Die Corona-Pandemie baut sich in Europa zu einer zweiten Welle auf. Im Sommer war angesichts der geringen Fallzahlen der Eindruck der Pandemie eher verblasst, man redete stets über sie, aber doch eher mit Blick auf andere Länder wie den USA, Brasilien, Indien. Die Bekämpfung der ersten Welle im Frühjahr war gelungen, die Wirtschaft zog wieder an, Kultureinrichtungen hatten Hygienekonzepte entwickelt, Restaurants und Hotels waren wieder offen, die Mobilität war fast auf einen Normalwert zurückgekehrt.
Eine Zeit der Entbehrungen
Für EpidemiologInnen nicht überraschend und doch für die Öffentlichkeit unerwartet schnell steigt nun die Fallzahl in den letzten drei Wochen wieder dramatisch an. Die Politik sieht sich zum Handeln gezwungen. Der Anstieg ist zu rasant, als dass er ignoriert werden könnte. So ist erneut ein „Lockdown“ verhängt worden, dieses Mal in einer leichteren Version.
Möglicherweise hilft die Maßnahme, diese zweite Welle zu brechen. Unter den Kommentaren mischen sich aber zu Recht zweifelnde Fragen, wie es denn auf lange Sicht weiter gehen soll. Folgt der zweiten Welle eine dritte, eine vierte? Folgt diesem „Lockdown“ dann weitere? Denn eines scheint offenkundig: Das Virus ist im Land und kann und kann und wird wohl immer wieder ausbrechen. Sobald man zu dem gewohnten Leben zurückkehrt, werden die Fallzahlen wieder steigen. Folgt nun eine Zeit mit einem Wechsel von „Lockdowns“ und Erleichterungen? Das ist schwer vorstellbar.
Die Impfung – Ziel aller Hoffnungen
Erträglich ist für viele die Situation nur, weil es eine explizite Hoffnung gibt, dass Anfang des kommenden Jahres ein Impfstoff geben wird. Immer wieder wird von politischen Akteuren die Zeit Frühjahr 2021 ins Spiel gebracht. Das lässt die Herausforderung überschaubar erscheinen. Manche VirologInnen warnen aber vor zu großen Erwartungen und stellen eine Vielzahl von Fragen: Führt der Impfstoff zu einer bleibenden Immunität? In welchem Umfang und in welcher Zeit ist der Impfstoff verfügbar? Gibt es unerwünschte Nebenwirkungen?
All diese Fragen kann zurzeit niemand beantworten. Ich möchte an dieser Stelle nur eine Beobachtung einbringen, dass die Sehnsucht nach dem Impfstoff auch eine Besonderheit unserer Zeit der Moderne zum Ausdruck bringt: Wir bevorzugen bei ethischen und kulturellen Herausforderungen gerne „technische Lösungen“. Warum ist der Impfstoff eine technische Lösung des Problems, was kennzeichnet technische Lösungen? Sie erlauben die weitgehend ungestörte Fortsetzung der eigenen Lebensführung und produzieren relativ geringe Kosten. So können kulturelle und ethische Herausforderungen umgangen werden, eine neue kulturelle Deutung der eigenen Situation kann unterbleiben.
Die Parabel vom Sadhu
Man kann dies an einer Parabel deutlich machen, die in Kreisen der Unternehmensberatung oft eingesetzt wird, um ethische Dilemmata zu diskutieren, der Parabel vom Sadhu. Bowen Mc Coy hat sie aufgeschrieben. Worum geht es? Mehrere internationale Expeditionsgruppen wollen an einem Tag mit gutem Wetter einen unwegsamen Himalaya Pass überwinden. Nur an diesem Tag ist die Passage in der Saison noch möglich. Ein Abbruch hieße, lange Vorbereitungszeiten und Investitionen aufzugeben. Sehr früh brechen sie auf. Bald findet die erste Gruppe im Schnee einen nur mit Tüchern bekleideten Asketen, einen Sadhu, der nicht spricht, sich aber auch kaum bewegt. Muss man ihm helfen? Ist er absichtliche in der kalten Einöde? Soll eine der Gruppen den Aufstieg abbrechen? Können alle gemeinsam ein wenig zur Lösung beitragen? An dieser Situation lassen sich viele ethische Probleme erläutern. Am einfachsten für alle wäre aber eine (nicht ganz ernst gemeinte) technische Lösung: Wer solche ausgesetzten Himalaya Touren durchführen will, schließt vorab eine „Sadhu Versicherung“ ab. Mit dem Geld wird ein Hilfesystem bereitgestellt, wer einem Sadhu trifft, löst einen Alarmmechanismus aus und das Hilfesystem wird aktiviert. Alle können ihre, Weg weiter folgen, ethische und kulturelle Herausforderungen können umgangen werden.
Die oft begrenzte Reichweite technischer Lösungen
In unserer Zeit haben wir eine Vielzahl solcher technischer Lösungen installiert. Viele Versicherungen sind von dieser Art wie etwa die Pflegeversicherung. Sie ermöglichen einen möglichst ungestörten Lebenswandel bei möglichst geringen Kosten. Auf das Problem der Pandemie bezogen heißt das, die Impfung ist in der Tat die beste Lösung. Auch hier kann dann alles beim Alten bleiben. Die Frage ist aber, ob immer technische Lösungen zur Verfügung stehen. Nur in selteneren Fällen lassen sich ethische und kulturelle Herausforderungen durch technische Lösungen vollständig beantworten. Oft produzieren technische Lösungen auch neue ethische Probleme. Die Pflegeversicherung wird nicht die kulturelle Herausforderung beseitigen, das mit einer alternden Bevölkerung einhergeht. Möglicherweise gilt das auch für den Impfstoff in der Bearbeitung der Corona Pandemie. Er wird nicht verhindern, dass es viele Verlierer in der Pandemie geben wird, dass der soziale Zusammenhalt noch weiter geschwächt wird, dass gewohnte Lebensformen und kulturelle Errungenschaften nachhaltig irritiert werden. Wir werden mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht umhin kommen, auch eine Vielzahl kultureller und ethischer Ressourcen in unserer Gesellschaft zu mobilisieren, um die Herausforderungen der Pandemie zu genügen! Die Vorstellung, eine technische Lösung würde alle Probleme auflösen, greift zu kurz.