Das Virtuelle digitaler Medien ist nie nur virtuell. Es ist Teil der menschlichen Realität.

In der Diskussion über die digitalen Medien ist es in bestimmten Kreisen beliebt, das Eigentliche, das Reale von dem Virtuellen, dem Scheinbaren zu unterscheiden. Das Eigentliche ist dann natürlich das, worin wir unseren Alltag fristen, wo wir anderen Menschen face to face begegnen, wo wir uns miteinander austauschen, wo wir essen und uns bewegen. Das Virtuelle dagegen ist in den künstlichen Räumen, die digitale Medien produzieren. Es ist in gewisser Weise immer nur eine „Schein“-Welt, weil die Töne und Bilder nahelegen, dass da etwas sei, wo es doch nur elektronisch simuliert wird.

Das Eigentliche und das Uneigentliche

Die Vorstellung lautet: Wenn wir mit einem Menschen face to face intensiv kommunizieren, dann sind wir wirklich mit ihm verbunden. Wir teilen miteinander den Raum, in dem wir uns treffen. Schon der gemeinsame Raum verbürgt, dass das Treffen real ist, denn es findet an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit statt. Dagegen ist ein Treffen in den digitalen Medien uneigentlich. Auch dort kann eine Kommunikation stattfinden, wir können Bilder austauschen und die Sprache nutzen. Doch findet das Treffen nur im „digitalen Raum“ statt. Doch was ist der „digitale Raum“? Eigentlich ist er nur ein Kommunikationskanal, der durch bestimmte Technologien bereitgestellt wird. Damit ist aus Sicht der skizzierten Position klar: Der Raum wird in gewisser Weise vorgetäuscht. Durch Austausch von Bildern und von Tönen mag es den Anschein haben, man sei miteinander in einer direkten Kommunikation, aber das ist nicht der Fall. Es ist „nur“ eine durch die Technik vermittelte Kommunikation. Diese Unterscheidung hat Folgen, für viele führt das zu einer eindeutigen Bewertung digitaler Medien.

Diese Argumente werden nicht selten von Skeptikern in der Diskussion um digitale Medien vorgebracht. Digitale Medien wird damit gleich ein mehrfacher Vorwurf gemacht. Der erste Vorwurf ist, dass sie nur eine reduzierte Wirklichkeit wiedergeben. Der zweite Vorwurf ist, dass sie dies mit den Mitteln moderner Technik zu kaschieren versuchen, dass sie in gewisser Weise täuschen. Der dritte Vorwurf ist schließlich der weitest gehende: Digitale Medien bieten die Möglichkeit zur Weltflucht. Wenn man schon mit der realen Wirklichkeit nicht gut umgehen kann, dann hilft es, sich in virtuelle Welten zu flüchten, die vor der Konfrontation mit der Wirklichkeit schützen.

Was ist dran an dieser Unterscheidung? Eine Unterscheidung ist in der Tat notwendig, es gibt offenkundig einen Unterschied zwischen dem Materiellen und dem Virtuellen, aber die angedeutete Bewertung setzt falsch an und führt zu falschen Folgerungen.

Die Virtualität des Realen – die Realität des Virtuellen

Das Wichtigste ist: Woher wissen wir, was die „eigentliche“ Realität ist? Wir sind als leibliche Wesen in dieser Welt und können uns nur mit unvollkommenen Mitteln in ihr orientieren. Als leibliche Wesen sind wir immer zugleich materiell und virtuell: Wir sehen die Farbe und die Leinwand eines Bildes und wir sehen das Abgebildete. Die Welt lässt sich nicht auf das eine oder andere reduzieren. Die Welt als Ganze können wir aus einem philosophisch fundamentalen Grund nur unvollkommen beschreiben: Sie ist uns zu nah, weil wir als leibliche Wesen auch ein Teil von ihr sind, weil wir elementar mit ihr verbunden sind. Als Teil des Ganzen können wir keinen privilegierten, keinen neutralen oder objektiven Zugang zur Wirklichkeit im Ganzen haben. Es gibt für uns also nicht einfach eine „originale“, „reale“ Welt, die wir beschreiben könnten wie eine Kaffeetasse, die wir von uns distanziert halten können. Was auch immer wir wissen, ist sprachlich und kulturell vermittelt, auch wenn mit Hilfe der Methoden der Wissenschaften wir viele Aspekte und Dinge relativ objektiv beschreiben können. Jede Sprache und jede Kultur aber hat auch verzerrende Effekte.  Jeder sprachliche Ausdruck, jeder Begriff hat eine schwer zu kontrollierende Konnotation. Jede Äußerung ist eingebunden in einen Strom weiterer kultureller Äußerungen. Über die Sprache der Wissenschaften kommen wir nur in definierten Ausschnitten zu so etwas wie einer objektiven Realität. Der Fehler, der oft gemacht wird, ist, diese Ausschnitte für das Ganze der Welt zu nehmen. Wenn wir das Ganze als physikalisches Universum beschreiben, lässt sich daraus weder Sinn, noch Schönheit, noch Liebe noch Vertrauen, noch Haß noch all das ableiten, in dem wir alltäglich leben. All das hat in dem physikalischen Universum keinen definierten Ort. Zu meinen, wir stünden sicher auf dem Boden der „Tatsachen“, ist mit Sicherheit eine Täuschung.

Wir müssen also als leibliche Wesen in unserer Orientierung in der Wirklichkeit jederzeit mit Ambivalenzen umgehen, mit einer Wirklichkeit, die größer ist als unsere Modelle von ihr. Nehmen wir das Gespräch zwischen zwei Menschen face to face: Natürlich kann man den Raum, in dem sie sich treffen, ausmessen: etwa 3x5x4 Meter. Doch das ist für das Treffen nahezu irrelevant. Relevant ist aber zum Beispiel die Atmosphäre des Raumes. Doch was genau ist in diesem Zusammenhang eine „Tatsache“? Atmosphären können hoch ambivalent sein, sie haben immer etwas Virtuelles, sie lassen sich nicht auf physikalische Dinge zurückführen. In Atmosphären kann man eintauchen, man ist mit ihnen verbunden, sie umhüllen und durchdringen. Ähnliches gilt auch für die Menschen, die sich so treffen: Was sehen sie im Gegenüber? Sicherlich keine Fakten, keine bloßen Tatsachen, sondern unendlich viele Überlagerungen von virtuellen Anteilen: Gesellschaftlichen Rollen, Symbolen, Anspielungen, Sehnsüchten, Ängsten, Hoffnungen usw. usf. Kurz: Auch jedes Gespräch face to face hat in entscheidenden Anteilen an kulturell vermittelten „virtuellen“ Welten teil, die wir nie so ganz überblicken, weil wir immer schon in sie eingetaucht sind.

Das Reale des Virtuellen

Andererseits ist ein virtuelles Gespräch durch digitale Medien zugleich sehr real: Handelsgeschäfte können abgeschlossen werden, Beziehungen können angebahnt oder auch beendet werden. Es gibt keine virtuelle Kommunikation in digitalen Medien, die nicht auch Teil der menschlichen „Realität“ wäre. Weltraumschlachten in Computerspielen können reale Werte zerstören. In live Übertragungen kann man durch digitale Medien Augenzeuge eines schrecklichen Vorfalls werden, wie bei dem Terror-Attentat in Christchurch. Und auch die darauf folgende Kommunikation schafft wiederum reale Verhältnisse und ist voll und ganz Teil unserer Realität.

Mehr und weniger, wahrscheinlich und unwahrscheinlich…

Wenn die Realität aber von Virtuellem durchsetzt ist und das Virtuelle immer auch real ist, kann man dann nicht mehr unterscheiden zwischen dem Virtuellen und dem Realen? Es macht aber tatsächlich Sinn, aber nicht in der großen zwischen Sein und Schein, zwischen Original und Kopie. In der Regel gibt es zwischen beiden immer wieder ein Mischverhältnis mit einem Mehr und Weniger. Wenn man aber zwischen Mehr und Weniger unterscheidet, dann gibt es keinen klaren Schnitt. Es lässt sich keine „eigentliche“ Realität aussondern. Eine Kommunikation zwischen zwei Menschen in einem festen Raum kann „vernebelter“ sein als eine achtsame Kommunikation über Skype. Allerdings: Es ist wahrscheinlicher, dass die face to face Kommunikation mehr Zugänge ermöglicht, da sie umfassender ist.

Es gibt also Unterschiede zwischen der „direkten“ Kommunikation zwischen Menschen und der Kommunikation über digitale Medien. Diese Unterschiede sind nur nicht eindeutig, nicht festgeschrieben, sie befinden sich in einem Feld des Mehr und Weniger und lassen lediglich Tendenzsaussagen zu. Es gibt nicht die eine ausgezeichnete Realität, sondern unterschiedliche kulturell vermittelten Zugänge zu ihr. Nicht alles ist digitalisierbar, aber das Digitale ist ebenso Teil der Realität wie materielle Dinge.

Wer Überlegungen hierzu vertiefen möchte: Die hier vorgebrachten Gedanken resultieren aus einem philosophischen Konzept der Wirklichkeit, das die Wirklichkeit in seiner Vieldimensionalität darstellen möchte. Die landläufigen Vorstellungen sind zumeist von Verkürzungen geprägt: Die eigentliche Wirklichkeit ist materiell oder das, was die Vernunft zeigt. Ein phänomenologischer Ansatz kann hier besser differenzieren und führt zu dem Konzept einer „offenen Wirklichkeit“.

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Autor: Frank Vogelsang

Ingenieur und Theologe, Direktor der Evangelischen Akademie im Rheinland, Themenschwerpunkt: Naturwissenschaften und Theologie

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