Kann Moral schädlich sein?

Die Frage mutet eigentümlich an: Üblicherweise ist Moral in der öffentlichen Diskussion eine begehrte Ressource. Je stärker die eigene Position moralisch abgesichert werden kann, desto besser. Wer zeigen kann, dass die eigene Position sich als moralisch begründet, ja moralisch gefordert darstellen lässt, ist im Vorteil.

Moralische Forderungen sind notwendig

Ist das nicht auch gut so? Ist es nicht erforderlich, dass moralische Werte wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Selbstbestimmung usw. in gesellschaftlichen politischen Debatten möglichst viel Aufmerksamkeit finden? Was sollte dagegensprechen? Alles, was diese Werte fördert und vergrößert, ist gut.

Moralische Forderungen führen aber nicht automatisch zu moralischem Handeln

Es gibt aber ein grundlegendes Problem: Nicht alle moralischen Forderungen stärken die Moral im Handeln. Es gibt keinen Automatismus zwischen der Proklamation der Werte und ihrer Umsetzung. Nicht jeder und jede, die, der das Gute im Munde führt, stärkt auch eine gute Sache.

Lügen sind oft leicht durchschaubar

Dabei geht es hier nicht um eine bewusste Lüge oder Verstellung. Diese Möglichkeit ist Menschen immer gegeben: Dass sie das eine sagen, das andere aber tatsächlich wollen. Dass sie Gerechtigkeit im Munde führen, sich aber Zielen mit größerer Ungerechtigkeit verschreiben. Aber oft können solche Positionen auch schnell durchschaut werden. Mit genügenden Informationen können aber andere Menschen das böse Spiel erkennen und die Haltung verurteilen.

Moral unterschätzt die Eigenständigkeit der kulturellen und ökonomischen Kräfte

Es geht hier vielmehr um jene, die subjektiv den Eindruck haben, ihre Position sei tatsächlich moralisch und sie mit großer Aufrichtigkeit vertreten. Aber eine Konzentration auf den moralischen Anspruch legt oft nicht genügend Rechenschaft darüber ab, ob das moralisch Vorzügliche auch umgesetzt werden kann. Sie ignorieren, dass dem moralisch Vorzüglichen widrige politisch-kulturelle Kräfte entgegenstehen, die sich nicht einfach mit Empörung beseitigen lassen. Der Soziologe Hans Joas stellt mit Bezug auf das moralische Engagement der Kirchen fest: „Mit der Konzentration auf Moral wird aber nicht nur der Eigencharakter des Religiösen verfehlt, sondern auch der des Politischen.“ (Kirche als Moralagentur, S. 64) Dadurch aber kann eine starke Betonung der Moral eine politische Position schwächen, statt ihr zu nützen.

Beispiel Klimadiskussion

Nehmen wir als Beispiel die Diskussion um das Klima. Seit über 50 Jahren, seit der Veröffentlichung des Berichts des Club of Rome ist die Ahnung einer nahenden Katastrophe in der Öffentlichkeit. Vieles haben wir seitdem dazu gelernt, aber die Grundaussage war von Beginn an richtig: Wenn der Mensch weiterhin Raubbau an der Erde, an der Ökosphäre begeht, wird sie zerstört werden. Nun sind wir 50 Jahre weiter, können die Gefahren viel präziser beschreiben, erleben auch schon starke Auswirkungen, etwa durch die Erhöhung der Welttemperatur. Doch unser alltägliches Handeln hat sich kaum darauf eingestellt. Viele Menschen fahren Auto, fliegen gern, leben in großen Wohnungen, kaufen sich energieintensive Güter. Die allermeisten stimmen aber sofort zu, wenn sie gefragt werden, ob es wichtig sei, den Klimawandel zu begrenzen. Offenkundig geht beides gut zusammen: Der allgemeine moralische Anspruch und das konterkarierende alltägliche Verhalten.

Die kritische Frage an eine ganze Generation

Diese Frage muss sich eine ganze Generation stellen: Warum sind die Aufbrüche der 90er Jahre (die UN Konferenz von Rio de Janeiro 1992, die Diskussion um die Agenda 21, lokale Agenden etc.) so wenig ertragreich gewesen? Die moralischen Forderungen waren da. Viele Initiativen entstanden, die Umweltverbände wuchsen und gewannen an Macht. Warum ist die Zahl der Fernflüge seitdem explodiert, sind die produzierten Automobile immer schwerer geworden, statt kleiner und leichter?

Aussagestarke Bilder

Wer das Problem moralisiert, macht es sich offenkundig zu einfach und bekommt nicht die widrigen Kräfte in den Blick. Diese Kräfte sitzen offenkundig tief in den bewussten und unbewussten kulturellen Wahrnehmungsmustern. Nachrichten über einen wirtschaftlichen Aufschwung werden auch heute gerne mit dampfenden Schloten bebildert. Bilder eines glücklichen Urlaubs zeigt Menschen an Südseestränden. Auch die viel gepriesenen E-Autos sind groß und schwer und rasen in Werbebildern durch eine offene Ebene.

Kulturelle Prägungen, ökonomische Interessen

Eine Arbeit an dem Problem müsste also sich der Frage widmen, wie die widrigen Kräfte überwunden werden können. Diese Kräfte aber sind kulturelle Prägungen einer großen Zahl von Menschen in Tateinheit mit handfesten politischen und ökonomischen Interessen. Hinzu kommen soziale Verwerfungen, die die Moral nicht abbilden kann: Manchen Menschen fällt es bei den sehr ungleichen Vermögen leichter, sich umweltbewusst zu geben als anderen, die weniger Geld zur Verfügung haben. Eine einfache Moralisierung lässt all dies unberührt und so bleibt das alltägliche Verhalten  neben dem allgemeinen moralischen Anspruch bestehen. Das eigentlich Gewünschte, die Veränderung des Verhaltens, bleibt aus.

Fragen zu Lützerath

Die Demonstration heute (Samstag, 14.2.) in der Nähe von Lützerath führt allen vor Augen, wie dramatisch die Auseinandersetzung um den noch benötigten Umfang des Braunkohleabbaus ist. Lützerath ist ein Symbol geworden für die Auseinandersetzung um die zukünftige Energieversorgung.

Die Eckpunktevereinbarung mit RWE

Im Mittelpunkt steht die Eckpunktevereinbarung, die Bundesregierung und Landesregierung NRW mit der RWE Konzern Mitte des Jahres geschlossen haben. Diese Vereinbarung sollte eigentlich eine positive Botschaft aussenden: In NRW soll der Ausstieg aus der Braunkohleförderung um 8 Jahre von 2038 auf 2030 vorgezogen werden. Die Vereinbarung beinhaltet eine Rechnung, wie ein vorzeitiger Ausstieg gelingen kann. Hierbei hat das so genannten Osterpaket der Bundesregierung von 2022 eine große Bedeutung, das den konsequenten Ausbau von regenerativen Energien vorsieht. Nur wenn dieser Ausbau geschieht, dann ist es möglich, den Ausstieg aus der Braunkohle um 8 Jahre vorzuziehen.

Die Kritik an der Vereinbarung

Nun steht die Vereinbarung mit dem RWE Konzern im Mittelpunkt der Proteste in Lützerath. Kritische Stimmen wie die des BUND und andere stellen alternative Rechnungen an, die einen viel schnelleren Ausstieg aus der Braunkohleförderung als möglich ansehen. Die Demonstrierenden fordern deshalb eine Revision der Vereinbarung und einen früheren Ausstieg.

Warum der Protest um die Vereinbarung?

Aber ist der skizzierte Streitpunkt aber wirklich so relevant wie es die dramatischen Bilder nahe legen? Stellt er nicht eher einen Nebenschauplatz dar? Es geht doch im Kern um die Bekämpfung des Klimawandels, um die Reduktion von CO2 Emissionen. Diese Reduktion wird möglich, indem klimaschädliche Energiequellen wie die Braunkohle, aber auch Schwarzkohle, Öl und Gas, so schnell als möglich reduziert werden. Das ist unstrittig.

Die Auseinandersetzung, die unsere Zukunft entscheidet

Die eigentlichen Felder der Auseinandersetzung, um dieses Ziel zu erreichen, sind genau zwei: Einerseits muss alles getan werden, um den Ausbau regenerativer Energien voranzutreiben. Andererseits muss alles getan werden, um den Energieverbrauch zu reduzieren. Von diesen beiden Seiten kann der Verbrauch klimaschädlicher Energiequellen und die Produktion von CO2 reduziert werden.

Szenario 2028

Nun nehmen wir einmal in der besten aller Welten an, es wäre möglich weit mehr und schneller als im Osterplan der Bundesregierung vorgesehen regenerative Energiequellen zu erschließen. Und nehmen wir an, es gelänge wirklich, unseren Energieverbrauch in der kommenden Zeit stark zu senken. Dann könnten wir vielleicht im Jahr 2028 feststellen, dass für die Energieversorgung in Deutschland Braunkohle nicht länger notwendig ist. Wer glaubt, angesichts der bis dahin weiter voranschreitenden Belastungen durch den Klimawandel, dass eine Bundesregierung dann für die Verfeuerung von Braunkohle eintritt, nur weil es in einer Vereinbarung von 2022 festgehalten ist?

Hindert die Vereinbarung den Ausbau regenerativer Energien? Das wäre vielleicht denkbar, wenn billige Braunkohle den Ausbau bremst. Hier müssen die Instrumente wie CO2 Besteuerung viel stärker zum Zugen kommen als bislang geplant. Dann steigen die Preise für Braunkohle und werden wirtschaftlich unrentabel, auch für RWE.

Was ist eine Vereinbarung?

Vereinbarungen und Verträge kann man bekanntlich kündigen. Ja, dann würde RWE klagen und müsste entschädigt werden. Dadurch entsteht ein Schaden. Deshalb sollte RWE nicht durch unbedachte Verträge in eine zu gute Position versetzt werden. Aber es ist ein finanzieller Schaden, keiner der den Klimawandel betrifft. Solche Entschädigungen sind immer wieder vorgekommen. Etwa auch beim vorgezogenen Atomausstieg. Nach der Katastrophe von Fukushima wurde der Ausstieg in kürzester Zeit politisch durchgesetzt. Die Firma UNIPER hat in kürzester Zeit ihr Geschäftsfeld durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine verloren. Dann ist der Staat eingetreten. Die Interventionen des Staates in privatwirtschaftliche Verhältnisse sind seit 2020 sehr zahlreich. Das alles ist teuer, aber nicht unmöglich. Die Diskussion im Jahr 2028 um den Klimaschutz wird noch viel heftiger sein als heute. Welche politische Partei würde es durchsetzen, wegen alter Verträge der Allgemeinheit massiven Schaden zuzufügen?

Deshalb ist die Konzentration auf den Vereinbarung mit dem Konzern RWE sehr fragwürdig, weil sie von den eigentlichen Feldern der Auseinandersetzung ablenkt: Der Ausbau regenerativer Energien und die Einsparung beim Energieverbrauch. Das und nur das reduziert CO2 Emissionen. Hier entscheidet sich, wie die Zukunft aussieht. Hier muss mobilisiert und müssen alle Kräfte konzentriert werden. Der Klimawandel schreitet voran, die Maßnahmen werden immer dringlicher.

Was ist Vertrauen?

In dieser Reihe geht es um das Thema Vertrauen in gesellschaftlichen Krisenzeiten. In Krisenzeiten sind grundlegende Formen des Vertrauens gefährdet. Dabei ist Vertrauen ist eine grundlegende Dimension menschlicher Existenz, ohne die vieles andere auch gefährdet ist. 

Vertrauen in die Umwelt

Menschen sind leibliche Wesen, sie brauchen Luft, Wärme, Flüssigkeit und Nahrung, um zu überleben. Jeder Mensch muss sich darauf verlassen, dass seine Umgebung diese Versorgung auch ermöglicht. Wir sind auf unsere Umwelt angewiesen, das erleben wir gerade jetzt, am Ende einer langen Periode der Ausbeutung fossiler Energien auf drastische Weise. Die Natur verändert sich durch unsere Eingriffe, sie wird bedrohlicher. Das ist auch für moderne Gesellschaften eine elementare Störung, weil Vertrauen immer auch Weltvertrauen ist.

Das soziale Miteinander lebt von Vertrauen

Menschen sind soziale Wesen, sie sind als endliche und bedürftige Wesen von Beginn des Lebens aufeinander angewiesen. Natürlich kann man sich im Idealfall einen Menschen vorstellen, der sich als Erwachsener völlig von der Gesellschaft isoliert und autark lebt. Das gilt jedoch nie für das gesamte Leben. Alle Menschen müssen ausnahmelos von anderen Menschen gezeugt, geboren, erzogen und behütet werden, bis sie dann im späteren Leben möglicherweise zur Selbstversorgung in der Lage sind. Die Menschheitsgeschichte ist auch die Geschichte einer zunehmenden sozialen Vernetzung. Das soziale Miteinander kompensiert nicht einfach nur Mängel, es setzt in den Kulturen einen großen Reichtum frei.

Vertrauen geht über Kontrolle hinaus

Die gegenseitige Abhängigkeit und die Unfähigkeit einzelner, ihre Beziehungen zur Umwelt, zu anderen Menschen vollständig zu kontrollieren, zeigen die grundlegende Bedeutung von Vertrauen. Wenn ich nicht alles kontrollieren kann, muss ich einfach darauf vertrauen, dass ich auch morgen satt werde, dass mir nahestehende Menschen nichts Böses wollen.

Eine Welt ohne Vertrauen ist kalt

Angenommen, die Kompensation wäre nicht mehr notwendig, angenommen es wäre einzelnen Menschen möglich, eine vollständige Kontrolle über ihre Versorgung und auch über die Entstehung von Nachkommen zu erlangen, so wäre diese Welt einer kontrollierten Sicherheit dennoch eine Horrorvorstellung. Alles wäre kalt und auf Funktionen reduziert. Vertrauen erst macht die menschliche Welt warm, erst sie lässt zwischenmenschliche Beziehungen reich werden und über sich selbst hinaus streben.

Vertrauen ist eine positive Kraft

Vertrauen ist nämlich nicht Ausdruck einer Strategie mit den eigenen Mängeln umzugehen. Als Kompensationsstrategie wäre Vertrauen nicht angemessen erfasst. Denn das Vertrauen ist eine positive, eine gestaltende Kraft. Menschen haben die Begabung, anderen Menschen zu vertrauen. Dies zeigt etwa auch die Redewendung „jemandem Vertrauen schenken“.  Hier zeigt sich eine Stärke, die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung möglich macht und bereichert.

Vertrauen ist immer gefährdet

Vertrauen ist nie von Sicherheit und Eindeutigkeit bestimmt. Das unterscheidet es fundamental von der Kontrolle. Vertrauen ist nicht ohne Risiko. Vertrauen kann ebenso gewonnen wie verloren werden. Es gibt beim Vertrauen eine grundlegende Asymmetrie, die wir alle kennen und auch schon erfahren haben: Vertrauen kann schnell zerstört werden, lässt sich aber nur langsam aufbauen. Das macht das Vertrauen gerade in gesellschaftlich krisenhaften Zeiten zu einer so kostbaren Größe.

Die große Anfrage an moderne Gesellschaften

Moderne Gesellschaften leben wie jede menschliche Gesellschaft von Vertrauen.  Stabile Vertrauensverhältnisse über die geteilte Lebenswelt vermittelt. Ich traue den Menschen, mit denen ich auf geraume Zeit zusammenlebe. Die starke Verunsicherung des gesellschaftlich vermittelten Vertrauens hat auch mit der Gestalt moderner Gesellschaften zu tun. Hier wird Vertrauen schnell zu einer prekären Größe, weil sie nicht mehr über traditionelle Formen sozialer Verbundenheit stabilisiert werden kann. In einer Krise, also in einer Situation, in der die eingeübten gesellschaftlichen Abläufe und Systeme nicht mehr so einfach fortgesetzt werden können, ist das Vertrauen schnell gefährdet und in besonderer Weise herausgefordert. Komplexe Gesellschaften leben aber von einer erheblichen Vertrauensbereitschaft. Vertrauenskrisen treffen moderne Gesellschaften unmittelbar.

Zur Einführung zum Thema Vertrauen und zu weiteren Beiträgen

Warum Vertrauen? Eine kleine Einführung

Mit diesem Blogbeitrag beginne ich eine Reihe, die sich mit dem Phänomen „Vertrauen“ auseinandersetzt. Warum „Vertrauen“? Vertrauen ist eine grundlegende Dimension menschlicher Existenz. Es ist grundlegend für alle zwischenmenschlichen Beziehungen, soziale Formen können ohne ein Mindestmaß an Vertrauen nicht existieren. Es geht dabei nicht nur um das Vertrauen, das ein Mensch zu einem anderen haben kann. Es geht vielmehr auch um das Vertrauen in zwischenmenschliche Strukturen, in Formen der Verbundenheit. Das können mehr oder weniger formale Strukturen sein, Nachbarschaften, Freundeskreise auf der einen Seite, Staat und Kommunen, Vereine, Parteien, Kirchen auf der anderen Seite. Wenn wir uns auf soziale Beziehungen einlassen, müssen wir ihnen gegenüber auch Vertrauen haben: Vertrauen, dass ein Wort gilt, Vertrauen, dass eine Regel gilt, Vertrauen, dass eine Zusage gilt. In eine kurze Formel gefasst: Vertrauen ist der Kitt menschlicher Gesellschaften.

Aktuelle Signale des Mißtrauens

Vieles deutet nun darauf hin, dass diese grundlegende menschliche Erfahrungsdimension in der kommenden Zeit in unserer Gesellschaft an vielen Stellen besonders herausgefordert, besonders gefährdet ist. Viele aktuelle Debatten zeigen, wie brüchig bislang zweifelfreies Vertrauen heute schon ist. Das zeigt sich auf der einen Seite in der Bereitschaft, Verschwörungstheorien zu folgen, die ja immer auch ein starker Ausweis von Misstrauen sind, das zeigt sich aber auch auf der anderen Seite in dem Unwohlsein, ob es vielleicht untergründige gesellschaftliche Bewegungen gibt, die das Ganze gefährden, wenn etwa „Volksaufstände“ befürchtet werden.

Eine Gesellschaft „im Stress“

Vertrauen als eigenständiges Thema gerät schnell in den Hintergrund, wenn das Leben „in geregelten Bahnen“ verläuft, wenn die nahen Menschen sich verlässlich zeigen, wenn die gesellschaftlichen Systeme funktionieren, wenn die Bedürfnisse weitgehend befriedigt werden können, kurz, wenn wir uns „aufgehoben“ fühlen. Das aber ändert sich in Krisenzeiten. Krisenzeiten führen zu vielfältigen Verunsicherungen und damit auch zur Belastung von Vertrauensstrukturen.

Wir bewegen uns nun nach einer längeren Phase der Beständigkeit und Konsolidierung in Deutschland (die Zeit nach der Finanzkrise 2008) aktuell auf eine Zeit multipler Krisen zu: die Pandemie, der Krieg, die Inflation, die Energieversorgung. Die Gesellschaft gerät in eine erhebliche Stresssituation. In diesen Zeiten zeigen sich jene gesellschaftlichen Risse deutlicher, die schon vorher da waren, die aber nicht so stark wahrgenommen wurden. Da Vertrauen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen sich ganz unterschiedlich zeigen kann, macht es Sinn, die Bereiche gesondert zu betrachten. Genau das soll in den folgenden Blogbeiträgen geschehen.

Die Linkliste zu den einzelnen Beiträgen findet sich unter diesem Artikel.

Die Wirtschaft:

Hier sind die Anlässe ein Schwinden des Vertrauens besonders vielfältig: Können wir unserer Währung noch vertrauen? Kann ich noch der Rentenzusage vertrauen? Können wir noch einem allgemeinen Versprechen einer Wohlstandssteigerung vertrauen, die in den vergangenen Jahren so unhinterfragt zu gelten schien? Können wir vertrauen, dass es in der Gesellschaft in der Verteilung zumindest einigermaßen gerecht zugeht?

Die nationale Politik:

Umfragen zeigen eine wachsende Entfremdung vieler Menschen gegenüber den politischen Parteien aus sehr unterschiedlichen, manchmal gegensätzlichen Gründen. Kann die Politik wirklich die sozialen Verwerfungen und Ungerechtigkeiten verhindern, die durch die Krisenhäufung drohen? Hat die Politik wirklich den Willen, die notwendige ökologische Transformation mit allen Konsequenzen zu gestalten?

Die internationale Politik:

Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine vertraut Russland im Westen niemand mehr. Aber wie ist es mit China, mit dem Iran, mit Katar, Saudi-Arabien? Diese Reihe ließe sich mühelos fortsetzen.

Die Wissenschaft:

Impfgegnern zweifeln an der Wirksamkeit der Impfstoffe, andere vermuten Inszenierungen oder bösartige Geschäftsideen. In der Corona Pandemie zeigt sich aber nur, dass das Misstrauen vieler Menschen in die evidenzbasierte, wissenschaftliche Medizin schon in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsen ist.

Führende Medien:

Gerade in diesem Jahr wurden etliche Skandale in den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten aufgedeckt und intensiv diskutiert. Aber auch die digitalen Medien sind in einer Vertrauenskrise, der Kauf von Twitter durch Elon Musk irritiert, der erratische Kurs von Zuckerberg mit dem Meta Projekt verstört die Nutzerinnen und Nutzer. Hinzu kommt eine Kommunikation, wo eine Aufregung die andere jagt, oft bleibt undeutlich, was davon Fake oder fakt ist.

Die Kirchen:

Insbesondere in der katholischen Kirche wächst mit jeder Missbrauch-Nachricht das Misstrauen. Das Misstrauen breitet sich ökumenisch aus, der Institution Kirche werden unabhängig der Konfession verdeckte, selbstbezogene Interessen zugesprochen.   

Die Kultur:

Welche kulturellen Traditionen sind akzeptabel, welche dagegen sind nur Begleiterscheinungen einer auf Unterdrückung anderer ausgerichteten kolonialen Kultur? Was transportiert die herkömmliche Sprache, welche Aussageformen sind zulässig, welche zu meiden? Wer sagt was und wie? Die Sprache wird immer mehr zu einem Feld der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Die Diskussion um die Documenta 15 hat jenseits der konkreten Vorwürfe gezeigt, wie schnell Misstrauen auch in der internationalen Kulturszene entstehen kann.

Der Sport:

Gerade in seinen internationalen Erscheinungen ist der Sport immer stärker mit intransparenten Geschäftsideen verflochten. Warum finden die Großereignisse in diesem, nicht in jenem Land statt? Durch die weltweite Aufmerksamkeit sind diese Großereignisse mit viel Geld verknüpft. Eine Missbrauchsdebatte bahnt sich hier erst gerade an.

Die zwischenmenschlichen Beziehungen: In einer hoch individualistischen Gesellschaft ist zwischenmenschliches Vertrauen stets eine herausgeforderte Größe, sofern sie vertragliche Verhältnisse überschreitet. Wie verbindlich ist eine Zusage, wie tragfähig diese Freundschaft, bewährt sich jene Beziehung auch morgen noch? Ist eine Gemeinschaft auf Dauer gestellt oder zerfällt sie schon in kürzerer Zeit?

Es gibt also viel Diskussionsstoff zum Thema Vertrauen! Bevor die einzelnen gesellschaftlichen Bereiche näher betrachtet werden, soll in dem kommenden Beitrag gefragt werden, warum wir Menschen ohne Vertrauen nicht auskommen können, warum es ein so grundlegendes menschliches Bedürfnis ist.

Vertrauen in der Philosophie

Vertrauen in der Wirtschaft

Vertrauen in der Politik

Vertrauen in die Wissenschaften

Energiearmut – was bedeutet das?

Russland hat nun die Gas Pipelines stillgelegt. Welche Folgen hat das für unseren Lebenswandel, für unsere Gesellschaft? Das ist tatsächlich sehr schwer abzuschätzen. Denn wir leben in einer modernen, vielfach vernetzten, hochkomplexen Gesellschaft. Wer die Diskussionen in diesen Tagen verfolgt, spürt die Unsicherheit in der Gesellschaft, eine Unsicherheit nicht nur über die Tagespolitik oder den kommenden Winter, sondern auch über die mittel- und langfristigen Wirkungen.  

Ein Wort zu den Fehlern der Vergangenheit

Vor der Abschätzung der gegenwärtigen Lage ein Wort zu den drastischen Fehlern der Vergangenheit, die uns in die heutige Lage gebracht haben. Der erste Fehler war offenkundig, sehr stark auf einen politisch äußerst schwierigen Energieexporteur Russland zu setzen. Der Reiz der leichten und preiswerten Energieversorgung, die nicht ganz so klimaschädlich ist wie Kohle, war zu groß. Preiswerte Energie ist für ein Hochindustrie- und Exportland von großer Bedeutung, es senkt die Produktionskosten. Der zweite mindestens ebenso große Fehler war, dass der Ausbau der Energiegewinnung der Zukunft, der regenerativen Energien in den 10er Jahren massiv vernachlässigt worden ist. Der Ausbau der Photovoltaik brach zu Beginn des Jahrzehnts ein, der Ausbau der Windenergie in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts. Stattdessen wurde auch angesichts der offen aggressiven Politik Russlands Nordstream 2 beschlossen und zügig gebaut.

Unsere aktuelle Situation

Nun also liegt eine Zeit der Energiearmut vor uns, Deutschland muss mit weniger Energie auskommen. Die relative Energiearmut wird auch eine geraume Zeit anhalten. Die Anteile der Energieversorgung aus Russland war noch 2021 erheblich. Die Zufuhr von russischer Kohle und von russischem Öl wurden schon durch die Sanktionen zuvor gedrosselt. Unter den Primärenergieträgern hat Erdgas in etwa den Anteil von einem Viertel der Gesamtversorgung. Davon wiederum die Hälfte war bis zum letzten Jahr Gas aus Russland. Dieser Anteil ist in den letzten Tagen fast auf Null gefallen.

Die Besonderheit der Erdgasversorgung

Wenn eine Energieexporteur wie Russland nicht mehr zur Verfügung steht, ist es natürlich möglich, ihn durch andere zu ersetzen. Das ist bei Kohle und Öl auch recht leicht möglich. Für beide Energieträger gibt es ausgebaute weltweite Handelsstrukturen, es gibt einen Weltmarkt, auf dem weitere Käufe möglich sind. Die Infrastruktur für die Versorgung ist flexibel, Züge und Schiffe transportieren Kohle und Öl an nahezu beliebige Orte. Die Reduktion von russischem Öl und von russischer Kohle wird auch kaum diskutiert. Das ist allerdings bei Erdgas anders. Größere Mengen lassen sich als Flüssiggas transportieren oder durch Röhren senden. Die Umwandlung in Flüssiggas ist kompliziert und erfordert wiederum eine größere Logistik und Infrastruktur. Deutschland hat in der Vergangenheit auf die Versorgung durch Röhren gesetzt. Röhren lassen sich aber nicht schnell verlegen oder neu legen. Insofern ist das System viel starrer als bei Kohle und Öl. Das heißt: Erdgas kann erstens nicht so schnell ersetzt werden nd zweitens wird jeder Ersatz teurer und führt zu einer Verteuerung der Energieversorgung.

Akuter Energiemangel, höhere Preise

Energiearmut kann sich in akutem Energiemangel und in höheren Preisen äußern. Wenn ein eklatanter Energiemangel entsteht, wirkt das unmittelbar auf die hochkomplexen Versorgungssysteme zurück. Reicht die Energie oder fallen bestimmte Teile des Versorgungssystems im Winter aus? Die Bundesnetzagentur berät ja auch über Notfallpläne, um möglichen Schaden zu reduzieren. Eine akute Unterversorgung ist eine reale Gefahr. Dann potenziert sich der Schaden. Die aktuelle Preisentwicklung, die exorbitanten Steigerungen haben vor allem mit Ungewissheit und Spekulation zu tun, ob ein solcher eklatanter Mangel eintritt.

Was tun?

Gegen einen solchen drohenden Versorgungsausfall gibt es zwei Maßnahmen: Energie einsparen und Energie substituieren. Ersteres ist die beste aller Möglichkeiten. Sie hat positive Effekte auf den Klimawandel, sie schafft vielleicht dauerhaft ein verändertes Verhalten im Alltag, sie hilft durch verringerte Nachfrage zu einer Preissenkung. Die zweite Maßnahme verhindert auch einen akuten Ausfall, sie führt aber auch zu deutlich höheren Kosten. Und sie kann nicht so schnell zum Zuge kommen, weil Gas in der Infrastruktur nicht einfach durch Öl oder Kohle zu ersetzen ist.

Trotz aller Maßnahmen ist Energiearmut unausweichlich

Beide Maßnahmen aber können eine Energiearmut nicht verhindern, nur lindern. Wir werden nicht so schnell alternative Energiequellen im ausreichenden Umfang erschließen können. Welche Folgen hat das jenseits der katastrophischen Szenarien? Auf jeden Fall wird die verfügbare Energie auf lange Sicht deutlich teurer, auch mit einer LNG Gas Infrastruktur. Schon das hat erhebliche Auswirkungen auf das Industrie- und Exportland Deutschland. Die Produktion von energieintensiven Gütern wird unter Druck geraten. Die erhöhten Preise werden wirtschaftliche Verwerfungen zur Folge haben. Der einzige langfristige Ausweg daraus ist langfristig nur der radikale Ausbau erneuerbarer Energiequellen. Aber das dauert viele Jahre.

Gegen idealistische Tendenzen: Energie ist auch heute eine existentielle Grundgröße

In dieser Situation zeigt sich, dass Energieversorgung eine elementare Dimension auch einer hochmodernen Gesellschaft darstellt. Die Bundesregierung kann auch mit noch so viel Geld, Energie nicht ersetzen. Energie ist eine existentielle Grundgröße. Energiearmut ist deshalb auch eine bedrohliche Situation. Wir haben das lange unterschätzt. Da gibt es übrigens eine erkennbare Parallele zu unserem Verhältnis zur Landwirtschaft. Wir lebten viele Jahre in einem Energiereichtum, in einer Situation, in der Energie immer in größerem Umfang zur Verfügung stand als wir sie brauchten. Die gesellschaftlichen Diskussionen haben einen idealistischen Zug, sie unterschätzen die materiellen und damit auch energetischen Bedingungen des basalen Lebens (das gilt eigentümlicher Weise auch für die Börsen). Der richtige Wille und der erfinderische Geist machen aber nicht alles möglich. Wir waren zu leichtfertig, glaubten uns geschützt vor einer Energiearmut. Sonst hätten wir sonst den Ausbau regenerativer Energien viel entschlossener vorangetrieben.

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