(4) Was ist radikale Hoffnung?

Hoffnung ist eine große Kraft in der Gegenwart. Doch diese Kraft bezieht sie weniger aus einer Fülle, sondern eher aus einem Mangel. Davon war schon in den vorigen Blogeinträgen die Rede: Hoffnung ist grundlegend durch einen Mangel an Wissen gekennzeichnet. Anders gesagt: Wer alles weiß, hofft nicht. Es gilt eben nicht die Formel: Mehr Wissen führt zu mehr Hoffnung. Zugleich gilt auch nicht die Formel: Weniger Wissen führt zu mehr Hoffnung. Und doch ist Hoffnung nur möglich, wenn das Wissen begrenzt ist. Der Mangel kann bei der Hoffnung nicht zu weniger, sondern zu mehr Kraft führen!

Hoffnung und Wissen

Nichtwissen ist natürlich schon dadurch gegeben, weil es um die Zukunft geht. Aber das Nichtwissen erfasst bei der Hoffnung auch schon die Gegenwart. Ernst Bloch beschreibt das „Dunkel des gelebten Augenblicks“. Daraus erwächst bei ihm Hoffnung. In dem theologischen Ansatz von Jürgen Moltmann ist es die Verheißung Gottes. Die Menschen wissen nicht, wie die Zukunft aussieht, sie hören auf die Verheißung.  

Radikales Nichtwissen

Was ist dann radikale Hoffnung? Es ist naheliegend zu folgern: Eine radikale Hoffnung ist jene Hoffnung, die Menschen haben, bei denen auch das Nichtwissen radikal wird. Radikale Hoffnung können nur jene Menschen entwickeln, die weder ein noch aus wissen, die keine Zukunft mehr sehen. Diese Definition legt tatsächlich auch das Buch von Jonathan Lear nah: „Radikale Hoffnung. Ethik im Angesicht kultureller Zerstörung“. In einem früheren Blogbeitrag bin ich auf dieses Buch schon eingegangen (link).

Das Schicksal der Crow

Lear untersucht und beschreibt das Schicksal einer bestimmten Volksgruppe der indigenen Bevölkerung Nordamerikas, der Crow. Im Mittelpunkt steht Plenty Coups, jener Häuptling, der in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts darin eingewilligte, dass die Crow in ein ihnen zugewiesenes Reservat umzogen. Im Zentrum von Lears Buch steht ein einprägsamer Satz von Plenty Coups: „Danach ist nichts mehr geschehen.“ Dieser Satz bezieht sich auf den Umzug. Warum sollte nichts nach dem Einzug ins Reservat mehr geschehen sein? Tatsächlich hat Plenty Coups noch viele Jahre erfolgreich Politik gemacht und ist in Washington immer wieder für die Interessen seines Volkes eingetreten.

Dieser Satz weist darauf hin, dass es für das Volk der Crow mit dem Umzug in das Reservat einen völligen kulturellen Umbruch gab. All ihre Symbole, ihre Erzählungen, ihre sozialen Rollen, ihre Ideale funktionierten mit einem Mal nicht mehr. Der Umzug in das Reservat stand für einen tiefgreifenden, für einen radikalen kulturellen Umbruch. Das Neue, das, was die Menschen erwartete, war mit ihren Mitteln nicht beschreibbar, deshalb die Formulierung: Danach ist nichts mehr geschehen.

Umbruch der Lebensformen

Lear macht in nüchterner Distanz deutlich, dass es nicht um eine kurzschlüssige Romantik geht, also darum, die Lebenssituation der Crow vor dem Umzug schön zu malen. Für die Crow gab es zwei bedeutende Ereignisse in ihrem Leben: Die Jagd der Büffel und der ständige Krieg mit den Sioux. „Einen Coup setzen“ bedeutet, einem Todfeind im Kampf eine Grenze zu zeigen und diese mit Einsatz des Lebens zu verteidigen. Lear stellt das Leben der Crow durch und durch kriegerisch dar.

Doch um eine Beurteilung der Lebensform geht es ihm nicht. Es geht ihm um den radikalen kulturellen Einbruch, den die Crow erleben und durchleben mussten durch den Umzug ins Reservat. Wie sollten sie in dieser Situation positiv in eine ihnen völlig unzugängliche Zukunft schauen?   Ihr Wissen um das, was sich von da an entwickeln sollte, war radikal begrenzt. Eine solche Nullpunktsituation ist nach Lear aber zugleich der Ort radikaler Hoffnung.

Radikale Hoffnung als radikale Kraft

Radikale Hoffnung hat nichts mit Optimismus zu tun, nichts mit der treuherzigen Devise: „Es wird schon irgendwie gut gehen.“ Radikale Hoffnung ist eher die Fähigkeit, bei einem totalen Abbruch der Sinnzusammenhänge weiter zu leben und das Leben zu gestalten, neuen Sinn zu schaffen. Das ist eine erstaunliche Fähigkeit, die Selbstaufgabe läge näher. Diese „Tugend“ mussten die Crow ausbilden, um zu überleben. In diesem Sinne kann es offenkundig für Menschen und Gemeinschaften, die vor einem tiefgreifenden kulturellen Neuanfang stehen, den Weg der radikalen Hoffnung geben.  

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Autor: Frank Vogelsang

Ingenieur und Theologe, Direktor der Evangelischen Akademie im Rheinland, Themenschwerpunkt: Naturwissenschaften und Theologie

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