund geschoben.

Doch was genau meint es, wenn ein Mensch sagt, sie oder er glaube an Gott? Im ersten Kapitel beschreibt Christoph Nötzel n einer ersten Orientierung zum Thema unterschiedliche Erfahrungen des Glaubens. Das tut er nicht allgemein, abstrakt im Stile einer Dogmatik, sondern indem er immer auch bei sich selbst, bei seinen eigenen Erfahrungen ansetzt. Das ist folgerichtig, weil man heute nicht mehr leicht auf geteilte Überzeugungen und Erzählungen, schon gar nicht auf dogmatische Lehrsätze Bezug nehmen kann. Das zweite Kapitel behandelt den Glauben, wie er sich in den biblischen Texten widerspiegelt, sowohl in den Schriften der Hebräischen Bibel wie auch in den Schriften des Neuen Testaments. Es folgt im dritten Kapitel ein kurzer Abriss einiger herausgehobener Positionen der Geschichte der Theologie, von Augustinus über Luther und Dietrich Bonhoeffer bis hin zu Dorothee Sölle. Im vierten und letzten Kapitel schließlich stellt Nötzel die christliche Gemeinschaft als Basis für den Glauben dar.

Ich möchte mich hier auf das vierte Kapitel konzentrieren, weil der Autor dort eine alte theologische Einsicht betont, die leider in unserer Zeit aus dem Blick geraten ist: Der christliche Glaube ist nicht in erster Linie eine „innere“ Eigenschaft oder „innere“ Einstellung einzelner Menschen. Der Glaube ist vielmehr eine Erfahrung, die wir notwendigerweise in Gemeinschaft mit anderen, in Verbundenheit mit anderen Menschen und mit Gott machen! Der Glaube ist die Erfahrung einer Weggemeinschaft.

Der Glaube als individuelle Erfahrung

Üblicherweise konzentriert sich die Theologie in der Moderne gerne auf das „Subjekt des Glaubens“. Dieses Subjekt ist in der Regel der einzelne Mensch, der vielleicht eine Predigt hört und der zum Glauben kommt, zu einer festen persönlichen Überzeugung. Es gibt sehr unterschiedliche theologische Strömungen, die diese Fokussierung auf den Einzelnen gefördert haben. Da sind manche Strömungen des Pietismus und der Erweckungsbewegung, die die Bekehrungserlebnisse der Einzelnen betonen. Im Gottesdienst ist es gern gesehen, wenn ein einzelner Mensch nach vorne geht und Zeugnis ablegt davon, wie sie oder er zum Glauben gekommen ist. Aber auch in der großen konkurrierenden theologischen Strömung, der liberalen Theologie, steht es nicht anders. Hier bezieht man sich auf das Bewusstsein, des Gefühl, das subjektive Erleben von Einzelnen. Diese Haltung ist bis zum heutigen Tag in der Kirche dominant. Nicht selten lautet in kirchlichen Kreisen die Antwort auf die Frage nach dem Glauben, dass da jede, jeder ganz eigene Erfahrungen machen muss. Die Antwort ist auf der einen Seite entlastend, weil niemand vorschreibt, was sie oder er zu glauben hat. Aber zugleich ist jeder Mensch auf sich selbst zurück verwiesen, die Frage wird nicht von der Gemeinschaft aufgenommen, die Antwort wird nicht von einer Gemeinschaft getragen.

Der entscheidende Punkt ist aber nun: Es gibt ein Drittes zwischen einem autoritären Glauben, der von einer Institution vorgegeben wird und einem Glauben, den jede und jeder Einzelne für sich selbst finden muss! Dieses dritte ist die wechselvolle, die sich verändernde und sich immer wieder neu findende Weggemeinschaft der Glaubenden. Hier wird die wechselseitige Verbundenheit im Glauben nicht starr, sie wird aber auch nicht kaschiert. Als Weggemeinschaft wird sie immer wieder neu gestaltet!

Der Glaube als Erfahrung von Beziehung

Die Vorstellung des Einzelnen, die, der glaubt, ist tatsächlich eine Abstraktion, eine Fiktion. Christoph Nötzel stellt deshalb fest: „Am Anfang also ist Beziehung. Mit-Sein. Erst im Mit-Sein werde ich zum ICH.“ (S. 221). So wie sich kein Mensch aus sich selbst heraus selbst gestaltet, so ist der Glaube nicht eine innere Haltung, sondern eine bestimmte Weise der Verbundenheit mit anderen Menschen, mit Gott. „Glauben jedenfalls geschieht nicht bloß innerlich in mir. Zum Glauben braucht es immer einen Anderen.“ (S. 221) Auch gegenüber Gott ist der Glaube keine einsame Tätigkeit, sondern innigste Verbindung, Verbundenheit. „Von Gott kann deshalb nicht anders als in personhaft-menschlichen Bildern gesprochen werden.“ (S. 229) Unsere Verbundenheit mit anderen Menschen weist uns den Weg zur Verbundenheit mit Gott, auch wenn diese immer größer und umfassender ist. Denn mit Gott sind wir nicht nur verbunden, wir existieren durch ihn und werden von ihm gehalten. Der Glaube bringt diese elementare, ja radikale Verbundenheit zum Ausdruck.

Der Glaube aus und in einer geschichtlichen Gemeinschaft

Dieser Glaube ist nicht durch eine Theorie zu fassen. Er drückt sich in der Lebensgeschichte immer wieder neu aus. Keine Antwort ist dauerhaft und hinreichend. Glaubende Menschen setzen immer wieder neu an, um eine angemessene Ausdrucksform für den Glauben zu finden. Der christliche Glaube ist kein statisches Verhältnis, deshalb lebt er von Erzählungen und regt er zu Erzählungen an. „Mein Glaube ist geschichtlich. Er erzählt deshalb auch in Geschichten. Und er stellt mich zugleich in eine Geschichte.“(S. 230) Er vermittelt sich in und durch Sprache, durch Worte, menschliche Worte, die zum Wort Gottes werden können. “Der Glaube wird in Gemeinschaft weitergegeben.“ (S. 234) Diese Gemeinschaft  steht in einer wechselvollen Geschichte, in der sich ständig etwas ändert. Deshalb ändert sich auch die Gemeinschaft kontinuierlich, sie ist eine Weggemeinschaft. Die Gemeinschaft des Glaubens ist deshalb auch immer eine experimentelle, eine experimentierende Gemeinschaft (S. 265).

Der Glaube als Erfahrung von Weggemeinschaft

Die Kirchen befinden sich auf absehbare Zeit in einem gravierenden Umbruch. Die Volkskirchlichkeit werden sie verlieren. Damit verlieren aber auch konventionelle Ausdrucksformen an Bedeutung, wie „man“ vom Glauben redet. Die Institution „Kirche“ wird sich mit dem Wandel schwer tun, denn es ist für sie ein Schrumpfungsprozess. Es geht immer auch um Beschäftigte, um etablierte Arbeitsfelder, die nicht mehr fortgesetzt werden können. Doch ist dieser beschwerlich Wandel ist für die christliche Gemeinde nicht etwas völlig Neues, das über sie kommt. Sie war immer schon und ist auch heute experimentierende Gemeinschaft auf dem Wege, sie kann als Weggemeinschaft auf die Zusage Gottes vertrauen, dass er auch in schwierigeren Zeiten bei ihr sein wird, „bis an der Welt Ende“. Was braucht es mehr? Das Verständnis des christlichen Glaubens als Zeugnis der Weggemeinschaft zu fördern, das ist ein sehr wichtiger Beitrag des Buches von Christoph Nötzel.

Sind Kirchen systemrelevant?

In Zeiten von Corona ist eine Diskussion um die Systemrelevanz von Kirchen entstanden. Einige Stimmen betonen aus unterschiedlichen Gründen, dass die Kirchen nicht mehr systemrelevant seien. Die einen stellen fest, dass die Kirchen keine starken orientierenden Worte gesprochen haben. Die anderen weisen darauf hin, dass die Kirchen ihren Regelbetrieb ohne Protest weitgehend eingestellt haben. Dritte sehen, dass sie in die digitalen Medien ausweichen und unter dem großen Angebot dort, kaum wahrnehmbar sind.

Im Kontrast dazu ist die Systemrelevanz des Gesundheitssystems unbestritten. Ärztinnen und Ärzte, Krankenschwestern und Krankenpfleger bekommen einen Sonderstatus etwa bei der Kinderbetreuung, weil ihr Einsatz unverzichtbar ist. Sind also religiöse Organisationen wie die Kirchen gesellschaftlich vielleicht geduldet, aber für das Funktionieren des Systems nicht mehr relevant?

Der Vorwurf ist von außen herangetragen und maliziös. Es scheint, dass einige die Gelegenheit nutzen, die Kirchen in ihrer Schwäche zu zeigen. Doch stimmt das überhaupt? Hierzu drei Überlegungen:

1. Ist Systemrelevanz überhaupt ein Qualitätskriterium für Kirchen?

Was genau meint Systemrelevanz? Wenn man die Gesellschaft als ein Zusammenspiel unterschiedlicher Systeme deutet, dann ist etwas systemrelevant, wenn es diese Systeme in ihrer Funktionalität aufrechterhält. Hier schon wird deutlich, wie verkürzt die Vorstellung ist, die Kirchen sähen ihre Aufgabe darin, systemrelevant zu sein. Christliche Kirchen sehen ihre Aufgabe darin, Gott in Wort und Tat zu bezeugen. Sie verstehen sich als Versammlung jener Menschen, die an den Menschwerdung des gnädigen Gottes glauben. Sie sind Orte des Gebets, des Gottesdienstes, der Gemeinschaft und des Engagements für die Schwachen und Armen der Gesellschaft. Ist das systemrelevant? Möglicherweise kann ein solches Handeln gesellschaftliche Funktionen stützen. Wenn es aber darum geht, in einer Pandemie sich den Kranken zuzuwenden, so geschieht das durchaus in den viele diakonischen Einrichtungen, zu denen auch eine große Zahl von kirchlichen Krankenhäusern gehört.

Doch möglicherweise kann das Handeln von Kirchen auch systemkritisch sein. Es ist nicht die primäre Aufgabe und auch nicht das primäre Interesse von Kirchen, gesellschaftliche Systeme zu stützen. Es gibt ja durchaus gesellschaftliche Systeme, die Menschenrechte einschränken, die den Reichtum von wenigen massiv steigern, die die Ausbeutung von Mensch und Natur vorantreiben. Das können autoritäre Systeme sein, aber auch manche Systeme des freien und unregulierten Marktes. Kurz: Systemrelevanz an sich ist in keiner Weise ein Qualitätskriterium für Kirchen.

2. Mediale Präsenz von Kirchen

Nun waren kirchliche Stimmen tatsächlich in den letzten Wochen in geringerem Maße in den klassischen Medien wie Zeitungen und Fernsehen durch Meinungsbeiträge präsent. Dagegen dominierten dort  Vertreterinnen und Vertreter der Virologie und Epidemiologie. Doch warum sollte das verwunderlich sein? Es gibt gerade in diesen Zeiten viel zu tun, was nicht direkt öffentlichkeitsrelevant und doch wichtig ist. Dazu gehört auch die Seelsorge, vor allem die Telefonseelsorge, die Versorgung auch der Gemeindemitglieder, die keinen Internetzugang haben, mit gedruckten Andachten.

Es gibt darüber hinaus auch eine Zeit des Schweigens.Darauf hat auch der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Manfred Rekowski, in einer Videobotschaft hingewiesen. Das öffentliche Interesse war eindeutig darauf ausgerichtet, erstens zu verstehen, wie groß die Gefahr ist, die mit der Pandemie einher geht, welche Hoffnung man haben kann auf eine Besserung, auf eine Reduzierung der Zahl der Neuerkrankungen. Ein weiterer Fokus lag auf dem staatlichen Handeln: Was ist erlaubt, was nicht? Zeiten der Krise sind immer auch Zeiten der Exekutive. Dies sieht man nicht zuletzt an der sprunghaft angestiegenen Zustimmung zu der Regierungspartei CDU. Ein dritter Fokus der öffentlichen Debatte lag auf den wirtschaftlichen Folgen dieser Maßnahmen. Wie groß wird der wirtschaftliche Schaden sein, ist er zu vermeiden? Mit welcher Zielrichtung sollten sich die Kirchen in diese Debatten einbringen?

3. Die theologische Herausforderung. Der Umgang mit dem Widrigen und dem Unvorhersehbaren, mit der Abhängigkeit und der existentiellen Verbundenheit

Nun gibt es aber auch einen wahren Kern mancher kritischer Äußerungen. Doch der hat nichts mit der öffentlichen Sichtbarkeit zu tun als vielmehr mit der Erwartung, dass auch im vertrauten Gespräch Vertreterinnen und Vertreter von Kirchen zu solchen schicksalshaften Ereignissen nicht viel zu sagen haben. Diese kritische Anfrage geht in die Richtung der Theologie und sie hat einen ernstzunehmenden Kern. Günter Thomas hat das in einem Beitrag in Zeitzeichen zum Ausdruck gebracht: In einer solchen Zeit wird zum Beispiel deutlich, dass die Natur nichteinfach nur die gute Schöpfung ist, dass sie lebensbejahende wie auch lebenszerstörende Kräfte enthält. Doch welche theologischen Ressourcen haben wir, um das Lebenszerstörende einer Pandemie, die über uns kommt, zu beschreiben? In der Fähigkeit zu Beschreibung des natürlichen Lebenswidrigen, das sich einer moralischen Beurteilung entzieht, hat die Theologie in der Tat in den letzten Jahrzehnten viel verloren. Man kann weitere Defizite in der Beschreibung der Endlichkeit des Menschen, in seiner Abhängigkeit vom Geist Gottes, in der Art und Weise sehen, wie wir theologisch Hoffnung äußern.

Theologisch ist also nicht einfach alles in Ordnung. Aber zeigt sich in Zeiträumen von vielen Jahren, nicht von einigen Wochen der Medienbeobachtung.

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„Mein Leib für Dich gegeben“ auch auf digitalem Wege? Zur Diskussion um die digitale Vermittlung beim Abendmahl

Durch die Corona Pandemie ist eine lebhafte Diskussion um die Praxis der Feier des Abendmahls entstanden. Kann man das Abendmahl auch digital feiern? Kann das folgende Szenario ein Abendmahl genannt werden: Jemand steht oder sitzt vor einem Rechner mit Kamera, spricht die Einsetzungsworte über Brot und Wein, Ton und Bild werden an einen anderen Ort übertragen, zu einem Bildschirm, vor dem jemand, ebenfalls mit Brot und Wein ausgestattet, nach den Einsetzungsworten davon isst und trinkt?

Die zentrale Frage

Eine zentrale Frage lautet: Hängt die Möglichkeit einer Abendmahlfeier an der räumlichen und zeitlichen Einheit oder können diese durch die digitalen Medien aufgelöst, zumindest gelockert werden? Die Frage nach einer angemessenen Feier des Abendmahls ist nicht nebensächlich, das Sakrament gehört zu den zentralen gottesdienstlichen Vollzügen der christlichen Gemeinde. Ich plädiere in einem Beitrag, der auf der Internetseite 2komma42.de veröffentlicht ist, dafür, dass das Abendmahl nicht auf die geschildete Weise durchgeführt werden sollte.

Die Bedeutung unserer materiellen Existenz

Im Zentrum des christlichen Glaubens steht die Aussage, dass Gott Mensch wurde. Gott ist in einem Menschen mit „Haut und Haar“ inkarniert. Das hat eine große Bedeutung für die Interpretation von „Haut und Haar“, also für das Verständnis der menschlichen leiblichen Existenz, sie wird auf unschätzbare Weise aufgewertet. Es ist deshalb aus theologischer Perspektive in keiner Weise nebensächlich, dass wir auf die materiellen Bedingungen des Lebens angewiesen sind.

Was also machen wir, wenn wir in dieser durch Klimawandel und Corona Krise gezeichneten Situation als feiernde christliche Gemeinde danach streben, im liturgischen Vollzug von der körperlichen Präsenz möglichst unabhängig zu werden? Müssten wir nicht vielmehr sagen, dass wir mitleiden, dass der Leib Christi auch im Abendmahl von den materiellen Bedingungen betroffen ist?

Die christliche Gemeinschaft bezeugt sich auch in der materiellen Gabe

Eine mediale Vermittlung zwischen einzelnen Menschen über Fernsehen, Video, digitale Medien kann die materielle Bedingtheit der Gemeinschaft nicht in gleicher Weise bezeugen. Hier nimmt jede und jeder selbst von dem Brot, das sie oder er sich selbst bereit gelegt hat. Das Empfangen der materiellen Gabe wird nicht erfahrbar. Auch digitale Medien vermitteln Gemeinschaft, aber eben auf andere Weise. Das Spezifische des Abendmahls, die Bedeutung der materiellen Grundlage der Existenz und der Gemeinschaft, aber auch der Inkarnation Gottes kommt aber nicht ausreichend zur Geltung.

Wer in die Diskussion einsteigen möchte: Eine ausführlichere Version dieser Argumentation findet sich auf der Internetseite 2komma42.de auf der die Evangelische Akademie im Rheinland ihr Jahresprojekt zur christlichen Existenz in den digitalen Medien dokumentieren.

Zur Bedeutung der Gemeinschaft für den christlichen Glauben

 „Jeder soll nach seiner Façon selig werden.“ Dieses Bonmot, das Friedrich dem Großen zugesprochen wird, steht für eine große Errungenschaft der Aufklärung. Es war damals gerade einmal 100 Jahre her, dass sich auf deutschem Boden Katholiken und Protestanten 30 Jahre lang bekämpft hatten. Welch ein Fortschritt! Und auch heute kann man die Errungenschaften der Aufklärung nur preisen, wenn man etwa an den interreligiösen Dialog denkt. Eine multireligiöse Gesellschaft kann nur existieren, wenn sie dem Motto: Jeder soll nach seiner Façon selig werden.“  folgt. Der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ist das Motto im Artikel der Religionsfreiheit eingeschrieben.

Religionsfreiheit als Errungenschaft

Für ein modernes Staatsgebilde muss die Religionsfreiheit gelten und damit das Recht eines jeden Einzelnen zu bestimmen, woran sie oder er glaubt. Doch das, was im politischen Raum eine große Errungenschaft ist, kann für die Selbstinterpretation von Religionen außerordentlich problematisch sein. „Jeder soll nach seiner Façon selig werden.“ heißt dann: Jede und jeder muss selbst wissen, was sie, was er glaubt. Der Glaube ist letztendlich eine Sache des einzelnen Menschen. Ist jeder auf sich selbst zurückverwiesen, wenn es um Fragen des Glaubens geht?

Kultur der Individualität

In unserer Kultur betonen wir gerne das, was uns voneinander unterscheidet, weniger das, was verbindet. Es wird belohnt, sich von anderen zu unterscheiden. Wer etwas Besonderes ist oder etwas Besonderes aus sich macht, erfährt Aufmerksamkeit. Das gilt auch für die Religion: Im Rampenlicht stehen bestimmte Virtuosen des Glaubens, exemplarische Gläubige. Doch wenn die Aufmerksamkeit sich allein auf das Besondere richtet, gerät das, was alle miteinander vereint, in den Hintergrund. Diese kulturelle Vorgabe, die das Individuelle betont und in den Mittelpunkt stellt, lässt auch religiöse Erfahrungen immer mehr zu individuellen Ereignissen werden. Jede und jeder richtet sich auf das Besondere und Unvergleichliche aus, sucht danach.

Die Bedeutung von Verbundenheit

Doch dieses Verständnis von Religion kann in vielfacher Weise kritisiert werden. Ganz grundsätzlich ist der Mensch nicht einfach ein einzeln existierendes Wesen, das zunächst bei sich selbst und den eigenen Erfahrungen ist. Menschen sind leibliche Wesen. Die Verbundenheit mit anderen Menschen und mit der umgebenden Umwelt ist elementar und Voraussetzung menschlicher Existenz. Als leibliche Wesen sind Menschen immer schon mit anderen verbunden, etwa durch das Herkommen, durch die Sprache, durch die Kultur. Diese Verbundenheit ist nichts Zweitrangiges oder Nebensächliches, das Individuelle ist nicht das Eigentliche.

Die Vorstellung, dass jeder Mensch seinen eigenen religiösen Weg finden muss, entspricht darüber hinaus weder den soziologischen Beschreibungen von Religion. Aus der Perspektive eines distanzierten soziologischen Betrachters stehen Religionen immer in einer engen Beziehung zu Gemeinschaften. Einzelne Menschen mögen bestimmte Erfahrungen als religiös beschreiben, als eine Erfahrung von Transzendenz. Aber daraus wird noch lange keine Religion. Zur Religion gehört mehr, vor allem eine Gemeinschaft von Menschen, die ähnliche Erfahrungen miteinander teilen und sie in ähnlicher Weise zum Ausdruck bringen über Rituale, Beachtung besonderer Orte und Zeiten usw.

Der christliche Glaube als Erfahrung von Gemeinschaft

Der christliche Glaube ist in besonderer Weise von Beginn an auf Gemeinschaft ausgerichtet. Erste Glaubenszeugnisse von Christinnen und Christen waren mit ihrer Gemeinschaft eng verbunden. Diese Verbundenheit führten sie zurück auf die Erfahrung der Verbundenheit mit Gott. Man kann ganz grundsätzlich den christlichen Glauben als eine Erfahrung von radikaler Verbundenheit  beschreiben. Das lateinische Wort „radix“ bedeutet „Wurzel“: Der Glaube bezeugt, dass die eigene Existenz in Gott wurzelt, in Gott gegründet ist. Er weist auf eine Verbundenheit, aus der alles entspringt: Erst durch sie finden Menschen zu sich selbst.

Die biblischen Stellen, die auf die Bedeutung von Gemeinschaft weisen, sind außerordentlich zahlreich. Schon die ersten Menschen, die Jesus Christus nachfolgten, erlebten sich auch in einer besonderen Weise miteinander verbunden. Die zwischenmenschlichen Erfahrungen sind für das Verständnis des christlichen Glaubens von größter Bedeutung. Zwischenmenschliche Erfahrungen von Verbundenheit können ein Anlass sein, die radikale Verbundenheit aufscheinen zu lassen. Das gilt insbesondere für die Liebe. Das Doppelgebot der Liebe zeigt die Nähe der Erfahrungen von Verbundenheit: Die Liebe zu Gott und die Liebe unter den Menschen stehen in einem engen Verhältnis.

Der christliche Glaube als Ausdruck für die radikale Verbundenheit ist keine individualisierte Erfahrung, sondern von Beginn an Teil eines übergreifenden zwischenmenschlichen und kommunikativen Geschehens. Er ist eingebunden in eine geschichtliche Tradition von Erzählungen, Gebeten, Bekenntnissen und Liturgien, durch die Christinnen und Christen ihrem Glauben Ausdruck geben. Der christliche Glaube erschließt sich nicht allein über Worte, aber er drängt immer wieder dazu, sich auch durch Worte zum Ausdruck zu bringen. Der christliche Glaube ist nicht ohne Worte. Auch Worte bezeugen die Verbundenheit und sind selbst eine Form von Verbundenheit: sie sind ein eminenter Ausdruck zwischenmenschlicher Gemeinschaft, der Sprachgemeinschaft. All das zeigt: Moderne Vorstellungen von einem individuellen Glauben in dem Sinn, das jede und jeder sich selbst einen Reim auf die religiösen Erfahrungen machen muss, verkürzt die Wirklichkeit des christlichen Glaubens.

 

 

Ein Kommentar zur politischen Lage – Der Mensch ist und bleibt ein Beziehungswesen

Wir leben in erstaunlichen Zeiten. Wenn man einmal von der Aufregung der tagespolitischen Ereignisse ein wenig zurück tritt und sich einen Überblick über die Lage verschafft, kann man sich eigentlich nur die Augen reiben. Die Bundesrepublik Deutschland befindet sich in einer wirtschaftspolitisch beneidenswerten Lage. Hinter uns liegen fast 10 Jahre ungebrochenen Wachstums. Die Exporte überwiegen bei weitem die Importe, in einigen Jahren war Deutschland Exportweltmeister. Wir haben uns gewöhnt an die jährliche Nachricht, dass die Zahlen der Steuerschätzer wiederum übertroffen wurden und der Staat deutlich mehr Geld zur Verfügung hat als die ohnehin schon positiven Prognosen ausgewiesen haben. Die Arbeitslosenstatistik weist jedes Jahr rückläufige Zahlen aus, „gegenüber dem Vorjahr sank die Arbeitslosenzahl um …“.

„Uns geht es gut!“

Nun gibt es in der Tat einige Unruhe und Unsicherheit durch die sich rasch verändernde geopolitische Lage. Das Lager des „Westens“, bislang klar dominiert durch die USA droht sich aufzulösen. Multinationale Wirtschaftsabkommen werden mehr und mehr in Frage gestellt. Es wird viel über Zölle geredet und der Brexit schwebt wie ein Damoklesschwert über der Europäischen Union. Das ist aber bislang eher mit einem nahenden Gewitter vergleichbar, dessen Wolken sich bedrohlich aufbauen, aber noch hat kein Regen eingesetzt. Ob es vielleicht noch vorbeizieht? Man weiß es nicht. Klar ist aber, dass die Stimmung im Lande bislang kaum durch diese atmosphärischen Störungen beeinträchtigt ist. Die Wirtschaft läuft auf vollen Touren und es scheint sie bislang nichts zu stören. Das Konsumklima ist gut, Umfragen zeigen, dass die Stimmung durch Zufriedenheit geprägt ist.

Der Politik geht es schlecht!

Ganz anders ist das Bild der Politik! Ganz egal, wie man zu der Maaßen Affäre steht: Hier zeigt sich, dass die Volksparteien an den Rand ihrer Kräfte geraten. Hier herrscht Ausnahmezustand. Die Umfragewerte der traditionellen Volksparteien SPD, CDU und CSU sind im freien Fall. Wer hätte solche Zahlen vor 5 Jahren zu prognostizieren gewagt: SPD 17 % und CDU/CSU 28 % (Infratest Dimap 20.9.)? Für beide Parteien historische Tiefststände! Und es ist nicht absehbar, dass sich das bald ändert.

Nun haben CDU/CSU und SPD die längste Zeit der letzten 10 Wachstumsjahre regiert. Wie passen die Werte mit der wirtschaftlichen Situation des Landes, dem damit einhergehenden Wohlstand zusammen? Was ist geschehen, dass diese Parteien derart desolat dastehen, dass ihnen die Kraft fehlt, eine Affäre um einen Amtsleiter, zugegebenermaßen eines bedeutenden Amtes, nicht geräuschlos zu lösen? Vordergründig kann man als einen Faktor die Flüchtlingspolitik anführen. Denn die ehemaligen Volksparteien als Parteien waren und sind nicht in der Lage, bei diesem hochemotionalen Thema eine eindeutige Position zu beziehen. Sie changieren zwischen Willkommenskultur und pragmatischer Abschottungspolitik. Doch ist das meiner Ansicht nach nur ein vordergründiges Argument, weil andere westliche Industrieländer andere politische Wege gegangen sind und doch sich die gleichen Effekte zeigen: eine dramatische Schwäche der etablierten Parteien.

Hier nun ein Versuch, einen tieferliegenden Grund zu benennen: Mag es nicht daran liegen, dass die früher homogeneren gesellschaftlichen Milieus zerfallen? Die Volksparteien waren dann stark, wenn sie Milieus repräsentieren konnten, die eine erkennbare politische Agenda hatten, seien es Arbeiterinnen und Arbeiter oder konservativ katholische Kreise. Als Volksparteien waren sie immer daran interessiert, auch andere Kreise zu gewinnen, aber ihre Identität hing an der Ausrichtung auf bestimmte Milieus. Doch wenn diese zerfallen, ist es für die Parteien nicht mehr möglich, klar zu sagen, wofür sie stehen.

Der Zerfall der Milieus, eine kontinuierliche Vereinzelung

Der Zerfall der Milieus geht mit einem Zerfall bzw. der Schwächung von gesellschaftlichen Großorganisationen einher. Es trifft eben nicht nur die Volksparteien, sondern auch viele Vereine, große Medienhäuser wie die öffentlich rechtlichen Sendeanstalten oder auch die Kirchen. Solche Großorganisationen haben es in einer immer stärker individualisierten Gesellschaft immer schwerer, ihre Bedeutung zu bewahren.

Wenn das so ist, wenn die Politik sozusagen nur das sichtbarste Zeichen eines grundlegenden Wandels der Individualisierung der Gesellschaft ist, dann ist das auch ein eminent theologisches Thema! Ist es nicht so, dass Gesellschaften ein Mindestmaß an Zusammenhalt, an gesellschaftlicher Solidarität brauchen, die über alltägliche Erfahrungen von Gemeinschaft und Verbundenheit bestätigt und immer wieder neu erfahrbar gemacht werden müssen?

Der Mensch als Beziehungswesen

Das rührt an die Grundfragen der Anthropologie. Ist der Mensch zunächst und vor allem ein Einzelwesen, das selbstbestimmt seinen Lebensweg geht oder ist es nicht vielmehr so, dass Menschen stets aufeinander angewiesen sind und auch in komplexen modernen Gesellschaften es Orte und Symbole geben muss, die die Erfahrung von Gemeinschaft und Solidarität ermöglichen? Ist der Mensch nicht vielmehr ein Beziehungswesen, das mehr braucht, als ein Leben in materieller Absicherung und der Möglichkeit zur Selbstoptimierung? Angebote zur Erfahrung von Gemeinschaft sind in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich karger und dürftiger geworden. Möglicherweise ist sogar ein Anteil jener neueren restaurativen Tendenzen auf dieses Bedürfnis zurückzuführen. Verklärende und verzerrende Blicke in die Vergangenheit suggerieren, dass es dort eine Gemeinschaftserfahrung durch nationale Homogenität gab.

Wenn die Vermutung stimmt, dann wird uns dieser Prozess noch lange Zeit beschäftigen. Denn Abhilfe ist nicht so schnell in Sicht. Weder kann man das Problem moralisieren („Tut mehr gemeinsam!“) noch gibt es eine gesellschaftliche Institution oder Organisation, die die Fähigkeit hätte, hier einen anderen Weg einzuschlagen und gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen. Auch die Kirchen nicht. Wenn aber weiterhin die Vermutung stimmt, dass der Mensch immer auch notwendigerweise ein Gemeinschaftswesen ist, dann wird sich die politische und gesellschaftliche Entwicklung auch nicht einfach wieder auf einem neuen Niveau als hochgradig individualisierte Gesellschaft stabilisieren. Dieser Beitrag endet mit offenen Fragen. Aber vielleicht ist es schon einmal wichtig, die richtigen Fragen zu stellen und nicht die, ob die eine oder andere Parteivorsitzende oder der eine oder andere Parteivorsitzende zu ersetzen sei…

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