Sind Kirchen systemrelevant?

In Zeiten von Corona ist eine Diskussion um die Systemrelevanz von Kirchen entstanden. Einige Stimmen betonen aus unterschiedlichen Gründen, dass die Kirchen nicht mehr systemrelevant seien. Die einen stellen fest, dass die Kirchen keine starken orientierenden Worte gesprochen haben. Die anderen weisen darauf hin, dass die Kirchen ihren Regelbetrieb ohne Protest weitgehend eingestellt haben. Dritte sehen, dass sie in die digitalen Medien ausweichen und unter dem großen Angebot dort, kaum wahrnehmbar sind.

Im Kontrast dazu ist die Systemrelevanz des Gesundheitssystems unbestritten. Ärztinnen und Ärzte, Krankenschwestern und Krankenpfleger bekommen einen Sonderstatus etwa bei der Kinderbetreuung, weil ihr Einsatz unverzichtbar ist. Sind also religiöse Organisationen wie die Kirchen gesellschaftlich vielleicht geduldet, aber für das Funktionieren des Systems nicht mehr relevant?

Der Vorwurf ist von außen herangetragen und maliziös. Es scheint, dass einige die Gelegenheit nutzen, die Kirchen in ihrer Schwäche zu zeigen. Doch stimmt das überhaupt? Hierzu drei Überlegungen:

1. Ist Systemrelevanz überhaupt ein Qualitätskriterium für Kirchen?

Was genau meint Systemrelevanz? Wenn man die Gesellschaft als ein Zusammenspiel unterschiedlicher Systeme deutet, dann ist etwas systemrelevant, wenn es diese Systeme in ihrer Funktionalität aufrechterhält. Hier schon wird deutlich, wie verkürzt die Vorstellung ist, die Kirchen sähen ihre Aufgabe darin, systemrelevant zu sein. Christliche Kirchen sehen ihre Aufgabe darin, Gott in Wort und Tat zu bezeugen. Sie verstehen sich als Versammlung jener Menschen, die an den Menschwerdung des gnädigen Gottes glauben. Sie sind Orte des Gebets, des Gottesdienstes, der Gemeinschaft und des Engagements für die Schwachen und Armen der Gesellschaft. Ist das systemrelevant? Möglicherweise kann ein solches Handeln gesellschaftliche Funktionen stützen. Wenn es aber darum geht, in einer Pandemie sich den Kranken zuzuwenden, so geschieht das durchaus in den viele diakonischen Einrichtungen, zu denen auch eine große Zahl von kirchlichen Krankenhäusern gehört.

Doch möglicherweise kann das Handeln von Kirchen auch systemkritisch sein. Es ist nicht die primäre Aufgabe und auch nicht das primäre Interesse von Kirchen, gesellschaftliche Systeme zu stützen. Es gibt ja durchaus gesellschaftliche Systeme, die Menschenrechte einschränken, die den Reichtum von wenigen massiv steigern, die die Ausbeutung von Mensch und Natur vorantreiben. Das können autoritäre Systeme sein, aber auch manche Systeme des freien und unregulierten Marktes. Kurz: Systemrelevanz an sich ist in keiner Weise ein Qualitätskriterium für Kirchen.

2. Mediale Präsenz von Kirchen

Nun waren kirchliche Stimmen tatsächlich in den letzten Wochen in geringerem Maße in den klassischen Medien wie Zeitungen und Fernsehen durch Meinungsbeiträge präsent. Dagegen dominierten dort  Vertreterinnen und Vertreter der Virologie und Epidemiologie. Doch warum sollte das verwunderlich sein? Es gibt gerade in diesen Zeiten viel zu tun, was nicht direkt öffentlichkeitsrelevant und doch wichtig ist. Dazu gehört auch die Seelsorge, vor allem die Telefonseelsorge, die Versorgung auch der Gemeindemitglieder, die keinen Internetzugang haben, mit gedruckten Andachten.

Es gibt darüber hinaus auch eine Zeit des Schweigens.Darauf hat auch der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Manfred Rekowski, in einer Videobotschaft hingewiesen. Das öffentliche Interesse war eindeutig darauf ausgerichtet, erstens zu verstehen, wie groß die Gefahr ist, die mit der Pandemie einher geht, welche Hoffnung man haben kann auf eine Besserung, auf eine Reduzierung der Zahl der Neuerkrankungen. Ein weiterer Fokus lag auf dem staatlichen Handeln: Was ist erlaubt, was nicht? Zeiten der Krise sind immer auch Zeiten der Exekutive. Dies sieht man nicht zuletzt an der sprunghaft angestiegenen Zustimmung zu der Regierungspartei CDU. Ein dritter Fokus der öffentlichen Debatte lag auf den wirtschaftlichen Folgen dieser Maßnahmen. Wie groß wird der wirtschaftliche Schaden sein, ist er zu vermeiden? Mit welcher Zielrichtung sollten sich die Kirchen in diese Debatten einbringen?

3. Die theologische Herausforderung. Der Umgang mit dem Widrigen und dem Unvorhersehbaren, mit der Abhängigkeit und der existentiellen Verbundenheit

Nun gibt es aber auch einen wahren Kern mancher kritischer Äußerungen. Doch der hat nichts mit der öffentlichen Sichtbarkeit zu tun als vielmehr mit der Erwartung, dass auch im vertrauten Gespräch Vertreterinnen und Vertreter von Kirchen zu solchen schicksalshaften Ereignissen nicht viel zu sagen haben. Diese kritische Anfrage geht in die Richtung der Theologie und sie hat einen ernstzunehmenden Kern. Günter Thomas hat das in einem Beitrag in Zeitzeichen zum Ausdruck gebracht: In einer solchen Zeit wird zum Beispiel deutlich, dass die Natur nichteinfach nur die gute Schöpfung ist, dass sie lebensbejahende wie auch lebenszerstörende Kräfte enthält. Doch welche theologischen Ressourcen haben wir, um das Lebenszerstörende einer Pandemie, die über uns kommt, zu beschreiben? In der Fähigkeit zu Beschreibung des natürlichen Lebenswidrigen, das sich einer moralischen Beurteilung entzieht, hat die Theologie in der Tat in den letzten Jahrzehnten viel verloren. Man kann weitere Defizite in der Beschreibung der Endlichkeit des Menschen, in seiner Abhängigkeit vom Geist Gottes, in der Art und Weise sehen, wie wir theologisch Hoffnung äußern.

Theologisch ist also nicht einfach alles in Ordnung. Aber zeigt sich in Zeiträumen von vielen Jahren, nicht von einigen Wochen der Medienbeobachtung.

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Autor: Frank Vogelsang

Ingenieur und Theologe, Direktor der Evangelischen Akademie im Rheinland, Themenschwerpunkt: Naturwissenschaften und Theologie

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