Der Idealismus an den Börsen

Die wirtschaftliche Lage verdüstert sich zurzeit stetig. Früher hätte schon eine Botschaft ausgereicht, um erhebliche Turbulenzen auszulösen: die drastische Verteuerung und Verknappung der Energie insbesondere beim Gas, die rasch steigende Inflation, die bald vielleicht in Deutschland zweistellig werden kann, das Wegbrechen von Absatzmärkten in Russland, die Instabilität der Märkte in China, die Inflation in den USA usw. usf. Doch noch vor wenigen Tagen wurde in den Online Zeitungen, die die Börse beobachten, intensiv darüber debattiert, ob nun die Werte wieder stetiger steigen können, ob nicht eine längerfristige Rallye ansteht….

Die Börse als Ort der wahren Realisten?

Das ist komisch, vielleicht aber auch sehr bezeichnend, bezeichnend für eine bestimmte Haltung, einen bestimmten Umgang mit der Wirklichkeit in unserer Zeit. Diese Haltung weist über das Börsengeschehen hinaus, das hier als Indikator gelten soll für eine in der Gesellschaft verbreitete Geisteshaltung. Diese Haltung lässt sich meiner Ansicht nach aus guten Gründen als idealistisch bezeichnen. Das mag auf erstem Blick irritierend sein, weil ja gemeinhin mit Idealismus eine eher gesellschaftlich progressive, wertorientierte Deutung der Wirklichkeit gemeint ist und nicht die „Hyperrealisten“, die an den Märkten handeln.

Idealismus versus Materialismus

Der Idealismus steht klassischerweise, also in seinem Gebrauch im 19. Jahrhundert, in einem Gegenüber zum Materialismus. Was ist gewichtiger: Die materielle Gegebenheit der Wirklichkeit oder die eher (ideelle, kognitive) Kommunikation über sie? Die Phänomenologie nimmt an, dass beide miteinander verschränkt sind und beide berücksichtigt werden müssen. Deshalb kann und muss das eine immer auch als Korrektiv des anderen genutzt werden. Nehmen wir die materiellen Vorgaben der letzten Zeit, vor allem eine drastische Energiekrise, so wären die Börsen, die ja Zukunfts- und Erwartungswerte auf künftige wirtschaftliche Erfolge handeln, längst in einer tiefen Krise. Doch genau diese Parameter scheinen nur am Rande aufzutauchen. Im Zentrum steht dagegen die Kommunikationen über das Börsengeschehen selbst. Die Börsenkurse bewerten also vor allem die Kommunikation der Teilnehmenden am Börsengeschehen. Das lässt sich durchaus idealistisch nennen.

Die Märkte erkennen die Wirklichkeit

Dazu gibt es den ominösen Plural „die Märkte“. Die Regel ist einfach: Wenn die Märkte etwas positiv kommunizieren, dann ist es positiv. Wer sollte denn die Wirklichkeit besser deuten können als „die Märkte“? Ergo: Sind nur genügend viele Marktteilnehmenden optimistisch, so gibt es wirklich Grund für Optimismus. Es geht schlicht darum, Gewinnchancen zu identifizieren. In dieser Haltung konnten die schlechten Nachrichten der letzten Wochen und Monate aus der Realwirtschaft ignoriert werden. Erst in den letzten Tagen scheint sich das Blatt auch an den Börsen zu wenden.

Die Wirklichkeit ist mehr als die Kommunikation über sie

Warum ist die Börsenkommunikation interessant? Vielleicht zeigt sich hier ein Grundzug unserer Zeit: Wir neigen in der gegenwärtigen Gesellschaft dazu, die Kommunikation über etwas für wichtiger zu nehmen als das, worüber kommuniziert wird. Das ist sicherlich auch durch die wachsende Bedeutung der Kommunikation in den digitalen Medien beeinflusst. Allerdings ist der klassische Materialismus dann immer auch ein gutes Korrektiv. Es gibt Größen, die sind eben da oder sie sind nicht da. Sie weisen eine gewisse Widerständigkeit gegen eine beliebige Deutung auf. Zu diesen Größen gehört die Energie. Wenn Energie fehlt, geht vieles nicht mehr, auch die Kommunikation nimmt zwangsläufig ab. Die anstehende Energieknappheit kann uns lehren, dass eine intensivierte Diskussion um die Energie nicht ihre Knappheit beseitigt.

Konflikte im Schatten des Ukraine Krieges

Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine konzentriert sich die Aufmerksamkeit der westlichen Medien auf das Geschehen in der Ukraine. In deren Darstellung ist es ein Konflikt, bei dem Russland mit sehr wenigen Verbündeten auf der einen Seite der restlichen Welt auf der anderen Seite gegenüberstehen, angeführt von den Staaten des Westens. Die Verurteilung des Krieges gegen die Ukraine bei den Vereinten Nationen im März war deutlich, sie wurde von der weit überwiegenden Zahl der Mitgliedsstaaten getragen, von 141, während 35 sich enthielten und nur 5 Staaten die Verurteilung ablehnten.

Die Zurückhaltung vieler Länder des Südens

Doch im weiteren Verlauf zeigt sich immer mehr, wie zurückhaltend viele Staaten des Südens sind, sich offen auf die Seite des Westens zu schlagen. Was lässt die Staaten so zurückhaltend sein? Für manche bestehen engere Verbindungen zu Russland und vor allem zu China. Aber es gibt aber auch wichtige und intensive Beziehungen zu westlichen Staaten. Warum sollten sie also bei so offensichtlichem Unrecht nicht klar Position beziehen?

Der Krieg in der Ukraine ist doch eine Auseinandersetzung von demokratischen Ländern einer autokratischen Gewaltherrschaft. Das stimmt ohne Zweifel, wenn die bewaffnete Auseinandersetzung im Mittelpunkt steht. Aber die Länder des Südens haben noch einen zweiten Blick auf „den Westen“. Wenn der Blick die weltwirtschaftlichen Verflechtungen fällt, verschiebt sich die Deutung. Diese Verflechtungen sind aber im Schatten der Aufmerksamkeit.

Eine regelbasierte Weltordnung?

Die Vorbehalte des Südens haben nicht nur mit taktischen Positionierungen sondern auch mit tiefsitzenden Vorbehalten gegenüber den Staaten des Westens zu tun. Diese repräsentieren und führen ein Weltwirtschaftssystem, das Ungerechtigkeiten auf der Welt seit langer Zeit festschreibt. Die westlichen Staaten sind bis auf den heutigen Tag zugleich auch die Zentren wirtschaftlicher Macht, die größten Börsenplätze sind in London und New York.

Gerne wird die weltwirtschaftliche Struktur als regelbasierte Weltordnung, als freier Austausch von Waren und von Finanztransaktionen gedeutet. Doch hat das mit Demokratie wenig zu tun, eher mit dem Recht des Stärkeren. Die westlichen Länder unterschätzen notorisch ihre wirtschaftliche Macht und die Auswirkungen auf die globalen Beziehungen. Wenn es zu Interessenkonflikten kommt, haben die Interessen der Schwellenländer und die des globalen Südens das Nachsehen. Das ließ sich gut bei der Verteilung von Impfstoffen während der Corona Krise ablesen. Es gibt zwei gewichtige aktuelle Beispiele, die den Ländern des globalen Südens und den Schwellenländern zurzeit große Sorge bereiten.

Kapitalströme fließen aus Schwellenländern ab

Die westlichen Länder erleben eine erhebliche Inflation, die ihren inneren Frieden gefährdet. Die Notenbanken wie die US-amerikanische FED, die Bank of England und die EZB reagieren und heben den Leitzins zum Teil deutlich an. Das führt aber automatisch dazu, das große Kapitalströme aus den Ländern der Peripherie abgezogen werden, Investoren präferieren in unsicheren Zeiten die Anlagen in den Zentren des Weltwirtschaftssystems. Lang geplante Investitionen können in den Schwellenländern nicht mehr getätigt werden. Zudem: Deren Notenbanken müssen die Zinsen noch stärker steigen lassen, damit die Währungen nicht gänzlich instabil werden.

Auf dem LNG Weltmarkt haben die Schwellenländer das Nachsehen

Das zweite Beispiel betrifft den weltweiten Energiemarkt. Im Zuge der Reaktion auf die scharfen Wirtschaftssanktionen des Westens hat Russland die Energieexporte nach Europa stark gedrosselt. Die Länder der EU suchen händeringend nach Alternativen. Sie konzentrieren sich zunächst auf die schnellste Alternative, der Ersatz von Gas aus Transferröhren durch flüssiges Gas, LNG. Das lässt die Gaspreise für LNG drastisch steigen, denn die Förderung kann nicht so schnell ausgeweitet werden. Die EU Länder bedienen sich am Markt mit ihrer Kaufkraft, sie beziehen so viel LNG Gas wie möglich. In deutschen Medien werden Erfolge mit Erleichterung gefeiert. Doch führt das notwendigerweise zu einer Verknappung von Gas in jenen Ländern mit geringerer Kaufkraft, den Schwellenländern. Die Energiekrise erfasst auch sie, möglicherweise noch elementarer als die europäischen Staaten. (Handelsblatt)

All das findet im Schatten der medialen Aufmerksamkeit während des Ukraine Krieges statt. Die Terms of Trade der Weltwirtschaft wurden und werden maßgeblich von den Zentren Nordamerikas und Europas beeinflusst. In den letzten Jahren eines forcierten Wachstums konnten diese Bedingungen großzügiger ausgelegt werden. Doch wenn in den Zentren der Weltwirtschaft ein Engpass entsteht, wirkt sich das schnell zum Nachteil vieler Länder der Peripherie aus. Der Westen täte gut daran, diese Mechanismen auch zu benennen, statt diese kontinuierliche Machtasymmetrien als „regelbasierte Weltwirtschaft“ zu kaschieren.

Historische Kontinuitäten?

Zum Schluss eine irritierende Beobachtung: Die Staaten, die in der Auseinandersetzung mit Russland den Ton angeben, sind erstaunlich identisch mit den kolonialen Staaten der Vergangenheit, neben Großbritannien, die USA und führende europäische Staaten. Sind historische Kontinuitäten bei aller Betonung des Wirtschaftens in der Tagespolitik vielleicht wichtiger als viele im Westen glauben?