Eine eigentümliche Kraft der Gegenwart: die Hoffnung

Handeln in Zeiten der Unsicherheit

Wie auch immer die Bundestagswahl ausgehen wird, den meisten ist klar, dass sich die Verhältnisse tiefgreifend ändern müssen, wenn die Klimaziele auch nur annähernd erreicht werden sollen. Wir durchleben eine Zeit der Unsicherheit, in der entscheidende Fragen, die alle spüren, von den politischen Akteuren nicht angesprochen werden. Was kann bleiben von unserer Lebensweise, was muss sich ändern? Es ist nicht von ungefähr, dass in dieser letzten Phase des Wahlkampfes das Thema der sozialen Sicherheit nach oben schnellt.

In Zeiten der Unsicherheit ist Zuversicht vonnöten, die Handeln ermöglicht. Diese Zuversicht ist von Hoffnung geprägt. Es ist nicht eine kleinmütige Hoffnung, die vermutet, dass es schon irgendwie gut ausgehen wird. Es ist vielmehr die Hoffnung, die auch bei einer schlechten Entwicklung nicht aufgibt, eine Beherztheit bei unklaren Bedingungen.

Wie kann man in Zeiten radikaler Unsicherheit handeln? Was ist Hoffnung? Manchmal kann man von Extremen lernen. Der amerikanische Philosoph Jonathan Lear hat sich in einem Buch intensiv mit dem Schicksal und der Geschichte des nordamerikanischen indigenen Volkes der Crow auseinandergesetzt. Dieses Volk durchlebte durch die Zuweisung in ein Reservat eine Zeit massiver kultureller Zerstörung. Doch dem stand eine radikale Hoffnung entgegen. Das Buch von Lear hat den Titel „Radikale Hoffnung. Ethik im Angesicht kultureller Zerstörung“. Es schildert eine Form extremer Verletzlichkeit und enthält doch auch darüber hinaus Lehren für alle Zeiten von kulturellem Wandel, von Unsicherheit.

Das Schicksal der Crow

Die Geschichte der Crow in den wichtigsten Zügen: Die Crow sind ein indigenes Volk Nordamerikas, das in den vergangenen Jahrhunderten in den Weiten der Prärie östlich der Rocky Mountains beheimatet war. Sie lebten nomadisch und konzentrierten sich vor allem auf die Büffeljagd. Das Volk, das über Generationen bekämpft wurde, waren die Sioux. Die Lebensweise war kriegerisch, junge Männer sollten sich im Kampf erweisen oder sterben.  Lear demonstriert das an der Sitte des „Coup“ Machens. Einen Coup machen bedeutete, eine Linie zu ziehen, die der Feind nur bei Verlust des eigenen Lebens überwinden soll. Der Tod in diesem Kampf war ehrenvoll. Über Jahrhunderte lebten die Crow so von Büffeljagd und zogen von einem Ort zum anderen. Es geht in der Darstellung Lears nicht um Romantik, nicht um die moralische Vorzüglichkeit einer naturorientierten Lebensweise. Aber es geht um die Selbstbestimmung eines Volkes und um seine kulturelle Verletzlichkeit.

„Danach ist nichts mehr geschehen.“

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts drangen immer mehr europäische Siedler in die Gegend vor. Über mehrere Stufen wurde das Land, in dem sich die Crow bewegen konnten, verkleinert, schließlich zogen sie in den 80er Jahren in ein Reservat. Der Häuptling, der sie dabei geleitet hat, war Plenty Coups. Er steht im Mittelpunkt der Beschreibungen von Jonathan Lear. Auf dessen Memoiren, die er in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts jemanden diktiert hatte, ist Lear aufmerksam geworden. Dort findet sich der zentrale Satz: „Danach ist nichts mehr geschehen.“ Der Satz beschreibt den Moment, als die Crow ins Reservat zogen. Er meint nicht, dass die Crow sich aufgaben oder in einer Depression versanken. Im Gegenteil, Plenty Coups hatte auch später ein hohes Ansehen in Washington DC, repräsentierte dort des Öfteren die indigene Bevölkerung und konnte mit einer geschickten Politik zugunsten seines Volkes intervenieren.

Lear geht es um etwas anderes: Was auch immer geschah, als die Crow in das Reservat zogen, als sie nicht mehr Büffel jagten, es war im Rahmen ihrer eigenen Traditionen und kulturellen Begriffe nicht darstellbar. Mit dem Einzug ins Reservat geschah ein radikaler Abbruch ihrer narrativen Traditionen. Es geht um die kulturelle Selbstbestimmung eines Volkes, die damals zerstört wurde. Im Kontext ihrer eigenen Erzählungen, die die Kämpfe mit den Sioux thematisierten oder die Jagd der Büffel oder tapfere Taten der Beharrung, Coup machen genannt, gab es keine Ausdrucksmöglichkeiten für ein sesshaftes Leben in gesicherten Verhältnissen. Ihre Begriffe und ihre Erzählungen konnten das nicht abbilden. Alles in allem erlitten die Crow durch die Übersiedlung in ein Reservat eine radikale kulturelle Zerstörung. Solch ein Abbruch führt nicht einfach zu dem Beginn von etwas Neuem, sondern zunächst zu einer Fassungs- und Ausdruckslosigkeit. „Danach ist nichts mehr geschehen.“

Menschliche Verletzbarkeit

Lear interpretiert diesen Abbruch über das Schicksal der Crow hinaus als eine fundamentale Erfahrung menschlicher Verletzlichkeit. Sie führt zu der Anerkennung der eigenen Verletzlichkeit, vor allem der Verletzlichkeit einer sozialen Gemeinschaft, einer Kultur, einer Zivilisation. Die Erfahrung, in einer scheinbar stabilen Kultur zu leben, ist immer von der Ahnung begleitet, dass diese Kultur auch ein Ende erleben kann. Lear bezieht sich auch auf die Naturkatastrophen, denen viele Menschen in unserer Zeit ausgesetzt sind.

Die radikale Hoffnung als Antwort

Radikale Hoffnung korrespondiert nach Lear mit diesem radikalen kulturellen Abbruch. Das Leben der Crow ging ja weiter. Obwohl Plenty Coups dafür keine Worte hatte, gab er sich und sein Volk nicht auf, sondern richtete sich auf eine unbekannte und unbestimmbare Zukunft aus. Entscheidend ist ein symbolischer Traum, den Plenty Coups hatte und der ihn aufforderte, sich auf Neues einzulassen. Der Traum handelt von einer Meise. Er sah sich aufgefordert, dem Unbekannten gut zuzuhören, so wie das eine Meise tut, um dann so handeln zu können, dass die eigenen Interessen gewahrt bleiben. Radikale Hoffnung ist eine Möglichkeit von Menschen in Ausnahmesituationen, im Angesicht eines radikalen kulturellen Abbruchs, eines großen Verlustes. Sie bezeichnet die Fähigkeit, über den Abbruch hinweg, sich auf das Unbekannte einzulassen. Hier ist kein Bezug auf eine objektive Welt, die Menschen stolpern in das Offene. Hier ist auch kein Sehnen auf eine bessere Zukunft, die beschreibbar wäre. Es geht vielmehr auch bei der radikalen Hoffnung vor allem um das Bestehen in der Gegenwart.

Radikale Hoffnung als Extrem einer allgemeinen Fähigkeit?

In einer Fußnote vergleicht Lear, der Jude ist, diesen Bruch mit der Zerstörung des Tempels durch die Römer 70 nach Christus.  Plenty Coups engagierte sich für die Lebensbedingungen seines Volkes und war darin sehr erfolgreich. Lear schließt mit dem Resümee: „Obwohl er also für eine neue Lebensweise der Crow eintrat, schöpfte der dabei auf lebendige Weise aus der Vergangenheit. Wie ich es daher sehe, spricht vieles dafür, dass Plenty Coups den Crow einen traditionellen Weg nach vorne eröffnet hat.“

Einen Weg nach vorne kann die so verstandene Hoffnung auch heute weisen. Natürlich ist alles, was wir erleben nur ein schwacher Reflex jener dramatischen Situation, die die Crow durchleben mussten. Und doch kann das Extrem ja vielleicht auf Kräfte weisen, die auch in Zeiten geringerer Unsicherheit gelten. Die Hoffnung ist dann eine Kraft der Gegenwart, die es möglich macht, sich auf eine unbekannte Zukunft einzulassen, die anders sein wird als das, was wir gewohnt waren und gewohnt sind. Die Hoffnung, das zeigen die Ausführungen von Lear zur radikalen Hoffnung, ist eine eigentümliche Kraft der Gegenwart

Autor: Frank Vogelsang

Ingenieur und Theologe, Direktor der Evangelischen Akademie im Rheinland, Themenschwerpunkt: Naturwissenschaften und Theologie

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