Gut oder böse? Identitätssuche mit dem Holzhammer

Digitale Plattformen, soziale Medien bestimmen heute das öffentliche Bewusstsein in großem Maße. Ihre Wirkung zeigen sie gerade in Zeiten der gesellschaftlicher Unsicherheit, wie jetzt, während der Corona Pandemie. Was ist angesichts der großen Herausforderungen richtiges Handeln? Was sollen wir tun? (Die staatlichen Verordnungen genau beachten? Gegen die staatlichen Verordnungen protestieren?) Aber auch: Wie sollen wir was benennen? Können wir uns darauf einigen, worum es überhaupt geht? (Als was ist die Pandemie zu beschreiben?) Hinter diesen Fragen steht immer auch die Frage: Wer sind wir? Wenn wir uns auf eine bestimmte Form des Handelns einigen und eine bestimmte Form des Sprechens, dann bringen wir damit zugleich zum Ausdruck, wer wir sind.

Digitale Kommunikation

Das ist erst einmal nichts Neues, das gab es immer schon und wird es in menschlichen Gesellschaften immer geben. Neu ist allerdings, dass die Fragen in einem relevanten Umfang in den digitalen Medien ausgehandelt werden. Es ist schon oft beschrieben worden, dass es hier zu starken Polarisierungen kommt. Das hat auch mit Beobachtungen zweiten Grades zu tun. Menschen beobachten nicht nur in den sozialen Medien, was andere tun, sie beobachten auch, wie andere sie beobachten. Nur wer dieses Spiel beherrscht, kann auf Resonanz hoffen. Es gilt in gewisser Weise, vorweg zu nehmen, wie andere auf eine bestimmte Nachricht, auf ein bestimmtes Ereignis reagieren. Die Wirkung dieses Verhaltens lässt sich sehr gut bei dem Kurznachrichten-Netzwerk Twitter nachvollziehen. Eine positive Reaktion läuft hier vor allem über die Funktionen „Like“ und „Retweet“. Wer diese beiden Funktionen nutzt, zeigt einerseits Zustimmung und andererseits, sofern die Zustimmung öfter erfolgt, Zugehörigkeit. Die Zugehörigkeit aber ist dann Teil der eigenen Identität.

Unvermeidlich Polarisierungen

Diese Mechanismen führen in der Praxis zu einer immer wieder neu zu bestätigenden Zweiteilung. Es gibt solche, die für eine bestimmte Position stehen und solche, die dagegen sind. Die Zugehörigkeit ist dann mit eindeutigen Wertungen verbunden. Es geht in gewisser Weise um die Unterscheidung von „gut“ und „böse“. In manchen Debatten ist eine solche Zweiteilung notwendig und triftig. Das gilt vor allem, wenn offene Konflikte ausbrechen und es gilt, die Konflikte zu bestehen. Doch bei weitem nicht alle gesellschaftlichen Debatten sind Ausdruck solchen Konflikte. Und da beginnt dann das Problem.

„Dünne“ und „dichte“ Wertungen

Menschliche Verhältnisse sind in den allermeisten Fällen irgendwo zwischen „gut“ und „böse“ zu verorten. Gesellschaftliche Konflikte sind oft schwer zu durchschauen, eine Position mag auf erstem Blick „gut“ sein, erweist sich aber auf dem zweiten auch in nicht geringen Anteilen als „böse“. In einer Welt, die immer mehr auf die Vermittlung zwischen Kulturen angewiesen ist, ist aber die Fähigkeit zu Zwischentönen von größter Bedeutung. Der Philosoph Kwame Anthony Appiah hat in seinem Buch „Der Kosmopolit. Philosophie des Weltbürgertums“ auf die Unterscheidung von „dichten“ und „dünnen“ Konzepten bzw. Wertungen hingewiesen. Dünn sind Wertungen wie „gut“ und „böse“, weil sie eine starke Wertung signalisieren, aber kaum mit einem festen Inhalt verbunden sind. In der Geschichte wurden schon sehr unterschiedliche Positionen „gut“ oder „böse“ genannt. Im gesellschaftlichen Alltag aber überwiegen „dichte“ Wertungen, wie „mutig“, „unhöflich“ oder „ungeduldig“. Diese Wertungen kann man nur verstehen, wenn man stärker in die Kulturen und die gesellschaftlichen Kontexte eintaucht, in der sie verwendet werden. Sie zeigen an, dass Menschen in ein dichtes Geflecht von Bewertungen eingebunden sind, die eine vielfältige Verbundenheit mit anderen Menschen und zur ihrer kulturellen und natürlichen Umgebung zum Ausdruck bringen. Diese Wertungen spielen in jeder Gesellschaft und Kultur eine erhebliche Rolle für die Bestimmung von Identität.

Kosmopolitische Kulturen brauchen Zwischentöne

Was passiert nun, wenn Identität immer stärker über die polarisierende Rede der digitalen Medien bestimmt wird? Dann gehen die Zwischentöne verloren. Die eigene Identität ergibt sich dann durch die Zugehörigkeit zu der einen oder zu der anderen Gruppe. Eine soziale Kommunikation, die polar strukturiert ist, führt zu einer ausgedünnten Form der Identität. Es ist die Identitätsbestimmung, die mit dem Holzhammer geschieht: Draufhauen oder nicht Draufhauen, das ist dann die Frage. Zwischentöne, aus denen das Leben besteht, gehen verloren. Das ist bedauerlich, aber ist es auch bedrohlich?

Die Zwischentöne sind aber gerade in einer kosmopolitischen Welt, wie Appiah betont, von allergrößter Bedeutung. Die unterschiedlichen kulturellen Ausdrucksformen, die Nuancierungen werden aber in einer polarisierenden Kommunikation immer weniger wichtig. Es sind aber gerade die dichten Konzepte und Wertungen, die unsere Identität in der Gesellschaft stabilisieren. Nur in den seltensten Fällen können wir in der Beschreibung unseres Lebenslaufes zwischen „gut“ und „böse“ unterscheiden. Wir waren und sind mehr oder weniger mutig, aufgeschlossen, tolerant oder auch abweisend, misstrauisch, engstirnig. Das, was für uns als Einzelne gilt, gilt auch für gesellschaftliche Formationen, für Formen der Verbundenheit, in denen wir uns organisieren. Auch die sind in der Regel nicht einfach „gut“ oder „böse“. Und es gilt für gesellschaftliche Ausdrucks- und Umgangsformen. Ein Indikator für solche dichten Wertungen ist zum Beispiel der Ekel. Europäer, so stellt Appiah fest, essen in größeren Mengen Schweinefleisch. Warum nicht auch Katzenfleisch, so fragt er provokativ. Es gibt offenkundig eine Unzahl von kulturell tief verankerten Wertungen, die die eigene Identität beeinflussen und die wir nicht mit einfachen, dünnen Unterscheidungen wie „gut“ und „böse“ erfassen können.

Instabile Identität – Wer sind die Anderen?

Deshalb kann der kulturelle Schaden auf Dauer groß sein, wenn man stets darauf schaut, ob man dafür (gut) oder dagegen (böse) ist. Ein Indikator für diesen Mechanismus sind immer wieder neue Ausdrücke für die „anderen“. Aus der Perspektive meiner Gruppe waren die anderen zunächst Pegida und die Rechten, dann die Hater im Netz, die Fake News Konsumenten, dann die Querdenker und Corona Leugner. Diese Gruppen sind bei weitem nicht identisch. Wer fungiert morgen als „die anderen“? Das führt zu einer Instabilität der Zuordnungen. Gesellschaftliche und kulturelle Äußerungen werden sofort darauf hin geprüft, ob sie dieser Gruppe zuzuordnen sind.

Instabile Identität – ein aktuelles Beispiel

Jüngst geschah das mit der eigenartigen Video Aktion von finanziell gut abgesicherten Schauspielerinnen und Schauspielern (erstaunlich viele Tatort-Mimen). Man muss die Aktion nicht gut finden. Manches war eher komisch pathetisch als treffend ironisch. Manches war völlig daneben („Angstmacher“). Aber sehr eigentümlich ist, dass, nachdem die Aktion von den Beteiligten, allesamt Menschen mit guter Reputation, etliche Wochen vorbereitet worden war, die Videos von etlichen innerhalb von 24 Stunden nach Publikation wieder mit einer öffentlichen Entschuldigung zurückgezogen worden sind. Die vorherrschende Meinung in den sozialen Medien war, in den Videos Hilfestellungen für Querdenker und Corona Leugner zu sehen. Zu allem Überfluss gab es auch noch Applaus von der falschen Seite. Muss es aber nicht auch möglich sein, etwas zu tun, was vielleicht nicht so gelungen ist, ohne damit zugleich die eigene Identität zu riskieren?

Für eine reiche, kulturell verankerte Identität

Eine reiche, gesellschaftlich und kulturell verankerte Identität lässt sich über solche Prozeduren, die sich allein an den „dünnen“ Wertungen wie „gut“ und „böse“ orientiert, nicht gewinnen. Sie ist nur über „dichte“ Wertungen möglich, in denen es ein Mehr und Weniger gibt, Nuancierungen, Urteile immer wieder neu justiert werden. Appiah macht deutlich, dass gerade der kulturelle Wandel in einer kosmopolitischen Welt hier ansetzen muss. Eine Identität, die sich über „dünne“ Wertungen von „gut“ und „böse“ abzusichern versucht, ist arm an Ausdrücken und dauerhaft instabil.

Das Virtuelle digitaler Medien ist nie nur virtuell. Es ist Teil der menschlichen Realität.

In der Diskussion über die digitalen Medien ist es in bestimmten Kreisen beliebt, das Eigentliche, das Reale von dem Virtuellen, dem Scheinbaren zu unterscheiden. Das Eigentliche ist dann natürlich das, worin wir unseren Alltag fristen, wo wir anderen Menschen face to face begegnen, wo wir uns miteinander austauschen, wo wir essen und uns bewegen. Das Virtuelle dagegen ist in den künstlichen Räumen, die digitale Medien produzieren. Es ist in gewisser Weise immer nur eine „Schein“-Welt, weil die Töne und Bilder nahelegen, dass da etwas sei, wo es doch nur elektronisch simuliert wird.

Das Eigentliche und das Uneigentliche

Die Vorstellung lautet: Wenn wir mit einem Menschen face to face intensiv kommunizieren, dann sind wir wirklich mit ihm verbunden. Wir teilen miteinander den Raum, in dem wir uns treffen. Schon der gemeinsame Raum verbürgt, dass das Treffen real ist, denn es findet an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit statt. Dagegen ist ein Treffen in den digitalen Medien uneigentlich. Auch dort kann eine Kommunikation stattfinden, wir können Bilder austauschen und die Sprache nutzen. Doch findet das Treffen nur im „digitalen Raum“ statt. Doch was ist der „digitale Raum“? Eigentlich ist er nur ein Kommunikationskanal, der durch bestimmte Technologien bereitgestellt wird. Damit ist aus Sicht der skizzierten Position klar: Der Raum wird in gewisser Weise vorgetäuscht. Durch Austausch von Bildern und von Tönen mag es den Anschein haben, man sei miteinander in einer direkten Kommunikation, aber das ist nicht der Fall. Es ist „nur“ eine durch die Technik vermittelte Kommunikation. Diese Unterscheidung hat Folgen, für viele führt das zu einer eindeutigen Bewertung digitaler Medien.

Diese Argumente werden nicht selten von Skeptikern in der Diskussion um digitale Medien vorgebracht. Digitale Medien wird damit gleich ein mehrfacher Vorwurf gemacht. Der erste Vorwurf ist, dass sie nur eine reduzierte Wirklichkeit wiedergeben. Der zweite Vorwurf ist, dass sie dies mit den Mitteln moderner Technik zu kaschieren versuchen, dass sie in gewisser Weise täuschen. Der dritte Vorwurf ist schließlich der weitest gehende: Digitale Medien bieten die Möglichkeit zur Weltflucht. Wenn man schon mit der realen Wirklichkeit nicht gut umgehen kann, dann hilft es, sich in virtuelle Welten zu flüchten, die vor der Konfrontation mit der Wirklichkeit schützen.

Was ist dran an dieser Unterscheidung? Eine Unterscheidung ist in der Tat notwendig, es gibt offenkundig einen Unterschied zwischen dem Materiellen und dem Virtuellen, aber die angedeutete Bewertung setzt falsch an und führt zu falschen Folgerungen.

Die Virtualität des Realen – die Realität des Virtuellen

Das Wichtigste ist: Woher wissen wir, was die „eigentliche“ Realität ist? Wir sind als leibliche Wesen in dieser Welt und können uns nur mit unvollkommenen Mitteln in ihr orientieren. Als leibliche Wesen sind wir immer zugleich materiell und virtuell: Wir sehen die Farbe und die Leinwand eines Bildes und wir sehen das Abgebildete. Die Welt lässt sich nicht auf das eine oder andere reduzieren. Die Welt als Ganze können wir aus einem philosophisch fundamentalen Grund nur unvollkommen beschreiben: Sie ist uns zu nah, weil wir als leibliche Wesen auch ein Teil von ihr sind, weil wir elementar mit ihr verbunden sind. Als Teil des Ganzen können wir keinen privilegierten, keinen neutralen oder objektiven Zugang zur Wirklichkeit im Ganzen haben. Es gibt für uns also nicht einfach eine „originale“, „reale“ Welt, die wir beschreiben könnten wie eine Kaffeetasse, die wir von uns distanziert halten können. Was auch immer wir wissen, ist sprachlich und kulturell vermittelt, auch wenn mit Hilfe der Methoden der Wissenschaften wir viele Aspekte und Dinge relativ objektiv beschreiben können. Jede Sprache und jede Kultur aber hat auch verzerrende Effekte.  Jeder sprachliche Ausdruck, jeder Begriff hat eine schwer zu kontrollierende Konnotation. Jede Äußerung ist eingebunden in einen Strom weiterer kultureller Äußerungen. Über die Sprache der Wissenschaften kommen wir nur in definierten Ausschnitten zu so etwas wie einer objektiven Realität. Der Fehler, der oft gemacht wird, ist, diese Ausschnitte für das Ganze der Welt zu nehmen. Wenn wir das Ganze als physikalisches Universum beschreiben, lässt sich daraus weder Sinn, noch Schönheit, noch Liebe noch Vertrauen, noch Haß noch all das ableiten, in dem wir alltäglich leben. All das hat in dem physikalischen Universum keinen definierten Ort. Zu meinen, wir stünden sicher auf dem Boden der „Tatsachen“, ist mit Sicherheit eine Täuschung.

Wir müssen also als leibliche Wesen in unserer Orientierung in der Wirklichkeit jederzeit mit Ambivalenzen umgehen, mit einer Wirklichkeit, die größer ist als unsere Modelle von ihr. Nehmen wir das Gespräch zwischen zwei Menschen face to face: Natürlich kann man den Raum, in dem sie sich treffen, ausmessen: etwa 3x5x4 Meter. Doch das ist für das Treffen nahezu irrelevant. Relevant ist aber zum Beispiel die Atmosphäre des Raumes. Doch was genau ist in diesem Zusammenhang eine „Tatsache“? Atmosphären können hoch ambivalent sein, sie haben immer etwas Virtuelles, sie lassen sich nicht auf physikalische Dinge zurückführen. In Atmosphären kann man eintauchen, man ist mit ihnen verbunden, sie umhüllen und durchdringen. Ähnliches gilt auch für die Menschen, die sich so treffen: Was sehen sie im Gegenüber? Sicherlich keine Fakten, keine bloßen Tatsachen, sondern unendlich viele Überlagerungen von virtuellen Anteilen: Gesellschaftlichen Rollen, Symbolen, Anspielungen, Sehnsüchten, Ängsten, Hoffnungen usw. usf. Kurz: Auch jedes Gespräch face to face hat in entscheidenden Anteilen an kulturell vermittelten „virtuellen“ Welten teil, die wir nie so ganz überblicken, weil wir immer schon in sie eingetaucht sind.

Das Reale des Virtuellen

Andererseits ist ein virtuelles Gespräch durch digitale Medien zugleich sehr real: Handelsgeschäfte können abgeschlossen werden, Beziehungen können angebahnt oder auch beendet werden. Es gibt keine virtuelle Kommunikation in digitalen Medien, die nicht auch Teil der menschlichen „Realität“ wäre. Weltraumschlachten in Computerspielen können reale Werte zerstören. In live Übertragungen kann man durch digitale Medien Augenzeuge eines schrecklichen Vorfalls werden, wie bei dem Terror-Attentat in Christchurch. Und auch die darauf folgende Kommunikation schafft wiederum reale Verhältnisse und ist voll und ganz Teil unserer Realität.

Mehr und weniger, wahrscheinlich und unwahrscheinlich…

Wenn die Realität aber von Virtuellem durchsetzt ist und das Virtuelle immer auch real ist, kann man dann nicht mehr unterscheiden zwischen dem Virtuellen und dem Realen? Es macht aber tatsächlich Sinn, aber nicht in der großen zwischen Sein und Schein, zwischen Original und Kopie. In der Regel gibt es zwischen beiden immer wieder ein Mischverhältnis mit einem Mehr und Weniger. Wenn man aber zwischen Mehr und Weniger unterscheidet, dann gibt es keinen klaren Schnitt. Es lässt sich keine „eigentliche“ Realität aussondern. Eine Kommunikation zwischen zwei Menschen in einem festen Raum kann „vernebelter“ sein als eine achtsame Kommunikation über Skype. Allerdings: Es ist wahrscheinlicher, dass die face to face Kommunikation mehr Zugänge ermöglicht, da sie umfassender ist.

Es gibt also Unterschiede zwischen der „direkten“ Kommunikation zwischen Menschen und der Kommunikation über digitale Medien. Diese Unterschiede sind nur nicht eindeutig, nicht festgeschrieben, sie befinden sich in einem Feld des Mehr und Weniger und lassen lediglich Tendenzsaussagen zu. Es gibt nicht die eine ausgezeichnete Realität, sondern unterschiedliche kulturell vermittelten Zugänge zu ihr. Nicht alles ist digitalisierbar, aber das Digitale ist ebenso Teil der Realität wie materielle Dinge.

Wer Überlegungen hierzu vertiefen möchte: Die hier vorgebrachten Gedanken resultieren aus einem philosophischen Konzept der Wirklichkeit, das die Wirklichkeit in seiner Vieldimensionalität darstellen möchte. Die landläufigen Vorstellungen sind zumeist von Verkürzungen geprägt: Die eigentliche Wirklichkeit ist materiell oder das, was die Vernunft zeigt. Ein phänomenologischer Ansatz kann hier besser differenzieren und führt zu dem Konzept einer „offenen Wirklichkeit“.

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Ein Plädoyer für das Unperfekte – Unsere leibliche Existenz und die digitalen Technologien

Wir sind leibliche Wesen

Menschen sind leibliche Wesen. Wir sind ebenso durch unseren Körper bestimmt wie auch durch geistige Fähigkeiten. Wir sind weder auf das eine noch auf das andere zu reduzieren. Das ist im Kern die Bedeutung des philosophischen Ausdrucks „Leib“: Er weist darauf hin, dass wir eine eigentümliche und schwer zu definierende Mischung sind von Materie und Bewusstsein, von Körper und Geist. Die philosophische Schule der Phänomenologie hat Methoden entwickelt, mit diesem irreduziblen Gemisch, mit dieser ständigen Doppelbestimmung umzugehen. Sie setzt bei unserer Lebenswelt an, also bei unseren alltäglichen Erfahrungen und Handlungen. Denn unsere alltäglichen Handlungen und Erfahrungen sind stets von beidem bestimmt. Die Haltungen, alles auf den materiellen Körper zu beziehen oder alles auf das begriffliche Bewusstsein zu beziehen, führen zu Abstraktionen: Der objektive Körper, die reine Vernunft. Jede Handlung, jede Erfahrung in der Lebenswelt haben aber Anteile von beidem, sie geschehen bewusst und sind zugleich körperliche Vorgänge. Im Alltag unterscheiden wir auch nicht zwischen beiden Seiten, wir leben in den undefinierten Zuständen dazwischen.

Wenn wir von unserer leiblichen Existenz ausgehen, wie ist dann die Entwicklung digitalen Technologien zu beurteilen? Am Rande einer Tagung in Aachen hatte ich Gelegenheit, mit Bernhard Waldenfels, dem prominentesten Vertreter der phänomenologischen Philosophie im deutschsprachigen Raum, ein Gespräch zu führen (siehe hier). Seine Haltung gegenüber den digitalen Technologien ist durchaus kritisch. Es steht etwas auf dem Spiel in einer Kultur, die immer stärker durch diese Technologien geprägt ist. Die Erfahrungen der leiblichen Existenz, die lebensweltlichen Orientierungen können verzerrt werden.

Digitale Technologien arbeiten mit definierten Zuständen

Hinlänglich bekannt ist, dass das Digitale die Virtualität betonen, also die geistige Seite des Menschen zulasten der körperlichen. Viele Stereotype der kritischen Diskussion weisen in die Richtung: Sitzen nicht viele körpervergessen stundenlang vor Bildschirmen oder beschäftigen sich mit ihrem Smartphone? Vernachlässigen sie dann nicht den Körper und befinden sich rein geistig in virtuellen Welten? Hier existiert offenkundig die Möglichkeit, aus der Balance zu geraten. Doch das Gegenteil stimmt auch: Digitale Technologien betonen ebenso einseitig den Körper als materiellen Organismus! Waldenfels weist auf bestimmte Technologien, die der Losung „Quantify yourself!“ folgen. Man joggt dann mit einem digitalen Gerät, das die Körperzustände exakt abbildet, Durchschnittswerte ermittelt und Vergleichszahlen anbietet. Der Körper befindet sich in einer kontinuierlichen Überwachung. Durch die Hilfsmittel reduziert sich der Mensch auf einen objektiven Körper.

Die digitalen Technologien befördern also nicht so sehr die Bevorzugung des Bewusstseins gegenüber dem Körper, sie betonen vielmehr beide Extreme, den virtuellen Geist einerseits und den objektiven Körper andererseits. Auf der einen Seite ist unser Leib der Zugang zu einem virtuellen Raum, in dessen Weiten wir uns verlieren können. Auf der anderen Seite erscheint unser Leib in der digitalen Welt als ein genau beobachtetes und kontinuierlich vermessenes Objekt. Die Extreme werden gefördert, der Leib, der die Extreme vermittelt, dagegen wird gering geschätzt.

Die Lebenswelt als das Undefinierbare

Die große Herausforderung besteht künftig darin, auch in und mit den digitalen Technologien den Leib als solchen immer wieder zu entdecken. Der Leib zeigt sich in der Lebenswelt. Bernhard Waldenfels gab in der Diskussion der Tagung ein Beispiel, das in die Richtung weist: Besonders akrobatische Leistungen von Robotern beeindrucken ihn nicht. Das ist berechenbar. Beeindrucken würde ihn dagegen, so sagte er, wenn ein Roboter in einem Handlungsablauf innehalten würde, wenn er zögern  würde!

Dies ist ein wichtiger Hinweis auf die Lebenswelt, denn sie ist eine Sphäre jenseits perfekter Funktionsabläufe (des Körpers) und jenseits perfekter Illusionswelten (des Geistes). In der Lebenswelt regiert das Imperfekte, das, was ins Stolpern bringt, das, was undefinierte Situationen ermöglicht. Im Alltag können wir uns oft nicht so gut entscheiden, wir zweifeln, wir haben Bedenken oder wir haben nicht den notwendigen Überblick.

Plädoyer für das Unperfekte

Wenn wir auch in einer Welt mit digitalen Technologien unsere leibliche Existenz in der Lebenswelt erhalten wollen, müssen wir auf das achten, was sich nicht genau messen oder definieren lässt. Hierzu gehört nebenbei auch die Fantasie. Virtuelle Welten etwa über VR (Virtual Reality) Brillen mögen beeindruckende Spielumgebungen schaffen, aber sie lassen kaum Raum für die Fantasie. Was sich zeigt, ist immer schon definiert. Das ist bei klassischen Rollenspielen von Kindern (Räuber und Gendarm) eben nicht der Fall. Hier braucht es die ausgeprägte Fähigkeit, das, was sich zeigt, anders zu deuten. Hier ist nichts perfekt, hier ist nichts genau vorgegeben. Die Fantasie eröffnet einen Freiraum undefinierter Zustände. Ein Großteil unseres Lebens findet aber tatsächlich genau in dieser unperfekten Sphäre statt. Die wertvollsten Erfahrungen machen wir in einer solchen Umgebung. Sie gilt es zu erhalten auch in einer digitalen Welt. Das heißt: Wir müssen Umgangsformen mit den digitalen Medien und Technologien finden, die das Undefinierte undefiniert sein lassen.

 

Wo steht die evangelische Kirche heute?

Wir leben in Zeiten starker Veränderungen in allen Bereichen, in der Gesellschaft, in der Politik, in der Kultur. In diese Veränderungen sind die christlichen Kirchen unmittelbar eingebunden. Es wird viel über die Kirchenfinanzen geredet, aber diese sind noch vergleichsweise stabil. Es gibt aber einen langfristigen und unübersehbaren Mitgliederschwund. Vor allem aber: Die kulturelle Prägekraft schwindet kontinuierlich, die gesellschaftlichen Kommunikationsformen ändern sich nicht zuletzt auch durch die digitalen Medien tiefgreifend, die Kirchen haben daran nur sehr begrenzt Anteil. Das aktuelle Akademiegespräch habe ich mit PD Dr. Christina aus der Au geführt, die im vergangenen Jahr des Reformationsjubiläums Präsidentin des Evangelischen Kirchentages in Berlin und unmittelbar an der Gestaltung des Jubiläumsjahres beteiligt war. Das Jubiläum gibt Anlass, zurückzublicken und vorauszublicken. Auf diese Weise lässt sich der aktuelle Standort der evangelischen Kirchen genauer umschreiben.

 Vergleich von 1517 und 2017

Es ist gar nicht so weit hergeholt, das Jahr 1517 mit der heutigen Situation zu vergleichen. Beide Zeiten sind geprägt durch gravierende Veränderungen der Medien, der Kommunikationsformen in der Gesellschaft. Damals kamen die Flugblätter auf, eine Innovation des damals noch nicht alten Buchdrucks. Flugblätter, die in großer Zahl gedruckt wurden, mobilisierten mit einer zugespitzten Polemik, oft auch verbunden mit verzerrenden Bildern und bösartigen Karrikaturen. Heute gibt es in analoger Weise neue Medien, digitale soziale Netze, die Vorurteile und Hate Speech rasend schnell verbreiten. Damals wie heute ist die Verunsicherung durch die gesellschaftlichen Umbrüche groß.

Doch es gibt für die evangelische Kirche gravierende Unterschiede: Damals  waren die sich gerade erst bildenden evangelischen Kirchen sehr eng mit der medial-technischen Avantgarde  verknüpft. Luther war der meistporträtierte Mensch seiner Zeit. An den Flugblättern der evangelischen Autoren haben die Drucker gut verdient. Heute dagegen haben viele kirchliche Akteure eine erhebliche Distanz zu dem Umbruch durch die neuen digitalen Medien. Wenn man allein auf die Mächtigkeit anonymer Algorithmen schaut oder auf den Datenmissbrauch, so ist diese Skepsis berechtigt, lässt aber die gemeinschaftsstiftende Potentiale des Digitalen außer Acht.

Das Reformationsjubiläum als Gradmesser für den Stand heute

Ein weiterer Unterschied: Zu Beginn des 16. Jahrhunderts waren die religiösen Umbrüche und damit auch die evangelischen Akteure im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit. Heute bedarf es für die Kirche vieler Agenturen und Sonderanstrengungen, um die Aufmerksamkeit der Gesellschaft zu gewinnen.

So kann das Reformationsjubiläum auch als Gradmesser für den Situation der evangelischen Kirchen heute gelesen werden. Die gute Nachricht ist, dass sich die ökumenischen Kontakte, vor allem die Verbindung zur katholischen Kirche, deutlich verbessert haben. Zugleich fällt es aber den evangelischen Kirchen immer schwerer zu sagen, was ihr Eigenes ist, woraus sie ihre Identität ableiten. Viele Symbole und Veranstaltungsformen suchten durchaus erfolgreich die Nähe zu anderen gesellschaftlich erfolgreichen Formaten, wobei sie die  theologische Standortbestimmung eher in den Hintergrund treten ließen. Die Erkenntnis der Reformatoren, dass Gott ohne alles menschliche Zutun die Sünder gerecht spricht, ist vielen Menschen heute fremd geworden. Es hat sich aber keine andere zentrale Formulierung der befreienden Botschaft des Evangeliums etabliert. Es fällt schwer, angesichts heterogener Milieus noch in allgemein verbindlicher Weise zu sagen, was der theologische Gehalt der evangelischen Tradition ist. Der Theologie als dem Versuch, allgemeinverbindlich Auskunft über den christlichen Glauben zu geben, wird nur noch eine relativ geringe Bedeutung zugewiesen. Es scheint, dass das religiöse Individuum, das authentisch seinen Glauben leben soll, in das Zentrum der evangelischen Botschaft gerückt ist. Was aber in dieser Sichtweise unterbelichtet bleibt, ist die Frage, was die Individuen miteinander verbindet, die die evangelische Kirche ausmachen, vor allem aber die Frage, wie es dazu kommt, dass diese Individuen sich als evangelische Christen erleben.

Ein Blick in die Zukunft

Der Blick in die Zukunft ist naturgemäß unscharf. Aber es gibt gute Gründe, dass es künftig zentral um die Frage gehen wird, wie dem Gemeinschaftsgedanken wieder eine größere Bedeutung zukommen kann. Die evangelischen Kirchen werden nur dann zu neuer Stärke finden können, wenn sie auch deutlich machen, dass sie nicht nur ein Zweckverband christlich geprägter Menschen oder eine religiöse Geselligkeitsform sind. Zum christlichen Glauben gehört unauflöslich die Gemeinschaft der Glaubenden, der Glaube ist nichts, was ein Individuum aus sich selbst schöpfen kann.

Doch wie kann man der Gemeinschaft in der Kirche neue Kraft, neue Formen geben? Wie muss man in diesem Zusammenhang die Rolle der digitalen Medien einschätzen? Diese Fragen werden sicherlich im Mittelpunkt künftiger Diskussionen um die Entwicklung evangelischer Kirchen stehen. Christina aus der Au wies in dem Akademiegespräch auf die Bedeutung des Heiligen Geistes. Der Geist vereint in der biblischen Darstellung Einheit und Vielfalt auf elementare Weise: „jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden“ (Apg 2,6). Der Geist ermöglicht eine Einheit, eine Gemeinschaft unter Menschen, die dennoch die Differenz und Unterscheidungen nicht auflöst. Evangelische Kirchen der Zukunft sind dann solche, in denen jenseits aller Differenzen eine existentielle Gemeinschaft erfahren werden kann, sie sind Gemeinschaften, die die Individualität nicht verleugnen und doch gemeinsame Ausdrucksformen und eine gemeinsame Sprache über den Glauben entwickeln.

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