In die Schlagzeilen geriet die diesjährige Documenta durch Kunstwerke mit antisemitischen Inhalten. Tatsächlich zeigten einige Exponate explizit grobe antisemitische Stereotype. Viele kritische Reaktionen in der Öffentlichkeit waren in wünschenswerter Weise deutlich.
Das Argument von Bazon Brock
Der Kunsttheoretiker Bazon Brock stellt die Diskussion über die Documenta in einen weiteren Horizont. Wäre, so die Frage, alles ansonsten in guter Ordnung gewesen, hätte es die explizit antisemitischen Kunstwerke nicht gegeben? In einem Radiointerview verneint Brock diese Frage. Seiner Ansicht nach geht es über den expliziten Antisemitismus hinaus in Kassel um ein Ende des europäischen Weges der Kunst. (Ein Link zum Audiofile befindet sich am Ende dieses Textes.) Was sind seine Argumente?
Brock sieht die europäische Kunst als das Schaffen von einzelnen Menschen, die sich durch ihre Kreativität über gesellschaftliche Konventionen hinwegsetzen. Ihm ist wichtig, dass Künstlerinnen und Künstler nicht mit einer institutionellen Absicherung handeln, sondern aus individueller Freiheit, allein auf ihr Werk vertrauend. Brock parallelisiert die Kunst mit der Wissenschaft: Auch die Wissenschaft lebt seiner Ansicht nach von der Argumentation einzelner, die allein durch die Kraft ihrer Argumente überzeugen. Kunst und Wissenschaft sind das Werk freier Individuen, die Kultur dagegen ist in der Interpretation von Brock ein Geschehen von sozialen Kollektiven.
Die Documenta 15 setzt seiner Ansicht nach auf kulturelle Identitäten und kulturelle Kollektive. Die Ausstellung zielt auf bestimmte moralische und politische Milieus, auf soziale Sphären, die eine gewisse Homogenität aufweisen. Die zentrale Rolle von Künstlerkollektiven wie Ruangrupa steht für diese soziale Bindung.
Individuelle Kunst und soziale Vermittlung
Über Brocks Thesen kann man gut streiten. Dabei macht er aber auf eine Dynamik aufmerksam, die meiner Ansicht nach von großer Bedeutung ist. Denn tatsächlich waren es in der Vergangenheit oft einzelne Menschen, die die Kunst – wie auch die Wissenschaft – vorangebracht haben. Jedoch haben sie gegen Brock nie nur als Einzelne gehandelt, sondern immer in enger Verflechtung und zugleich in expliziter Abgrenzung von einem sozialen Umfeld. Auf den Punkt gebracht: Die Kunst der europäischen Geschichte war nur als Abgrenzung einzelner Menschen möglich, weil die soziale Situation auf einer vorgängigen Verflechtung und Vermittlung beruhte.
Die gegenwärtige Situation ist nun aber die: Der lange Weg der kontinuierlichen Individuierung des künstlerischen Schaffens als Abgrenzung gegen soziale, kulturelle Vorgaben ist schon vor einiger Zeit zu einem Ende gekommen. Wenn es aber keine Standards mehr gibt, gegen die eine Künstlerin, ein Künstler sich abgrenzen kann, wenn alles möglich ist, was dann? Abgrenzung ist keine Option mehr, im Gegenteil, die Suche nach einer neuen Anbindung setzt ein.
Neue soziale Standards durch Politik und Moral
Viele Künstlerinnen und Künstler finden neue soziale Standards durch einen politisch-moralischen Aktivismus. Die sozialen Strukturen, die nun eine feste Bezugsgröße bieten, sind moralisch konstituiert: Es sind in ihrer Identität bedrohte Völker, es sind Opfer von politischer Verfolgung und wirtschaftlicher Ausbeutung. Die politisch orientierte Moral konstituiert neue soziale Verbindungen.
Was heißt das für das Geschehen in Kassel? Hier zeigte sich im Brennglas die Problematik dieser Entwicklung, denn politisch-moralische Standards lassen sich weltweit nicht harmonisieren. Was den einen Opfer sind, sind den anderen Täter. Die Gruppen, die die Documenta gestalteten, nahmen vor allem eine Perspektive der armen Länder und Bevölkerungen dieser Welt ein. Sie revoltierten gegen eine westlich dominierte Ausbeutung. In dieser Perspektive sehen offenkundig viele den Staat Israel auf der Täterseite. Die Folge davon waren in Kassel krude antisemitischen Karikaturen und Stereotype. Dagegen steht gerade der Staat Israel nach jahrhundertelangen antisemitischen Verfolgungen und Pogromen, nach der Schoah für eine wehrhafte Abwehr gegen jede Form von Antisemitismus!
Kunst als Ausdruck einer „Weltgemeinschaft“?
Gescheitert ist also im Kern ein Anspruch derjenigen, die die Ausstellung verantworten: Sie wollten eine Weltausstellung gestalten, in der durch politisch-moralischen Aktivismus klare Täter-Opfer-Unterscheidungen möglich und weltweit vermittelbar sind. Die Kunst als Ausdruck einer „Weltgemeinschaft“ scheint angesichts der Verwerfungen in der Welt unmöglich, so auch Hanno Rauterberg in Die ZEIT. Damit weist das Geschehen in Kassel weit über die Antisemitismusdebatte hinaus. Auf diese Dimension des Problems moralisch-politischer Anbindung hat Bazon Brock zurecht hingewiesen.