Feindbild als Falle

Je länger der Krieg Russlands gegen die Ukraine dauert, desto mehr wächst die Neigung, in Russland, genauer in dem Regime von Putin eine feindliche Macht zu sehen. Was kennzeichnet den Feind? Der Feind bezieht sich unmittelbar auf die eigene Existenz. Feinde wollen die Existenz des jeweils anderen zerstören, ihm die Macht und Eigenständigkeit rauben. Im Krieg zeigt sich das darin, dass es zwischen Feinden nur Sieg oder Niederlage gibt. Eine Partei siegt, eine Partei verliert. Ein Krieg zwischen Feinden kann nur so enden, dass eine Seite kapituliert, sie muss ihre Niederlage eingestehen. Einen Kompromiss, ein Ergebnis, das eine Mitte sucht, gibt es dann nur, wenn beide Seiten in der Lage sind, im anderen noch etwas anderes als den Feind zu sehen.

Russland ist ein Feind der Ukraine

In dieser Hinsicht ist Russland durch den Überfall auf die Ukraine erkennbar ein Feind der Ukraine. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer erfahren die Aggression Russlands leidvoll und suchen sich nach Kräften zu wehren. Russland setzt keine Signale, dass es an einem wie auch immer gearteten Kompromiss ernsthaft interessiert ist. Russland möchte offenkundig das Land so weitgehend zerstören, dass es keinen eigenen Willen mehr artikulieren kann. Also müssen Ukrainerinnen und Ukrainer alles daransetzen, sich zu verteidigen oder sie müssen kapitulieren. Doch ist die Ukraine auch ein Feind Russlands? Bisher gibt es dafür keinerlei Zeichen. Die Existenz Russlands wird von der Ukraine aus nicht bedroht.

Der Nazismus als Feind Russlands?

Auffällig ist die Rhetorik Russlands, die den Begriff Krieg zu vermeiden versucht. Es ist nach der offiziellen Verlautbarung Russlands eine militärische Operation gegen den „Nazismus“ in der Ukraine. Der Feind ist nicht die Ukraine sondern sind die angeblichen nazistischen Kräfte in der Ukraine. Das ist ein abstruser Vorwurf, da der Krieg ja gegen die ganze Ukraine geführt wird und könnte als leicht durchschaubare Propaganda abgetan werden. Manche vermuten, dass es darum geht, der russischen Bevölkerung den Krieg als etwas anderes, als etwas Harmloseres zu verkaufen. Doch eher handelt es sich im Gegenteil nicht um eine Verharmlosung, sondern um die Grundlage für eine Verschlimmerung.

Auf beiden Seiten, auf Seiten Russlands wie auf Seiten der die Ukraine unterstützenden Länder, dem so genannten Westen, zunehmend Stimmen, die den Krieg als eine Auseinandersetzung zwischen Russland und dem Westen ausdeuten. Putin hat in seiner Rede am 9. Mai erneut vom Kampf gegen den Nazismus gesprochen. Der Zusammenhang, der hier hergestellt wird, ist klar: Der größte Feind, dem Russland je ausgesetzt war, war der Nationalsozialismus. Der Vorwurf des Nazismus rückt den heutigen Krieg in diese Perspektive.

Die Tendenz einer immer stärkeren Feindzuschreibung

Damit erweist sich die russische Rhetorik als ein mögliches Einfallstor für eine erhebliche Ausweitung des Konfliktes. Denn diesen „Nazismus“ kann man ja überall vermuten, wenn man ihn schon für die Ukraine reklamiert. Dann gibt es vielleicht auch im Westen einen verdeckten oder offenen Nazismus. Wenn der Nazismus der Ukraine schon Russland bedroht, um wieviel mehr bedroht der Nazismus des Westens Russland? Mit dem Begriff Nazismus manifestiert sich einerseits ein existentielles Feindbild, andererseits die Fähigkeit, den Konflikt jeder Zeit weiter eskalieren zu lassen.

In den westlichen Ländern werden auf analoge Weise immer mehr Stimmen laut, die den Krieg als einen Krieg Russlands gegen den Westen deuten. Das scheint auf, wenn Putin die Absicht zugeschrieben wird, dass er, wenn er die Ukraine erobert hat, sich gleich weiteren Ländern zuwendet. Eigentlich geht es hiernach Putin nicht um die Ukraine, sondern um eine langfristige Schwächung des Westens. Diese Vermutung ist meiner Ansicht nach zutreffend. Putin hat die Ukraine ja gerade deshalb angegriffen, weil sie sich dem Westen zugewendet hat. Ihm geht es um die Schwächung des Einflusses des Westens, nicht um die Ukraine an sich. Die eigentliche Auseinandersetzung, das ist im Begriff des Nazismus angelegt, ist die Auseinandersetzung mit dem Westen.

Sind Russland und der Westen einander Feinde?

Dennoch stellt sich die Frage, ob der Westen sich auf die Vorstellung von einem Feind einlassen sollte. Die Rede vom Feind bietet, nüchtern betrachtet, die Möglichkeit zu einer erheblichen Eskalation. Wenn westliche Stimmen immer mehr die russische Logik übernehmen, dann sind Russland und der Westen einander Feinde. Die Wirtschaftssanktionen werden in ihrer Härte auch so interpretiert, dass Russlands Wirtschaft massiv geschädigt werden soll, manchmal ist auch von einem Wirtschaftskrieg die Rede. Es gehe darum, die russische Wirtschaft in die Knie zu zwingen. Manche mögen auf einen Sturz Putins hoffen, seine Beseitigung und eine neue, verhandlungsbereite Regierung. US Präsident Biden hat das angedeutet, dass Putin als Gesprächspartner nicht in Frage kommt. Doch wenn es nicht zu einem Putsch kommt?   

Wenn sich die Feindzuschreibungen festigen, kann der Krieg in the long run nur so ausgehen, dass entweder der Westen kapituliert und die Niederlage eingesteht oder Russland. Ersteres ist unvorstellbar, aber wie soll letzteres aussehen? Deshalb sind alle Initiativen gut, die das Feindzuschreibung durchbrechen, auch wenn es nutzlose Telefonate sind. In der Rede vom Feind birgt in sich die Gefahr, dass jeder Ausweg aus einer immer tödlicheren Auseinandersetzung blockiert wird.

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Putin muss weg!? Die Konflikte bleiben…

Jürgen Habermas hat in der Süddeutschen Zeitung einen Text zum Krieg in der Ukraine geschrieben. Die kritischen Reaktionen darauf machen deutlich, dass sich viele in Deutschland auf dem Weg in eine neue Epoche sehen. Sie schreiben das Stichwort, dass der Bundeskanzler am 27. Februar in seiner Rede im Bundestag gesetzt hat, auf ihre Fahnen: „Zeitenwende“. Nun werde offenkundig, dass die Welt sich geändert hat. Man müsse sich selbst deshalb auch ändern, so Anton Hofreiter, der im Nu sich zu einem Waffenexperten mausern konnte. Es gelte, in dieser Zeit anders zu denken, zu argumentieren und zu handeln. Deshalb ist es auch nicht notwendig, die Argumentation von Texten wie etwa dem von Jürgen Habermas genau zu bedenken. Er gehört zum alten Eisen, jetzt gelten die Bedingungen der neuen Zeit. Habermas kann aus vielerlei Gründen kritisiert werden, das tue ich auch in diesem Beitrag, aber sein vorliegender Text zum Krieg in der Ukraine ist wohl abgewogen und zeigt, ganz untypisch für Habermas, ein Dilemma auf, dem wir nicht ausweichen können. Das halte ich für sehr bedenkenswert! Russland ist leider nicht irgendein Land, das die Ukraine überfallen hat. Es ist die größte Atommacht. Kann man einen solchen Krieg mit Panzern gewinnen?

Ein großes Aufwachen!?

Offenkundig haben Leute, die sich jetzt mit Verve neu positionieren, vieles lange und gut ignorieren können, dass sie erst mit dem Krieg in der Ukraine alles anders sehen. Sie haben verpasst, dass es auf der Welt der letzten Jahre kontinuierlich destruktive Konflikte und Kriege gab, etwa die Kriege im Jemen, in Äthiopien, im Sudan. Die ausgebrochenen Kriege sind das eine, die schwelenden Konflikte sind etwas anderes, von Afghanistan über Libyen und Mali bis Myanmar.  Waren diese zu weit weg, um sich ihnen wirklich zu stellen?

Putin – Energielieferant oder das Böse in der Welt?

Auch gegenüber der Person Wladimir Putin ist der Positionswandel dramatisch. Es ist noch nicht ein Jahr her, dass Herr Putin sich gegenüber der scheidenden Kanzlerin Merkel für die lange Zusammenarbeit bedankte und artig einen Blumenstrauß schenkte. Keiner regte sich auf, alles schien in Ordnung. Langfristige Verträge zu Nord Stream 2 waren unter Dach und Fach, die Abhängigkeit vom Energieproduzenten Russland auf lange Sicht festgelegt. Doch mit dem Krieg ist alles anders. Putin ist zu dem Bösen der Welt mutiert, der unbedingt weg gehört. Fast alles ist zu rechtfertigen, wenn es dem Ziel dient, Putin zu beseitigen, die russische Armee zu besiegen, die russische Wirtschaft zu demontieren. Putin war aber nie der vertrauensvolle Gashändler, als den man ihn darstellen wollte! Es sind genügend Reden von Putin bekannt, die sehr genau skizzieren, warum er nun die Ukraine überfallen hat. Es wäre auch möglich gewesen, auf das zu achten, was er in Aleppo oder im Donbass getan hat.

Eine Weltanschauung, die ohne destruktive Konflikte auskommt

Meine These: Die extrem unterschiedlichen Haltungen („Frieden auf Erden für alle ist jederzeit möglich“ und „Nun müssen wir den Feind im Krieg beseitigen“) bedingen einander. Deshalb ist es auch möglich, so leicht von der einen zur anderen Seite überzugehen. Sie sind von ein und derselben Weltanschauung geprägt, nämlich von der Annahme, dass destruktive Konflikte eine unzulässige Ausnahme in der Welt darstellen. Konflikte müssen hiernach nicht sein, sie lassen sich in der Regel durch rationale und moralische Handlungen auflösen – oder im Extremfall durch einen Krieg, der den Aggressor beseitigt. Woher kommt diese Weltanschauung? Zwei Quellen dieser Haltung möchte ich nennen. Einerseits speist sie sich tatsächlich aus Theorien wie der des Altmeisters Jürgen Habermas. Seine Theorie tat sich immer schwer mit der Beschreibung strategischer Interessen und auch mit destruktiven Konflikten. Sein ganzes Augenmerk galt der rationalen und moralischen Verständigung, gefestigt durch einen rechtlichen Rahmen. Doch vieles, was in der Welt geschieht, sprengt diesen Rahmen. Die zweite weitaus wichtigere Quelle ist der feste Glaube an die pazifizierende Wirkung des weltweiten Handels. Wenn nur alle in Wirtschaftsverträge eingebunden sind, dann werden sie das Interesse haben, sich in das Weltganze konstruktiv einzufügen. Doch auch hier ist das Eis dünn und hält nur, solange dieses Wirtschaften auch Wohlstand erzeugt. Was geschieht mit Ländern, die aus der Wohlstandsmaschinerie herausfallen? Ob dieser Optimismus eine künftige Wirtschaftskrise übersteht?

Lasst uns über Konflikte reden!

Unter diesen Vorzeichen haben Politikerinnen und Politiker in den vergangenen Jahren die sich abzeichnenden Konflikte mit Russland nicht genügend ernst genommen. Und so glauben dieselben heute, wenn nur Russland besiegt ist, wenn nur Putin weg ist, dann können die Konflikte auch wieder verschwinden. Beides war und ist falsch. Außenpolitik sollte nicht nur stets mit auch destruktiv wirkenden Konflikten rechnen, sondern sie auch frühzeitig aussprechen. Es war deshalb nach langer Zeit ein neuer und wohltuender Ton in der deutschen Außenpolitik, dass Annalena Baerbock gleich zu Beginn ihrer Amtszeit von Konflikten sprach, in die Deutschland einbezogen ist. Das ermöglichte ihr auch, von Beginn an eine angemessene Haltung gegenüber Russland einzunehmen. Wie waren dagegen die Auftritte von Heiko Maas in Moskau in den vergangenen Jahren?

Konflikte beseitigen?

Besonders gefährlich ist es nun, wenn aus dieser Haltung heraus, dass solche Konflikte eigentlich nicht notwendig seien, statt einer langfristigen Konfliktbearbeitung kurzfristige Konfliktbeseitigungen angestrebt werden. Wenn solche destruktiven Konflikte nicht zur Welt gehören, wenn sie die Ausnahme von der Regel sind, mag es ja vielleicht auch möglich sein, ihre Ursachen zielgenau zu beseitigen. Doch was heißt das für die politischen Forderungen und Ziele im aktuellen Krieg? Kann Russland überhaupt „verlieren“? Und wie wäre sein Zustand dann? Wird es dann zu einem berechenbaren und wieder rational und moralisch handelnden Akteur? Oder hängt alles an der Person Putin, und, wenn die weg ist, wird wieder alles gut? Sehr wahrscheinlich ist doch: Der Konflikt, der sich in den vergangenen Jahren abzeichnete, wird in der einen oder anderen Weise auch in Zukunft bleiben. Wir werden eine Weise finden müssen, ihn einzuhegen. Wir werden um internationale Arrangements ringen müssen, die alle einbezieht, ohne den Konflikt zu ignorieren. Und neue Konflikte zeigen sich am Horizont.

Der lange Atem im Umgang mit Konflikten

Die Friedens- und Konfliktforschung hat in den vergangenen Jahrzehnten viele gute Modelle der Konfliktbearbeitung entwickelt. Die dürfen angesichts der raschen Hinwendung zum Krieg nicht in Vergessenheit geraten. Der zugrunde liegende Konflikt lässt sich durch keinen Kriegsverlauf auflösen. Wir werden mit ihm auch nach dem Krieg zu tun haben und einen modus vivendi finden müssen. Wenn das die Erwartung ist, werden die Beiträge auch nüchterner und die kritischen Argumente mehr gehört, etwa konkret die von Jürgen Habermas in seinem Text zum Ukraine Krieg.

Das alles sagt übrigens wenig über die allseits diskutierte Frage der Waffenlieferung. Auch das ist ein Problem, das nüchtern mit Sachargumenten abgewogen werden muss. Was können die Waffen bewirken, welche realistischen Ziele verfolgt eine solche Intervention, welche Option ist derart, dass die Zahl der leidenden Menschen nicht weiter wächst? Waffen werden den zugrunde liegenden Konflikt nicht beseitigen.

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