Nach einem ersten sprachlosen Entsetzen, entsteht in den westlichen Medien im Verlauf des Krieges immer mehr eine Deutung des russischen Überfalls, die stark auf die führenden Personen abzielt: Auf der einen Seite steht Wladimir Putin auf der anderen Seite Wolodymyr Selenskyj. Vor allem Putin ist in den Darstellungen immer mehr isoliert: Es ist Putins Krieg. Die Kommentare fragen nach seinen Interessen, seinen Plänen, seinen Erwartungen oder Enttäuschungen.
Die Inszenierung des Kreml
Diese Fokussierung auf die Person Putin scheint auch vom Kreml gewollt zu sein. Vor dem Einmarsch war Putin in der Regel allein zu sehen. Da war der lange Tisch, an dem er seinen Besuchern auf 6 Meter Abstand begegnete. Da war die Einschwörung der Regierungsmitglieder kurz vor dem Einmarsch, bei der Putin allen anderen gegenüberstand. Vor allem die Ansprache zum Zeitpunkt des Einmarsches zeigt Putin als einsamen Kriegsherren, der in einem eigenartigen Winkel hinter seinem Schreibtisch sitzt, umgeben von Telefonen aus dem 20. Jahrhundert. Schließlich der Auftritt im Stadion, Putin steht allein auf der großen Bühne.
Die Resonanz in den Medien
In den folgenden Tagen wird auch in den westlichen Medien immer mehr auf die Person Wladimir Putin fokussiert. Da die Entwicklung nun für die russische Armee deutlich schlechter läuft, als diese angenommen hat, fragen sie nach dem Gefühlszustand Putins. Ist er wütend? Ebenso fragen sie angesichts des Atomwaffenarsenals besorgt nach möglichen Reaktionen: Wie kann Putin gesichtswahrend das Feld wieder verlassen? Droht nun eine Eskalation des Schlagabtauschs?
Langandauernde kulturelle Strömungen in Russland
Es gibt aber ältere Analysen der russischen Gesellschaft, die zeigen, wie sehr diese Fokussierung auf eine Person in die Irre führt. Der Slawist Ulrich Schmid hat schon 2015 das Buch „Technologien der Seele. Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur“ geschrieben. Er zeigt, kurz nach dem Übergriff Russlands auf die Krim, wie sehr das Handeln der russischen Regierung für bestimmte ältere kulturelle Strömungen in Russland steht. Der Autor nennt als Repräsentanten dieser Strömungen sehr viele russische Kulturschaffende, die alle miteinander eine tiefe Ablehnung des westlichen Liberalismus verbindet.
Drei antiliberale Ideen
Drei Ansätze sind es, die sich in der Gegnerschaft des Westens vereinen: Da ist die Idee vom Imperium. Russland, so die Annahme ist in erster Linie ein Imperium und kann nur als Imperium seiner Erfüllung nachkommen. Die Argumentation kann dabei ebenso am Zarenreich wie auch an der Vergangenheit der Sowjetunion anknüpfen. Was auch immer Russland ist, es ist nicht einfach ein Land unter anderen, es ist ein besonderes Land, das auf Größe ausgerichtet ist. Das Imperium umfasst mindestens die drei Länder Weißrussland, Großrussland und die Ukraine (hier oft Kleinrussland genannt). Die zweite Idee ist die des sakralen Russlands. Hier geht die Deutung des Landes eine enge Verbindung mit der russisch-orthodoxen Kirche ein. Eine Theorie redet von dem dritten Rom. Moskau als Zentrum der russisch-orthodoxen Kirche ist das dritte Rom nach Rom und Byzanz. Schließlich gibt es die Idee von Eurasien. Diese Vorstellung ist besonders überraschend. Der Überfall der Mongolen im Hochmittelalter, dem der erste Verband der Rus zum Opfer fiel, wird positiv gewertet: Das Mongolenreich ermöglichte eine eurasische Kultur, die bis heute Bestand habe und die im Gegensatz zu der westlichen Kultur stehe.
Was nun irritiert: So offenkundig diese Strömungen sind, so wenig hat das die Politik gerade in Deutschland, aber auch des Westens bestimmt! Diese politischen Strömungen ernst zu nehmen, muss ja nicht bedeuten, dass damit ein Urteil über ganz Russland oder die russische Gesellschaft einher geht. Warum hat es nicht schon viel früher eine Wahrnehmung dieser langfristigen Tendenzen gegeben, warum sind diese Erkenntnisse nicht etwa in die Diskussion um Nord Stream 2 eingeflossen? Warum hat man sie nicht ernst genommen, wenn es darum ging, die europäische Energiepolitik auszurichten? Deutschland hat hier ohne Zweifel eine besonders unrühmliche Rolle, doch auch andere europäische Staaten haben sich schließlich darauf eingelassen.
Was ich nicht mag, sehe ich nicht?
Es scheint eine eigentümliche Schwäche des Westens zu geben, jene Kräfte wahrzunehmen und ernst zu nehmen, die ihm entgegenstehen, die von ihm selbst ablehnt werden. Diese Schwäche zeigt sich eine Folge von fatalen Fehlinterpretationen und Fehlentscheidungen: Die USA überfällt mit fadenscheinigen Argumenten den Irak und verhebt sich im Anschluss an einem „Nation-Building“. Ähnliches gilt für Versuche nach dem Krieg gegen Gaddafi in Libyen einen stabilen Staat aufzubauen. Dann die eklatante Fehleinschätzung der Verhältnisse in Syrien. Hier kann sich sogar in den Trümmern der Staaten Syrien und Irak für eine kurze Zeit der IS Staat etablieren. Schließlich ist die Unfähigkeit des Westens zu nennen, in 20 Jahren Militärintervention in Afghanistan eine halbwegs funktionierende Gesellschaft aufzubauen. Und nun folgt die große Überraschung über das aggressive und völkerrechtswidrige Handeln Russlands, das aber ganz in einer Linie mit den skizzierten älteren politischen Strömungen in Russland steht. All diese fatalen Entwicklungen hätten eine andere Wendung nehmen können, wenn der Westen wachsamer für kulturelle und politische Gegenströmungen gewesen wäre!
Henry Kissinger scheint all das vorausgesehen zu haben:
https://www.henryakissinger.com/articles/how-the-ukraine-crisis-ends/.
Um so größer ist auch meine Betrübnis, dass deutsche Aussenpolitik das so gar nicht im Blick hatte.
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Danke für den Texthinweis!
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