Wer entscheidet am Ende des Lebens? Die Diskussion um den Suizid ist auch eine um das Menschenbild

Zurzeit ist die Debatte um den assistierten Suizid wieder sehr lebhaft. Tatsächlich hat das Bundesverfassungsgericht vor einem Jahr einen großen Diskussionsbedarf ausgelöst. Denn es verwarf die Änderung des Paragraphen 217, die der Bundestag 2015 beschlossen hatte. Danach macht sich strafbar, „wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt“. Der Ausdruck „geschäftsmäßig“ umfasst nicht nur solche Institutionen, die mit ihrem Handeln Geld verdienen, sondern auch solche, die eine Routine aufbauen, die regelmäßig zur Anwendung kommen kann. Nun hat das Bundesverfassungsgericht diese Regelung aufgehoben und dabei die Autonomie, das Selbstbestimmungsrecht jedes Menschen am Ende seines Lebens hervorgehoben. Um eine autonome Entscheidung zu befördern, muss es in der Praxis für Sterbewillige auch möglich sein, auf Unterstützung zum Suizid erhalten zu können. Die Autonomie darf nicht nur auf dem Papier stehen, sondern muss auch in der Praxis umgesetzt werden können.

Das Urteil des Verfassungsgerichts hat eine innere Stringenz. Wenn eine Entscheidungsfreiheit gegeben sein soll, muss sie auch in der Praxis gelebt werden können. Sollte die Gesetzgebung jede „geschäftsmäßige“, das heißt routinierte Unterstützung des Suizids unterbinden, fällt es im Zweifelsfall den Betroffenen sehr schwer, einen Weg zum Suizid zu finden. Dann bleiben nur sehr drastische Handlungsoptionen, vor denen aber viele zurückschrecken.

Die theologische Debatte

So muss nun in angemessener Zeit der Gesetzgeber erneut tätig werden und den Paragraphen 217 überarbeiten. Die Diskussion darum ruhte aber in der Öffentlichkeit, vor allem aufgrund der zwischenzeitlich hereinbrechenden Corona Pandemie. Die Fragen des assistierten Suizids gerieten erst einmal in den Hintergrund. Doch da kann das Thema nicht auf Dauer bleiben. Der Bundestag muss sich mit ihm befassen. Deshalb ist es gut, wenn eine Theologin, Isolde Karle, und zwei Theologen, Reiner Anselm und Ulrich Lilie erneut in einem Zeitungsartikel auf das Thema aufmerksam gemacht haben. Sie plädieren dafür, das Urteil positiv aufzunehmen und nach einer angemessenen Umsetzung zu suchen. Ein zentraler Satz lautet: „In dieser Hochschätzung des Individuums und seiner Selbstbestimmung gibt es keine Differenz zwischen dem Urteilstenor des Verfassungsgerichts und der Position der evangelischen Ethik“.

Gegen diese Aufnahme der Argumentation des Verfassungsgerichts haben sich wiederum zwei Theologen gewendet, Peter Dabrock und Wolfgang Huber. Sie erinnern daran, dass diese Selbstbestimmung, die in dem Urteil wie auch in dem ersten theologischen Beitrag selbstverständlich vorausgesetzt wird, eine problematische Größe ist. Sie deckt nicht das Ganze der menschlichen Erfahrungsbreite ab. Denn Menschen erfahren sich auch als passiv, nicht nur als aktive, sich selbst bestimmende Wesen. Kein Mensch hat sich das Leben selbst gegeben, Menschen können deshalb das Leben als Gabe, als Gnade erfahren. Die Autoren hinterfragen den Stellenwert der Selbstbestimmung im Urteil des Verfassungsgerichts. Ist es statthaft, den Artikel 2, die freie Entfaltung der Persönlichkeit, so eng mit Artikel 1, dem höchsten Gut, der Menschenwürde, zu verknüpfen?

Wer oder was ist die autonome Instanz?

Es ist tatsächlich der Mensch nicht stets und immer ein selbstbestimmtes Individuum. Besonders an den Rändern des Lebens kann man zu Recht nach der Gültigkeit einer Reduktion auf das selbstbestimmte Individuum fragen. Zudem scheint es zweifelhaft, ob der Mensch je das selbstbestimmte und autonome Individuum ist, als das er sich selbst gerne sehen möchte. Es gibt stets eine Vielzahl von Verstrickungen mit sozialen, kulturellen und auch körperlichen Dispositionen, die die Autonomie immer nur eine relative sein lassen. Zudem muss man fragen, welches die Instanz sein soll, die im Gegenüber zur Umwelt, im Gegenüber zur mitmenschlichen Welt und vielleicht sogar im Gegenüber zum eigenen Körper als autonome Instanz verstanden werden kann. Ist es nicht so, dass wir stets von unbewussten Regungen, von schwer zu durchschauenden kulturellen und sozialen Prägungen bestimmt sind?

Nun gibt es aber gute Gründe, bei allen Einschränkungen, die man vornehmen muss, im sozialen und rechtlichen Sinne stets von der Autonomie eines Menschen auszugehen. Die Autonomie wird so zu einer wichtigen Annahme, um Abwägungen vornehmen zu können: Im Zweifel gilt der artikulierte Wille des einzelnen Menschen und nicht die Erwartungen des sozialen Umfeldes an sie oder ihn. Das ist ohne Zweifel ein großer zivilisatorischer Fortschritt, der unbedingt bewahrt werden muss. Autonomie ist immer auch die Abwehr von jeder Heteronomie.

Die Problematik kritischer kirchlichen Positionen

Insofern wird nun kritischen Stimmen aus dem kirchlichen Raum schnell vorgeworfen, genau eine solche heteronome Haltung einnehmen zu wollen. In der Vergangenheit war es schon so, dass der „Selbstmord“ unter das Tötungsverbot fiel und „Selbstmörder“ außerhalb der Friedhofmauern beerdigt werden mussten. Dies ist überwunden, auch kirchliche Vertreter sehen im Suizid keinen Mord mehr. Dennoch scheinen sie erneut ihre restriktiven Vorstellungen durchsetzen und anderen Menschen vorschreiben zu wollen, wie sie mit dem Leben umgehen sollen. Das schafft unter den Befürworterinnen und Befürwortern des assistierten Suizids, und auch innerhalb der Kirche gibt es da nicht wenige, den Abwehrreflex, sich gegen die autoritären Anmaßungen zu wehren.

Die Fragilität von Autonomie, das soziale Umfeld

Die Kritiker mancher kirchlicher Positionen haben insofern Recht, als die Kirchen auf keinen Fall in einem säkularen Staat eine strafrechtliche Sanktionierung des assistierten Suizids einfordern dürfen. Denn das Strafrecht kann ja nur vom Staat verantwortet werden, der aber in weltanschaulichen Fragen sich zurückzuhalten hat. Doch ist mit einer Ablehnung einer Anwendung eines Strafrechts noch nicht ein tieferliegendes Problem gelöst, welches denn die Instanz ist, der man Autonomie zuschreibt.

Hier kann schnell mit den Worten der „Selbstbestimmung“ und „Autonomie“ eine scheinbare Klarheit erzeugt werden, die für die Beschreibung der leiblichen menschlichen Existenz nicht angemessen ist. Das gilt schon für wichtige Entscheidungen im Leben eines gesunden erwachsenen Menschen. Was genau motiviert jemanden, diesen und nicht einen anderen Lebensweg einzuschlagen? Die Motivationen sind vielfältig und zugleich auch unergründlich. Sehr unterschiedliche Zugänge, von der Psychoanalyse bis hin zu den Neurowissenschaften, zeigen, dass immer nur ein begrenzter Anteil der eigenen Motivationslage bewusst verantwortet wird. Vielfältige soziale und kulturelle Einflüsse spielen eine große Rolle. Der Mensch ist eher ein Wesen, das sich immer wieder und oft vergeblich bemüht, vollständig Rechenschaft über sein Handeln abzulegen. Eine überzeugende philosophische Interpretation sagt, dass ein Handeln nicht deshalb autonom genannt werden kann, weil es ein autonomes Zentrum gibt, sondern weil ein Mensch sich die Handlung als autonome Handlung zuschreibt.

Wenn also Menschen eher offene Interpretationsprozesse sind, verbunden und verwickelt mit anderen Menschen und deren Interpretation, dann zeigt das, wie wichtig es auch im Falle der Diskussion des Suizids, das soziale und kulturelle Umfeld zu berücksichtigen und die Betrachtung nicht allein auf das autonome Individuum zu reduzieren. Der Suizid erscheint dann als ein Phänomen mit einer sozialen und kulturellen Dimension. Und kann die Kirche, hier kann eine seelsorgerliche Kompetenz eine wichtige Rolle spielen, indem sie das soziale und kulturelle Umfeld der letzten Lebensphase lebensfreundlich gestaltet.

Vielleicht hat der Staat keine bessere Möglichkeit, als sich im Umgang mit dem assistierten Suizid auf das Selbstbestimmungsrecht zu beziehen. Dann wird der Suizid zu einer Option unter vielen. Doch ist mit dem Hinweis auf die Autonomie das Geschehen im Vorfeld eines Suizids weder hinreichend noch angemessen beschrieben. Zuviel bleibt bei der Reduktion auf ein einzelnes, autonomes Individuum außen vor. Seine Beziehung nach außen ist außerordentlich wichtig. (Es ist gerade der Schmerz der Einsamkeit, der mit oft mit Suizidabsicht verbunden wird, so in dem Theaterstück GOTT von von Schirach, so im Yer Blues von dem Beatles: i’m lonely i wanna die) Es ist gerade die Aufgabe gesellschaftlicher Organisationen wie der Kirchen, den Blick zu weiten. Auch ein Suizidwunsch entsteht in einem sozialen Umfeld und ist damit in vielfacher Weise interdependent. Die soziale Verbundenheit zeigt sich in ihrer elementaren Dimension gerade an den Rändern des Lebens, bei der Geburt, in der Krankheit, beim Tod. Wenn aber die soziale Verbundenheit in diesen Situationen einen solch großen Einfluss hat, ist es umso wichtiger, das soziale Umfeld so zu gestalten, dass ein Suizidwunsch nicht einfach eine Option unter mehreren für autonome Individuen verstanden wird, sondern eine Ausnahme in einer Kultur bleibt, in der zwischenmenschliche Zuwendung und soziale Einbindung auch den letzten Teil des Lebensweges prägt. Seelsorge, Palliativmedizin und soziale Einbindung weisen hier den Weg. Es kann sein und muss auch dann möglich sein, dass Menschen sich für den Suizid entscheiden. Gesellschaftliche Organisationen wie die Kirchen sollten aber alles dafür tun, dass sie seltene Ausnahmen bleiben.

Hier ein Vortrag von Prof. Wolfgang Huber zum Thema!

Der Impfstoff, eine gute Nachricht für Europa und ein weltweites Problem

Noch in der vergangenen Woche habe ich in diesem Blog mit großer Skepsis darüber nachgedacht, warum wir eine mögliche Impfung herbeisehnen. Sie ist die „technische Lösung“ des Problems der Pandemie, das heißt, sie erfordert sehr geringe Veränderungen im gesellschaftlichen Abläufen und Strukturen und  in dem eigenen Verhalten. Skeptisch war ich, weil das Ersehnte nicht nur deshalb, weil es ersehnt wird, auch schon eintritt. Nun, wenige Tage später, scheint nun aber ein Impfstoff der Unternehmen Biontech/Pfizer zum Greifen nah zu sein! Das ist eine sehr gute Nachricht!

Technische Lösungen haben Nebenwirkungen

Allerdings haben auch technische Lösungen Nebenwirkungen.  Denn zugleich stellt sich ein gravierendes, ein riesiges Problem: Das Problem der Verteilungsgerechtigkeit. Denn der Impfstoff muss für die ganze Welt in ausreichender Menge produziert werden. Es geht dabei nicht nur um die Verteilung an sich, die auf längere Sicht möglich sein wird. Es geht vor allem auch um den Zeitfaktor, denn die Pandemie wütet in vielen Ländern und alle ersehnen ein Ende. Das Problem wird auch nicht dadurch behoben, dass einige weitere Kandidaten für Impfstoffe sich in der Erprobungsphase III befinden. Denn auch mehrere Pharmaunternehmen werden Schwierigkeiten haben, die Produktion so großer Mengen von Impfstoff bereit zu stellen.  Die Verteilung wird also zwangsläufig dauern, möglicherweise viele Monate. Ein weiterer Faktor sind die Verteilungswege, es müssen Infrastrukturen aufgebaut werden, die die Impfungen fachgerecht durchführen können. Auch das ist eine große logistische Herausforderung, die die bestehenden Gesundheitssysteme vieler Länder nicht noch nebenher erledigen können. Auch hier haben jene Länder einen Vorteil, die über ein besser ausgestattetes Gesundheitssystem verfügen. Technische Lösungen setzen Infrastrukturen voraus. Wenn die nicht gegeben sind, ist auch eine technische Lösung gefährdet.

Das Problem der Zeit

Es also entstehen unausweichliche Verzögerungen: Die einen bekommen den Impfstoff schnell, die anderen müssen noch warten. Doch sind auch schon einige Monate in einer Pandemie eine sehr lange Zeit – in Deutschland ist sie erst seit etwa 8 Monaten! Man stelle sich vor, der Impfstoff sei von Beginn an verfügbar gewesen, aber erst nach 8 Monaten in Deutschland eingesetzt worden! Diese Differenz mehrerer Monate wären nicht nur für die Menschen deshalb schlecht, weil sie weiterhin in einem mehr oder minder starkem Lockdown mit dem ständigen Risiko der Ansteckung leben müssen, sondern weil sie zugleich Bilder aus Ländern sehen können, in denen schon geimpft wird und die die Befreiung von dem Virus feiern können!

Die gute Nachricht für Europa

Es wird weltweite Verteilungsschwierigkeiten geben. Dennoch ist es eine gute Nachricht, die gestern aus Brüssel kam. Die EU hat mit ihrer Verhandlungsmacht bei den Herstellern Biontech und Pfizer mindestens 300 Mio. Impfdosen vorbestellt. Dies ist eine gute Nachricht für die Menschen in Europa, es ist aber auch eine gute Nachricht für Europa! Das erste Mal seit dem Beginn der Pandemie zog nicht der nationale Reflex. Der war ja zu Beginn der Pandemie zu beobachten. Jede Regierung verfügte über eigene Maßnahmen.

Es wäre extrem schwierig geworden, hätten hier die Mitgliedsländer der EU eigenständig agiert. Das geschah im Verlauf der Corona Pandemie ja schon mehrfach. Erst ging es um Masken, dann um Reisefreiheit, dann um die Bettenkapazitäten in den Krankenhäusern. In all diesen Fragen stand nicht Europa im Vordergrund, sondern die jeweilige nationale Einheit. Das hätte nun wieder passieren können: Deutschland etwa hätte aufgrund seiner geringen Verschuldung einfach etwas mehr bieten können als andere Länder. Ein destruktiver Wettbewerb hätte stattfinden können, der der europäischen Idee großen Schaden zugefügt hätte. Das ist nun abgewendet. Und das ist eine gute Nachricht.

Das Problem im weltweiten Maßstab

Was aber geschieht im weltweiten Maßstab? Hier zeigt sich wiederum, wie gut es wäre, wenn die Vereinten Nationen und damit auch die Weltgesundheitsorganisation, die WHO, besser aufgestellt und mit mehr Befugnissen ausgestattet wäre! Leider findet darüber hierzulande in der Öffentlichkeit kaum eine Debatte statt. Auch die Kürzungen unter der Trump-Regierungen sind nur zur Kenntnis genommen worden. Wenn der Eindruck nicht täuscht, waren es nicht die Europäer, die in die Bresche gesprungen sind, sondern China. Um eine Stärkung der UN wird in the long run kein Weg vorbeiführen!

Zur Diskussion der Widerspruchslösung bei der Organspende – Der Mensch ist mehr als ein Organismus

In diesem Herbst wird der Bundestag ein Gesetzentwurf zur Organspende diskutieren, der die so genannte „Widerspruchslösung“. Sie soll einen Ausweg aus dem Problem der zu geringen Zahl von Organspendern in Deutschland weisen. Doch geht es bei dem Wechsel der jetzt geltenden erweiterten Zustimmungslösung zur Widerspruchslösung nicht einfach nur um eine Änderung in einer Prozedur. Die Änderung gegenüber der bisher bestehenden Regelung ist tatsächlich weitreichend, weil sie die Grundbedingungen für eine „Organspende“ ändert.

Die erweiterte Zustimmungslösung und ihre Probleme

Nach der bislang geltenden so genannten erweiterten Zustimmungsregelung muss die mögliche Spenderin, der mögliche Spender schon vorab die Bereitschaft zur Organspende dokumentiert haben, etwa durch einen Organspendeausweis. Liegt eine solche Dokumentation des Willens nicht vor, werden die Angehörigen nach dem mutmaßlichen Willen gefragt.

Dieses Verfahren ist alles andere als ideal. Insbesondere kann es besondere Härten schaffen, wenn die Angehörigen gefragt werden. Dies ist durch die Situation einer möglichen Organspende bedingt. Als Organspender kommen ja nur solche Menschen in Betracht, bei denen während einer intensivmedizinischen Behandlung der Hirntod festgestellt wird, deren körperlicher Zustand aber noch in einem solchen Zustand ist, dass spendefähige Organe entnommen werden können. Das ist zum Beispiel bei Unfallopfern der Fall. Ist eine mögliche Spenderin, ein möglicher Spender erst einmal identifiziert, kann der folgende Prozess der Organentnahme nicht beliebig hinausgezögert werden. Zum einen warten mögliche Empfänger auf ein Spendeorgan, zum anderen kann eine intensivmedizinische Behandlung nicht unbegrenzt fortgeführt werden.

In dieser Situation entsteht also ein großer Druck auf alle Beteiligten. Ärztinnen und Ärzte sehen sich zu schnellem Handeln veranlasst. Wenn nun eine eindeutige Willensbekundung in Form eines Organspendeausweises vorliegt, wird die weitere Prozedur zügig abgewickelt. Das Krankenhaus meldet die Organe, die Entnahme kann vorbereitet werden. Äußerst problematisch ist die geltende Regelung aber, wenn kein Organspendeausweis vorliegt. Dann müssend die nächsten Angehörigen gefragt werden. Das aber geschieht in einer denkbar belasteten Situation. Hier kommt die existentielle Verbundenheit zur Geltung, die zwischen nahen Verwandten besteht. Wenn denn die möglichen Spender durch einen schweren Unfall in diese Situation geraten sind, so liegt zwischen der Nachricht der Unfallfolgen, der Nachricht, wie schwer die Verletzungen sind und der Frage, ob Organe entnommen werden können, nur sehr wenig Zeit. Die Angehörigen können also nicht in Ruhe entscheiden, sondern sind mit der Frage unmittelbar nach der Erkenntnis konfrontiert, dass der mit ihnen verbundene Mensch irreparable Verletzungen erlitten hat und nach keine Möglichkeiten hat, zu einem stabilen Leben zurückzukehren. Sie oder er liegt im Sterben. In dieser Situation wird nun eine weitreichende Entscheidung der Angehörigen notwendig. Hier kommt es immer wieder zu Entscheidungen, die von den Angehörigen im Nachhinein bitter bereut wurden. Dies kann zu langanhaltenden traumatischen Erlebnissen führen, so dass die Angehörigen im Nachhinein urteilen, dass sie den ihnen nahe stehenden Menschen in einem entscheidenden Moment verlassen, ja verraten haben. Die existentielle Verbundenheit kann zu tiefen Verletzungen auch der Angehörigen führen.

Der Wechsel zur Widerspruchslösung

Was ist nun die doppelte Widerspruchslösung? Nun kommt jede Bürgerin, jeder Bürger zunächst einmal für eine Organspende in Frage. Der von der staatlichen Gesetzgebung vorgesehene Standardfall ist also der, dass einem  Mensch im Falle der Diagnose des Hirntodes Organe entnommen werden können. Die behandelnden Ärzte, die den Hirntod feststellen, fragen bei einem Zentralregister nach, ob von der fraglichen Person ein Widerspruch vorliegt. Wenn das nicht der Fall ist, müssen noch die Angehörigen gefragt werden, ob sie von einem Dokument mit einem Widerspruch wissen oder ob sie von einem solchen klar geäußerten Willen Kenntnis haben. Wenn beides nicht der Fall ist, können die Organe entnommen werden.

Der Wechsel von der Zustimmung zum Widerspruch ist weitreichend. In dem ersten Fall ist ein Patient zunächst einmal kein Organspender, kann sich aber zu einem solchen erklären, wenn er aktiv einer Organspende zustimmt. In dem zweiten Fall ist jede Bürgerin, jeder Bürger Organspender. Diejenigen, die widersprechen, bilden nun die Ausnahme. Das heißt, die Patienten in der Intensivmedizin, bei denen der Hirntod festgestellt wurde, sind zunächst einmal Spender. Doch stellen sich in dieser neuen Konstellation grundlegende Fragen. Kann man einen Menschen in dieser Prozedur noch als „Spender“ ansehen? Es ist immer ein Akt von Nächstenliebe, wenn man sich als Spenderin, als Spender zu erkennen gibt. Doch was ist, wenn dieser Akt durch einen Automatismus ersetzt wird? Dann fehlt die die Geste des Gebens, die Spenderin, der Spender zeigt sich nicht mehr mit der Empfängerin, den Empfänger verbunden, sondern wird als objektiver Körper „verwendet“. Wenn man von Staatswegen davon ausgehen kann, dass jeder Bürgerin, jedem Bürger in dem spezifischen Fall der Hirntoddiagnose Organe entnommen werden können, ist dieser Vorgang dann noch eine Spende? Diese ist doch gerade ein ungezwungener und freier Akt! Statt von Organspende müsste man dann von einer regulierten Organentnahme reden. Diese terminologische Differenz zeigt schon an, dass hier ein grundlegender Wechsel vorliegt und nicht nur eine Veränderung einer Prozedur.

Erhebliche praktische Probleme der Widerspruchslösung

Neben der fundamentalen Anfrage stellen sich auch organisatorische Probleme, die eine erhebliche Reichweite haben. Eine Widerspruchslösung setzt voraus, dass jede und jeder vollumfänglich informiert ist und nach reiflicher Überlegung frei entscheidet. Doch wie will man das angesichts der gesellschaftlichen Verwerfungen, der Milieuunterschiede und des unterschiedlichen Umgangs mit Medien sicherstellen? Wie will man verhindern, dass die für eine Widerspruchslösung notwendige Auseinandersetzung nicht in sehr unterschiedlichem Maße in den unterschiedlichen Schichten stattfindet und etwa stark mit dem Bildungsgrad korreliert? Hier tun sich erhebliche Gerechtigkeitsfragen auf. Die unterschiedlichen Grade der Informiertheit in der Gesellschaft lassen erwarten, dass es eine sehr unterschiedliche Intensität in der Beschäftigung mit dem Thema gibt.

Weiterhin wird die problematische Rolle der Angehörigen, die ja schon bei der Zustimmungslösung besteht, nicht gemindert. In der vorgesehenen Widerspruchslösung müssen die Angehörigen sogar gefragt werden. Wer will verhindern, dass nicht noch mehr Menschen im Nachhinein ihre Entscheidung bereuen und sich Vorwürfe machen, weil sie in einer entscheidenden Situation falsch entschieden haben?

Andere Auswege aus der geringen Zahl von Spenderorganen

Es ist unbestritten, dass die geringe Zahl von Spendern ein Problem darstellt und man darf das Problem nicht kleinreden. Es gibt sehr viele schwer kranke Menschen in diesem Land die vergeblich auf Spenderorgane warten. Das ist umso bitterer, als es nach dem Stand der Medizintechnik möglich gewesen wäre, ihnen zu helfen. Jedoch sollte man zunächst alle weiteren Optionen innerhalb des Systems der Zustimmungslösung ausschöpfen bevor man zu so einer drastischen Maßnahme greift wie des Systemwechsels zur Widerspruchslösung. Dazu gehören etwa die Verbesserung der Infrastruktur, etwa eine bessere Ausstattung der Krankenhäuser, so dass sie adäquat reagieren können. Diese Veränderungen kosten Geld und sind keine schnelle Lösung. Aber schnelle Lösungen haben oft im Nachhinein weitreichende und vielleicht auch nicht intendierte Folgen.

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Bieten die Neurowissenschaften die Grundlage für ein neues Menschenbild?

„Das menschliche Gehirn ist das Maß aller Dinge.“ So oder ähnlich mögen viele gedacht haben, die in den letzten Jahren die öffentlichen Debatten verfolgt haben. Die Neurowissenschaften haben immer wieder überraschende Erkenntnisse über das menschliche Gehirn produziert.

Das Jahrzehnt der Gehirnforschung

Anfang des Jahrtausends haben führende Wissenschaftler die Dekade des Gehirns ausgerufen, ein Manifest der Hirnwissenschaft wurde in Deutschland 2004 intensiv diskutiert. Viele Disziplinen schienen sich in der Folge neu zu erfinden, indem sie ein „neuro-“ vor ihren Namen setzten: So entstanden Neuro-Psychologie, Neuro-Pädagogik, Neuro-Ökonomie usw. Wir wissen heute deutlich mehr über das menschliche Gehirn, aber auch über das menschliche Verhalten. Doch scheint es so, dass der anfängliche Hype etwas abgeklungen ist, von revolutionären Veränderungen der Neurowissenschaften redet heute keiner mehr.

Das Gehirn als Schlüssel zu allem?

Die Euphorie vor etwas mehr als einem Jahrzehnt war nicht zuletzt auch dadurch bestimmt, dass die Diskussion über das menschliche Gehirn  in hohem Maße ideologieanfällig ist. Dies gilt in geringem Maße für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die im Bereich der Neurowissenschaften forschen. Denn diese wissen ja genug um die Randbedingungen ihrer Messungen und um die Einschränkungen, die für die Messungen gelten. Die weltanschauliche Ausweitung wurde eher von wenigen wissenschaftlichen Akteuren und vielen Medien betrieben, die auf eine breite gesellschaftliche Resonanz stieß. Hier verdichtet sich die Vorstellung,  der Mensch sei vollständig verstanden, wenn man erst einmal sein Gehirn verstanden hat. Für alles, was ein Mensch bewusst erlebt oder tut, gibt es eine Repräsentation in seinem Gehirn. Bietet damit nicht das Gehirn den Schlüssel zu Verständnis des Menschen?

Das Eldorado der Neuropädagogik

So entstand der Eindruck, dass das, was bisher nur ungenau verstanden war, durch die Neurowissenschaften genau beschrieben werden konnte. Gerade in der Neuro-Pädagogik wurden viele Verheißungen ausgesprochen und von Lehrerenden ebenso wie von besorgten Eltern intensiv rezipiert. Manche Buchveröffentlichungen konnten ihren Absatz dramatisch steigern, indem sie neurowissenschaftliche Expertise für sich behaupteten. Es reichte dann auch für die Empfehlungen die kleine unspezifische Ergänzung „Die Neurowissenschaften haben herausgefunden, dass…“ Letztlich blieben aber die Empfehlungen zumeist in dem Spektrum der gute alten humanistischen Pädagogik. Es kamen nicht viele wirklich neue Erkenntnisse hinzu. Seitdem ist das Interesse für Neuro-Pädagogik auch wieder stark abgeflaut.

Ein mereologischer Fehlschluss

Will man die wichtigen wissenschaftlichen Erkenntnisse von der ideologischen Überhöhung unterscheiden, kommt es auf die richtige Gewichtung an. Wir lernen durch die Neurowissenschaften viel über den Menschen, aber das heißt nicht, dass wir alles, was den Menschen ausmacht, durch das Gehirn verstehen können. Der Körper ist nicht nur einfach ein Appendix des Gehirns, das Gehirn ist nicht der Kern des Menschen. Eine genauere Betrachtung zeigt, dass das Gehirn ein in hohem Maße vernetztes Organ ist. Es zu isolieren, würde bedeuten, es auch seiner Funktionalität zu berauben. Ein zerebraler Zentrismus begeht einen argumentativen Fehler, mereologischer Fehler genannt, weil er einen Teil für das Ganze setzt. Dies haben der Philosoph Peter Hacker und der Neurowissenschaftler Maxwell Bennett klar herausgearbeitet.

Es gibt gute Argumente dafür, dass nur ein in einem Körper situiertes Gehirn sehen kann, dass nur ein Mensch und nicht ein Gehirn denken kann. Bei den Gefühlen ist das ganz offenkundig. Das Gehirn ist eher ein System, das nicht nur mit vielen anderen Organen in einem Körper vernetzt ist. Darüber hinaus ist es auch mit anderen Gehirnen vernetzt – über die Sprache, die Menschen miteinander teilen.

Eine differenzierte neurowissenschaftliche und kulturelle Betrachtung

Führende Neurowissenschaftler weisen den Weg: Nicht die Konzentration auf das Gehirn allein wird zukünftig wichtig sein, sondern ein besseres Verständnis des Gehirns als ein Teil im Organismus Mensch und als ein Teil im komplexen kulturellen Kontext. Ich habe ein Akademiegespräch mit Prof. Dr. Christian Elger geführt. Elger zeigt zum Beispiel auf, dass ein und derselbe Belohnungsmechanismus im Gehirn in unterschiedlichen kulturellen Umgebungen sehr unterschiedliche Folgen haben kann.

Das Gehirn determiniert nicht das menschliche Verhalten, aber es hat einen großen Einfluss auf das menschliche Verhalten. Hier werden auch künftig die Neurowissenschaften eine wichtige Rolle spielen. Nur in seltenen Fällen kann das menschliche Verhalten eindeutig auf Prozesse im Gehirn zurückgeführt werden, wenn etwa durch einen Tumor oder eine äußere Verletzung sozial deviantes Verhalten eintritt. Auch die Demenz oder Formen der Epilepsie gehören zu jenen Bereichen, in denen die Neurowissenschaften täglich dazu lernen.

Das Gehirn in der Regel in hohem Maße plastisch und kann oft Störungen selbst kompensieren. Komplexes menschliches Verhalten lässt sich nicht einfach auf Gehirnprozesse reduzieren. Damit bieten die Neurowissenschaften keine Grundlage für ein neues Menschenbild, aber sie bieten die Grundlage für ein genaueres und differenzierteres Menschenbild!

 

 

Pränataldiagnostik – die schleichende Revolution? Die Gefahren des objektiven Blicks

In der öffentlichen Diskussion von bioethischen Themen gibt es eine Konzentration auf spektakuläre Themen. Wenn die Forschung einen Durchbruch in gentechnischen Methoden erringt, findet das über die Fachkreise hinaus große Aufmerksamkeit. Das ist auch gut so. So fand vor kurzem die Methode „CRISPR Cas“ einige Aufmerksamkeit, mit der präzise Veränderungen am Genom vorgenommen werden können. Neue Methoden ermöglichen in der Regel neue Handlungsoptionen. Im Falle von „CRISPR Cas“ stellt sich die Frage, ob man nicht auch in das menschliche Genom eingreifen sollte, etwa wenn bei einem Embryo eine monogenetische Erkrankung festgestellt wird. Der Eingriff in die Keimbahn ist bislang ein Tabu und in Deutschland per Gesetz verboten. Doch welche Richtung wird die Entwicklung nehmen, wenn erbliche Erkrankungen verhindert werden können? Wenn man aber diesem begrenzten Eingriff zustimmt, stellt sich schnell die weitergehende Frage, welche Krankheiten zu einem solchen Eingriff berechtigen. Und schon befindet man sich mitten in einer gravierenden bioethischen Debatte.

Spektakuläre Durchbrüche und schleichende Entwicklungen

Diese Diskussionen werden auch mit einiger Aufmerksamkeit öffentlich geführt. Anders ist es dagegen, wenn  die Veränderungen nicht mit spektakulären wissenschaftlichen Durchbrüchen verbunden sind. Dennoch können auch konventionellere neue Technologien weitreichende gesellschaftliche Folgen haben. Das ist im Bereich der Pränataldiagnostik der Fall. Worum geht es hier? Vorgeburtliche Untersuchungen gehören zu dem Umfang einer jeden medizinischen Betreuung einer Schwangerschaft. Es geht dann zum Beispiel um die Frage, ob in der Schwangerschaft Komplikationen zu erwarten sind. Etwas anderes ist es aber, wenn der Fötus daraufhin untersucht wird, ob das Kind schon vor der Geburt erkennbare Anzeichen für eine Erkrankung hat. In früherer Zeit ist eine solche Untersuchung eher im Ausnahmefall gemacht worden, weil die Amniozentese oder die Chorionzottenbiopsie mit einem Eingriff, einer Gewebeentnahme verbunden war.

Der neu entwickelten genetischen Bluttest

Doch hier haben neuere Technologien den Eingriff wesentlich erleichtert. Zuletzt sind Untersuchungen des Blutes der Mutter etabliert worden, die es ermöglichen, auch das Genmaterial des Kindes zu untersuchen, von dem es geringe Spuren in dem Blut der Mutter gibt. Die fortschreitende Entwicklung dieser Tests bringt es mit sich, dass die genetische Untersuchung ihrerseits wesentlich genauer und auch preiswerter geworden sind. Beide Faktoren zusammen geben die Möglichkeit, dass nun sehr viel mehr schwangere Frauen untersucht werden, die zuvor in keine Risikogruppe gefallen wären. Es ist im Gespräch, dass diese Untersuchungen eine kassenärztliche Leistung werden.

Gesellschaftliche Implikationen

Die Untersuchungen sind je und je Einzelfälle, in denen sich die Betroffenen individuell entscheiden müssen. Doch kann diese Entwicklung weitreichende und gravierende Auswirkungen auf die Gesellschaft haben.  Wie reagieren die werdenden Eltern bzw. die schwangeren Frauen auf die Nachricht, dass eine genetische Erkrankung bei dem Kind diagnostiziert wurde? Die Zahlen, die zur Verfügung stehen, zeigen, dass die weit überwiegende Mehrheit (bei manchen Merkalen bis zu 9/10) dann einen Abbruch vornehmen lassen. Das heißt aber, dass die weite Verfügbarkeit der Tests, ihre geringen Kosten und ihre immer besser werdende Prognosefähigkeit in der Tendenz dazu führen, dass Kinder mit bestimmten genetischen Dispositionen kaum noch geboren werden.

Über den Einzelfall kann man nur schwer ein Urteil fällen, weil es sich je und je um Gewissensnöte handelt und eine sehr schwierige Entscheidung. Doch die gesellschaftlichen Folgen von sehr zahlreichen gleichlautenden Entscheidungen für den Abbruch sind, dass die Vielfalt abnimmt. Damit wächst aber auch der gesellschaftliche Druck auf die Minderheit, die sich trotz Diagnose für das Kind entscheidet. Es entsteht in diesem Automatismus einer gesellschaftlichen Ausgrenzung von Menschen mit genetischen Erkrankungen.

Inklusive Gesellschaft?

Die Kirchen haben in den letzten Jahren den Gedanken der Inklusion mit Nachdruck befördert. Wer eine inklusive Gesellschaft will, muss insbesondere jene stärken, die von einer gesellschaftlichen Norm abweichen. Da geht es bei weitem nicht nur um die Pränataldiagnostik, sondern es geht um die Versorgung von Kindern, um die Unterstützung von Eltern, um die Ermöglichung von Bildungswegen, es geht um die Gestaltung eines möglichst eigenständigen Lebens von Menschen mit Behinderung. Hier liegen die gesellschaftlichen Herausforderungen. Wenn das gelingt, kann eine Gesellschaft inklusiver werden, das heißt, auch offener gegenüber Abweichungen. Dann ist es vielleicht auch möglich, dass sich mehr werdende Eltern für ein Kind mit genetischen Krankheiten entscheiden. Das Ziel der Inklusion ist nicht nur ein hehres Ziel von Gutmeinenden. In einer Gesellschaft, die Abweichungen von der Norm nicht toleriert, wird eine harte Gesellschaft. Die Gestaltungs- und Eingriffsmöglichkeiten werden in der Zukunft mit Sicherheit zunehmen. Welche Abweichungen nehmen wir dann noch hin und was halten wir dann nicht mehr für tolerierbar? Von dieser Entwicklung wird abhängen, in welche Richtung wir das gesellschaftliche Miteinander gestalten – als inklusive Gesellschaft oder als Gesellschaft vorgegebener Gesundheitsnormen!

Hier finden Sie ein Akademiegespräch zwischen Frau Prof. Graumann, Mitglied im Deutschen Ethikrat und Präses Manfred Rekowski zu dem Thema.

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