Europa braucht Solidarität! Die Corona-Krise als Europa-Krise?

Die Entwicklung der letzten Wochen drängt nur den Eindruck auf, dass sich Europa zum Zentrum der Krise entwickelt. Das stellt insbesondere die Länder der EU vor massive Herausforderungen. Es steht viel auf dem Spiel. Eine EU-weite Politik ist zurzeit kaum zu entdecken. Grenzen werden geschlossen, jedes Land agiert in der Krise, als ob es die EU nicht gäbe. Die Krise hat zwei Seiten, die Pandemie und die tiefgreifenden wirtschaftlichen Konsequenzen. Die EU kann die weitere Entwicklung der Krise nur bestehen, wenn erhebliche Kräfte der Solidarität frei gesetzt werden!

Europa als gegenwärtiges Zentrum der Pandemie

Zunächst einige Beobachtungen zu dem Verlauf der Pandemie: Alle Daten deuten auf einen deutlichen Wandel hin, die Krise um das SARS CoV 2 Virus begann in China und blieb die ersten zwei Monate fast ausschließlich dort. Die Zahl der Erkrankungen schnellte nach oben. China ergriff Ende Januar drakonische Maßnahmen. Mit 6 Wochen Verzögerung entspannte sich die Situation wieder. Wie die offiziellen Zahlen zu bewerten sind, ist aber offen. Während des Februars verteilte sich das Virus, Infektionen wurden in vielen Ländern der Welt gemeldet, Schwerpunkte waren Ende Februar Südkorea, Iran und Italien. Peu à peu wurden dann immer mehr Infektionen auch in anderen europäischen Ländern entdeckt, in Deutschland nach der Karnevalzeit vor allem im Rheinland. Seitdem wachsen die Zahlen in vielen europäischen Ländern rasant, gab es nach der Zählung der John-Hopkins-University am 1.März etwa 2000 Infizierte, so sind es jetzt schon über 150000 (Stand 22.3.).

Fast überall auf der Welt gibt es steigende Infektionszahlen, jedoch sind die Zahlen in den meisten Ländern mit Ausnahme der USA noch relativ klein. Wenn man einmal die USA auslässt, so erscheint Europa, genauer gesagt, Westeuropa zurzeit als Epizentrum der Pandemie. Das ist auch schon in einer Äußerung der WHO, der Weltgesundheitsorganisation, so benannt worden. Wenn man die Vorgeschichte nicht kennt und sich allein heute einen Überblick über die Zahl der Infektionen mit dem SARS CoV 2 Virus verschaffte, könnte man auf die Idee kommen, die Quelle des Virus sei in Europa zu suchen. Die europäischen Länder sind in den kommenden Monaten in besonderer Weise herausgefordert, die weitere Ausbreitung der Krankheit zu bekämpfen.

Die Bekämpfung der Pandemie mit nationalen Mitteln

Innerhalb der EU findet eine Koordination der Bekämpfung der Pandemie von Brüssel aus so gut wie nicht statt. Dies ist auch nicht überraschend, weil Gesundheitspolitik und Seuchenbekämpfung offenkundig eine Sache der Mitgliedsländer ist. Das offenbart eine erhebliche Schwäche. Dadurch agiert jedes Land auf eigene Weise, oft, ohne sich selbst mit den Nachbarländern abzustimmen. Die Maßnahmen betreffen aber nicht nur die Regulierungen innerhalb der Mitgliedsländer. Es gibt in vielen Ländern nicht miteinander koordinierte Grenzschließungen. Die Koordination des Schengen-Raums aber gehört zu den zentralen Kompetenzen der EU, die sie jetzt nicht ausüben kann. Auch eine Solidarität zwischen den Mitgliedsländern funktioniert in dieser Phase der Krise kaum. Deutschland hat etwa im Vergleich zu anderen europäischen Ländern weit ausgebaute medizinische Kapazitäten. Von einer europaweiten Koordination der Hilfeleistungen, bei der etwa besonders stark betroffene Gebiete in Italien oder im Elsass Hilfen aus Deutschland bekämen, ist erst an dem letzten Wochenende (22.3.) zu lesen.

Die Wirtschaftskrise als mittelfristige Folge

Die aktuelle wirtschaftliche Krise ist engstens mit der Pandemie verflochten. Die Pandemie bewirkt eine zeitgleiche Krise der Produktion wie auch der Nachfrage. Kaum noch jemand würde gerne Konsumgüter kaufen angesichts der bedrückenden Entwicklung, es ist nicht die Zeit zum Geldausgeben. Die Produktion wiederum ist durch gestörte Lieferketten und Ausfälle von Mitarbeitenden unter Druck. Eine entscheidende ökonomische Frage ist, wie lange die Krise andauert. Wenn es nur wenige Wochen sind, sind die Produktionsbedingungen nicht nachhaltig gestört. Anders aber ist es, wenn die Einschränkungen durch die Pandemie länger andauern.

Die Mitgliedsstaaten der EU müssen als solidarische Gemeinschaft agieren

In der begleitenden Wirtschaftskrise ist die Solidarität der europäischen Länder mindestens ebenso gefordert wie im Bereich der Epidemie-Bekämpfung. Doch scheint auch hier jedes Land der EU die wirtschaftlichen Folgen auf eigene Weise bekämpfen zu wollen. Die Bundesregierung legt in dieser Woche ein umfangreiches Hilfsprogramm für die Wirtschaft auf. Keine Äußerung gibt es bislang zur europäischen Situation. Doch es ist nur zu deutlich, dass hier noch mehr als im medizinischen Raum sich die Frage der Solidarität stellen wird. In Italien und in Spanien wird der Tourismus mindestens noch im Sommer ausfallen. Italien war schon vor der Krise hochverschuldet und ist jetzt am stärksten betroffen, auch wirtschaftlich. Wie soll es dort weiter gehen? Eigentlich ist nur denkbar, dass eine gemeinsame Schuldengarantie ausgesprochen wird, ob sie nun Eurobonds heißen oder anders.

Europa steht also vor einer entscheidenden Zeit. Viele Programme haben in ruhigen Zeiten die Einheit und die gemeinsamen Werte Europas beschworen. Diese Werte müssen sich jetzt bewähren. Es muss in Deutschland deutlich werden, dass die Krise in Italien und in Spanien auch Teil der deutschen Krise ist, unabhängig von der besseren Ausgangslage Deutschlands. In der Krise dürfen nicht die „mentalen“ Grenzen hochgezogen werden, so dass man beginnt, allein nach nationalen Kategorien zu urteilen. Es ist deshalb dringend, dass eine gemeinsame europäische Stimme wieder vernehmbar wird. Das kann auch die Kommission nicht allein, auch nicht der Europäische Rat, es ist wichtig, dass in den kommenden Monaten die zivilgesellschaftlichen Kräfte die Bedeutung Europas hervorheben! Nur mit sichtbaren und nachhaltigen Zeichen der Solidarität kann für die EU eine langfristige Perspektive für die Zeit nach dieser tiefgreifenden Krise entstehen.

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Wer trägt die Schuld? Eine Warnung in der Corona Krise

Die Verhältnisse ändern sich in dieser Zeit rasend. Wir lernen Tag für Tag unsere Welt neu kennen. Das, was vertraut schien, wirkt mit einem Mal fremd, das, was sicher schien, ist in Gefahr. Alle spüren, dass sich etwas Grundlegendes ändert, etwas, das langfristige Wirkungen für das eigene Leben, aber auch für das Zusammenleben haben kann. Das größte Problem unserer Zeit ist nicht die aktuelle Not, sondern, dass wir inmitten in dieser Krise um das Corona Virus nicht wissen, wie es in der Zukunft weiter geht. Die Verunsicherung ist grundlegend: Ist die Gegenwart eine Ausnahmesituation, die in wenigen Wochen beendet ist? Setzt hier eine Leidenszeit an, die uns das kommende Jahr oder auch darüber hinaus begleiten wird? Soeben (17. März) hat das Robert Koch Institut angedeutet, dass die Corona Krise sogar noch zwei Jahre dauern kann. Angesichts der dramatischen wirtschaftlichen Bedeutung verheißt das für die absehbare Zukunft nichts Gutes. (Eine theologische Einordnung der Situation von Andreas Losch findet sich hier)

Das Bedürfnis nach Klarheit

Die Unklarheit und die Ungewissheit werden uns noch einige Zeit begleiten. In dieser Zeit entsteht ein starkes Bedürfnis, die Dinge zu deuten und sie so in den Griff zu bekommen. Das, was man benennen kann, was man deuten kann, ist auch potentiell beherrschbar. Klare Ursachenzusammenhänge und klare Wirkungszusammenhänge schaffen Orientierung. Sie bieten die Grundlage für Vertrauen. Nicht zuletzt sind deshalb in Krisenzeiten jene Politikerinnen und Politiker beliebt, die klare Ansagen machen. Man kann beobachten, dass diese Aussagen von Tag zu Tag dramatischer werden: „Wir sind im Krieg“ (Macron), „Es geht um Leben und Tod (Laschet). Ob diese Tendenz hilfreich ist? Die Grenze zur unnötigen Dramatisierung ist schnell überschritten. Dennoch wirken diese Aussagen, sie brauchen nicht positiv sein, aber sie erscheinen in ihrer Eindeutigkeit als etwas, auf das man vertrauen kann. Dieser Reflex ist natürlich, kann aber politisch sehr heikel sein. Krisenzeiten sind auch solche, in denen politische Autorität auf unangemessene Weise Macht gewinnen kann.

Schuldzuschreibung als scheinbare Klärung

Eine weitere Strategie, Orientierung zu gewinnen, ist die Schuld-Frage zu stellen. Wenn nun eine solch große Krise über uns kommt, wer trägt die Schuld? Wenn man die Schuldige, den Schuldigen ausmachen kann, ist wiederum etwas mehr Klarheit gewonnen. Diese Strategie ist in der Vergangenheit immer und immer wieder auf desaströse Weise missbraucht worden. Schuld hat immer der Gegner, der Feind, der andere. Und so deutet es sich heute auch wieder an. Wir leben zwar im 21. Jahrhundert, die Reflexe sind aber auch heute genauso wie in früheren Zeiten. Die chinesische Regierung legt nahe, dass das Virus möglicherweise von einem US-amerikanischen Bürger in das Land gebracht worden sei. Der amerikanische Präsident redet von einem „ausländischen“ Virus. Die deutsche Regierung verbietet heute Flüge von China nach Deutschland, heute, wo mehr aktuell Infizierte in Europa leben als in China. In Italien wird breit darüber diskutiert, ob der wichtige Patient „0“, der das Virus nach Italien gebracht hat, aus Bayern stammt. Die polnische Regierung schottet sich gegenüber den Deutschen ebenso ab wie die deutsche Regierung gegenüber den Franzosen aus dem Elsass.

Man ahnt, wie die Diskussion weiter gehen kann. Wenn die Schäden steigen, wird der Reflex eher größer werden als kleiner. Das hat auf die Dauer eine desaströse Wirkung auf die internationalen Verbindungen. Vorwürfe, die hin und wieder erklingen, sind nicht entscheidend. Entscheidend ist die Bereitschaft, nach einem Schuldigen zu suchen. Nüchtern betrachtet wird man wohl von einer Verkettung unglücklicher Umstände, von einer multifaktoriellen Entwicklung reden müssen. Doch das will in Krisenzeiten kaum noch jemand wissen. Denn es hieße, sich mit dem eigenen Anteil an der Entwicklung auseinander zu setzen.

Ist die Krise ein Strafgericht Gottes?

Es gibt auch eine religiöse Variante der Schuldzuschreibung. Dann ist Gott der Verursacher, die Virus Krise ist dann so etwas wie eine Strafe für Fehlverhalten. Schuldig sind jene Menschen, die von dem rechten Weg abgekommen sind. Diese Interpretation ist ebenso problematisch, wie der Versuch, den Schuldigen bei fremden Mächten zu suchen. Doch darüber hinaus ist dieser Versuch, die Sünder zu identifizieren, die die Ursache der Krise sind, theologisch falsch. In der Rede von Gott spielt es eine entscheidende Rolle, wie man selbst auf die Sache schaut. Wer selbst betroffen ist und die Widerfahrnisse auf seine Beziehung zu Gott reflektiert, tut etwas, was jeder religiöse Mensch in der einen oder anderen Weise immer tut: Man steht vor Gott, kann sein Anliegen zum Ausdruck bringen, in Bitten, Klagen, im Dank. Aber dann hat man keinen Zugang zu einem Masterplan, man kann nicht die Perspektive Gottes einnehmen. Himmelweit davon entfernt aber ist es, scheinbar „objektiv“, „neutral“ auf das Geschehen zu blicken, in gewisser Weise Gott über die Schulter zu schauen. Das ist verbunden mit der Haltung, mindestens so viel zu wissen wie Gott. Diese Haltung steht uns Menschen aber in keiner Weise zu, weil wir allesamt endliche Wesen sind, die manches verstehen, vieles aber eben auch nicht. Wir sind mitten in den Geschehnissen, wir haben keinen Überblick. Es ist wie in der Politik: Wer sich anmaßt, den Überblick zu haben, überschreitet Grenzen. In religiösen Fragen ist die Überschreitung in gewisser Weise noch schlimmer: Wer in dieser Haltung auf die Geschehnisse der Welt blickt, spricht sich eine göttliche Weitsicht zu, kennt Gut und Böse und kann die Schuldigen genau ausmachen. Christlich ist eine solche Haltung nicht.

Resilienz durch Erfahrungen der Verbundenheit

Was bleibt? Wir müssen gerade auch in Krisenzeiten aushalten, dass wir nicht den Überblick haben. Kein Mensch kann vorhersehen, wie es weiter geht. Das gilt für die Verheißungspropheten ebenso wie für die Untergangspropheten. Das gilt besonders für diejenigen, die irgendwo die Schuldigen suchen. Mit Sicherheit gibt es viele Faktoren, die die Entwicklung befördert haben. Schuldzuweisungen versprechen nur eine vorläufige und nur eine scheinbare Sicherheit. Vielmehr kommt es darauf an, den Blick nach vorne zu richten: Wer kann was tun, um die Krise zu mildern. Christinnen und Christen können in Klage und Bitte und auch im Dank für die Dinge, die uns trotz allem geschenkt sind, reagieren. Sie maßen sich damit nicht an, Weltrichter zu spielen. Sie haben aber vielleicht die Fähigkeit, die schwierigen Situationen in dem Grundvertrauen zu durchstehen, dass sie auch in der Krise nicht allein sind. Die Verbundenheit zu Gott und damit auch die Verbundenheit zu den anderen Menschen bricht auch in einer Krise nicht ab. Sie ist gerade in der Krise einerseits eine Quelle der Beruhigung und der Bestätigung, sie ist andererseits auch immer eine Aufforderung, sich für das Menschenmögliche, für jene Verbesserungen einzusetzen, die unsere Welt auch in schweren Zeiten lebenswerter machen!

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