Die Frage mutet eigentümlich an: Üblicherweise ist Moral in der öffentlichen Diskussion eine begehrte Ressource. Je stärker die eigene Position moralisch abgesichert werden kann, desto besser. Wer zeigen kann, dass die eigene Position sich als moralisch begründet, ja moralisch gefordert darstellen lässt, ist im Vorteil.
Moralische Forderungen sind notwendig
Ist das nicht auch gut so? Ist es nicht erforderlich, dass moralische Werte wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Selbstbestimmung usw. in gesellschaftlichen politischen Debatten möglichst viel Aufmerksamkeit finden? Was sollte dagegensprechen? Alles, was diese Werte fördert und vergrößert, ist gut.
Moralische Forderungen führen aber nicht automatisch zu moralischem Handeln
Es gibt aber ein grundlegendes Problem: Nicht alle moralischen Forderungen stärken die Moral im Handeln. Es gibt keinen Automatismus zwischen der Proklamation der Werte und ihrer Umsetzung. Nicht jeder und jede, die, der das Gute im Munde führt, stärkt auch eine gute Sache.
Lügen sind oft leicht durchschaubar
Dabei geht es hier nicht um eine bewusste Lüge oder Verstellung. Diese Möglichkeit ist Menschen immer gegeben: Dass sie das eine sagen, das andere aber tatsächlich wollen. Dass sie Gerechtigkeit im Munde führen, sich aber Zielen mit größerer Ungerechtigkeit verschreiben. Aber oft können solche Positionen auch schnell durchschaut werden. Mit genügenden Informationen können aber andere Menschen das böse Spiel erkennen und die Haltung verurteilen.
Moral unterschätzt die Eigenständigkeit der kulturellen und ökonomischen Kräfte
Es geht hier vielmehr um jene, die subjektiv den Eindruck haben, ihre Position sei tatsächlich moralisch und sie mit großer Aufrichtigkeit vertreten. Aber eine Konzentration auf den moralischen Anspruch legt oft nicht genügend Rechenschaft darüber ab, ob das moralisch Vorzügliche auch umgesetzt werden kann. Sie ignorieren, dass dem moralisch Vorzüglichen widrige politisch-kulturelle Kräfte entgegenstehen, die sich nicht einfach mit Empörung beseitigen lassen. Der Soziologe Hans Joas stellt mit Bezug auf das moralische Engagement der Kirchen fest: „Mit der Konzentration auf Moral wird aber nicht nur der Eigencharakter des Religiösen verfehlt, sondern auch der des Politischen.“ (Kirche als Moralagentur, S. 64) Dadurch aber kann eine starke Betonung der Moral eine politische Position schwächen, statt ihr zu nützen.
Beispiel Klimadiskussion
Nehmen wir als Beispiel die Diskussion um das Klima. Seit über 50 Jahren, seit der Veröffentlichung des Berichts des Club of Rome ist die Ahnung einer nahenden Katastrophe in der Öffentlichkeit. Vieles haben wir seitdem dazu gelernt, aber die Grundaussage war von Beginn an richtig: Wenn der Mensch weiterhin Raubbau an der Erde, an der Ökosphäre begeht, wird sie zerstört werden. Nun sind wir 50 Jahre weiter, können die Gefahren viel präziser beschreiben, erleben auch schon starke Auswirkungen, etwa durch die Erhöhung der Welttemperatur. Doch unser alltägliches Handeln hat sich kaum darauf eingestellt. Viele Menschen fahren Auto, fliegen gern, leben in großen Wohnungen, kaufen sich energieintensive Güter. Die allermeisten stimmen aber sofort zu, wenn sie gefragt werden, ob es wichtig sei, den Klimawandel zu begrenzen. Offenkundig geht beides gut zusammen: Der allgemeine moralische Anspruch und das konterkarierende alltägliche Verhalten.
Die kritische Frage an eine ganze Generation
Diese Frage muss sich eine ganze Generation stellen: Warum sind die Aufbrüche der 90er Jahre (die UN Konferenz von Rio de Janeiro 1992, die Diskussion um die Agenda 21, lokale Agenden etc.) so wenig ertragreich gewesen? Die moralischen Forderungen waren da. Viele Initiativen entstanden, die Umweltverbände wuchsen und gewannen an Macht. Warum ist die Zahl der Fernflüge seitdem explodiert, sind die produzierten Automobile immer schwerer geworden, statt kleiner und leichter?
Aussagestarke Bilder
Wer das Problem moralisiert, macht es sich offenkundig zu einfach und bekommt nicht die widrigen Kräfte in den Blick. Diese Kräfte sitzen offenkundig tief in den bewussten und unbewussten kulturellen Wahrnehmungsmustern. Nachrichten über einen wirtschaftlichen Aufschwung werden auch heute gerne mit dampfenden Schloten bebildert. Bilder eines glücklichen Urlaubs zeigt Menschen an Südseestränden. Auch die viel gepriesenen E-Autos sind groß und schwer und rasen in Werbebildern durch eine offene Ebene.
Kulturelle Prägungen, ökonomische Interessen
Eine Arbeit an dem Problem müsste also sich der Frage widmen, wie die widrigen Kräfte überwunden werden können. Diese Kräfte aber sind kulturelle Prägungen einer großen Zahl von Menschen in Tateinheit mit handfesten politischen und ökonomischen Interessen. Hinzu kommen soziale Verwerfungen, die die Moral nicht abbilden kann: Manchen Menschen fällt es bei den sehr ungleichen Vermögen leichter, sich umweltbewusst zu geben als anderen, die weniger Geld zur Verfügung haben. Eine einfache Moralisierung lässt all dies unberührt und so bleibt das alltägliche Verhalten neben dem allgemeinen moralischen Anspruch bestehen. Das eigentlich Gewünschte, die Veränderung des Verhaltens, bleibt aus.