Warum Vertrauen? Eine kleine Einführung

Mit diesem Blogbeitrag beginne ich eine Reihe, die sich mit dem Phänomen „Vertrauen“ auseinandersetzt. Warum „Vertrauen“? Vertrauen ist eine grundlegende Dimension menschlicher Existenz. Es ist grundlegend für alle zwischenmenschlichen Beziehungen, soziale Formen können ohne ein Mindestmaß an Vertrauen nicht existieren. Es geht dabei nicht nur um das Vertrauen, das ein Mensch zu einem anderen haben kann. Es geht vielmehr auch um das Vertrauen in zwischenmenschliche Strukturen, in Formen der Verbundenheit. Das können mehr oder weniger formale Strukturen sein, Nachbarschaften, Freundeskreise auf der einen Seite, Staat und Kommunen, Vereine, Parteien, Kirchen auf der anderen Seite. Wenn wir uns auf soziale Beziehungen einlassen, müssen wir ihnen gegenüber auch Vertrauen haben: Vertrauen, dass ein Wort gilt, Vertrauen, dass eine Regel gilt, Vertrauen, dass eine Zusage gilt. In eine kurze Formel gefasst: Vertrauen ist der Kitt menschlicher Gesellschaften.

Aktuelle Signale des Mißtrauens

Vieles deutet nun darauf hin, dass diese grundlegende menschliche Erfahrungsdimension in der kommenden Zeit in unserer Gesellschaft an vielen Stellen besonders herausgefordert, besonders gefährdet ist. Viele aktuelle Debatten zeigen, wie brüchig bislang zweifelfreies Vertrauen heute schon ist. Das zeigt sich auf der einen Seite in der Bereitschaft, Verschwörungstheorien zu folgen, die ja immer auch ein starker Ausweis von Misstrauen sind, das zeigt sich aber auch auf der anderen Seite in dem Unwohlsein, ob es vielleicht untergründige gesellschaftliche Bewegungen gibt, die das Ganze gefährden, wenn etwa „Volksaufstände“ befürchtet werden.

Eine Gesellschaft „im Stress“

Vertrauen als eigenständiges Thema gerät schnell in den Hintergrund, wenn das Leben „in geregelten Bahnen“ verläuft, wenn die nahen Menschen sich verlässlich zeigen, wenn die gesellschaftlichen Systeme funktionieren, wenn die Bedürfnisse weitgehend befriedigt werden können, kurz, wenn wir uns „aufgehoben“ fühlen. Das aber ändert sich in Krisenzeiten. Krisenzeiten führen zu vielfältigen Verunsicherungen und damit auch zur Belastung von Vertrauensstrukturen.

Wir bewegen uns nun nach einer längeren Phase der Beständigkeit und Konsolidierung in Deutschland (die Zeit nach der Finanzkrise 2008) aktuell auf eine Zeit multipler Krisen zu: die Pandemie, der Krieg, die Inflation, die Energieversorgung. Die Gesellschaft gerät in eine erhebliche Stresssituation. In diesen Zeiten zeigen sich jene gesellschaftlichen Risse deutlicher, die schon vorher da waren, die aber nicht so stark wahrgenommen wurden. Da Vertrauen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen sich ganz unterschiedlich zeigen kann, macht es Sinn, die Bereiche gesondert zu betrachten. Genau das soll in den folgenden Blogbeiträgen geschehen.

Die Linkliste zu den einzelnen Beiträgen findet sich unter diesem Artikel.

Die Wirtschaft:

Hier sind die Anlässe ein Schwinden des Vertrauens besonders vielfältig: Können wir unserer Währung noch vertrauen? Kann ich noch der Rentenzusage vertrauen? Können wir noch einem allgemeinen Versprechen einer Wohlstandssteigerung vertrauen, die in den vergangenen Jahren so unhinterfragt zu gelten schien? Können wir vertrauen, dass es in der Gesellschaft in der Verteilung zumindest einigermaßen gerecht zugeht?

Die nationale Politik:

Umfragen zeigen eine wachsende Entfremdung vieler Menschen gegenüber den politischen Parteien aus sehr unterschiedlichen, manchmal gegensätzlichen Gründen. Kann die Politik wirklich die sozialen Verwerfungen und Ungerechtigkeiten verhindern, die durch die Krisenhäufung drohen? Hat die Politik wirklich den Willen, die notwendige ökologische Transformation mit allen Konsequenzen zu gestalten?

Die internationale Politik:

Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine vertraut Russland im Westen niemand mehr. Aber wie ist es mit China, mit dem Iran, mit Katar, Saudi-Arabien? Diese Reihe ließe sich mühelos fortsetzen.

Die Wissenschaft:

Impfgegnern zweifeln an der Wirksamkeit der Impfstoffe, andere vermuten Inszenierungen oder bösartige Geschäftsideen. In der Corona Pandemie zeigt sich aber nur, dass das Misstrauen vieler Menschen in die evidenzbasierte, wissenschaftliche Medizin schon in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsen ist.

Führende Medien:

Gerade in diesem Jahr wurden etliche Skandale in den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten aufgedeckt und intensiv diskutiert. Aber auch die digitalen Medien sind in einer Vertrauenskrise, der Kauf von Twitter durch Elon Musk irritiert, der erratische Kurs von Zuckerberg mit dem Meta Projekt verstört die Nutzerinnen und Nutzer. Hinzu kommt eine Kommunikation, wo eine Aufregung die andere jagt, oft bleibt undeutlich, was davon Fake oder fakt ist.

Die Kirchen:

Insbesondere in der katholischen Kirche wächst mit jeder Missbrauch-Nachricht das Misstrauen. Das Misstrauen breitet sich ökumenisch aus, der Institution Kirche werden unabhängig der Konfession verdeckte, selbstbezogene Interessen zugesprochen.   

Die Kultur:

Welche kulturellen Traditionen sind akzeptabel, welche dagegen sind nur Begleiterscheinungen einer auf Unterdrückung anderer ausgerichteten kolonialen Kultur? Was transportiert die herkömmliche Sprache, welche Aussageformen sind zulässig, welche zu meiden? Wer sagt was und wie? Die Sprache wird immer mehr zu einem Feld der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Die Diskussion um die Documenta 15 hat jenseits der konkreten Vorwürfe gezeigt, wie schnell Misstrauen auch in der internationalen Kulturszene entstehen kann.

Der Sport:

Gerade in seinen internationalen Erscheinungen ist der Sport immer stärker mit intransparenten Geschäftsideen verflochten. Warum finden die Großereignisse in diesem, nicht in jenem Land statt? Durch die weltweite Aufmerksamkeit sind diese Großereignisse mit viel Geld verknüpft. Eine Missbrauchsdebatte bahnt sich hier erst gerade an.

Die zwischenmenschlichen Beziehungen: In einer hoch individualistischen Gesellschaft ist zwischenmenschliches Vertrauen stets eine herausgeforderte Größe, sofern sie vertragliche Verhältnisse überschreitet. Wie verbindlich ist eine Zusage, wie tragfähig diese Freundschaft, bewährt sich jene Beziehung auch morgen noch? Ist eine Gemeinschaft auf Dauer gestellt oder zerfällt sie schon in kürzerer Zeit?

Es gibt also viel Diskussionsstoff zum Thema Vertrauen! Bevor die einzelnen gesellschaftlichen Bereiche näher betrachtet werden, soll in dem kommenden Beitrag gefragt werden, warum wir Menschen ohne Vertrauen nicht auskommen können, warum es ein so grundlegendes menschliches Bedürfnis ist.

Vertrauen in der Philosophie

Vertrauen in der Wirtschaft

Vertrauen in der Politik

Vertrauen in die Wissenschaften

Judith Butlers Plädoyer für Gewaltlosigkeit inmitten ambivalenter menschlicher Beziehungen

Im letzten Jahr hat Judith Butler ein Buch zum Umgang mit Gewalt veröffentlicht: „Die Macht der Gewaltlosigkeit. Über das Ethische im Politischen“, Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. Gewalt, so ihr zentraler Gedanke, lässt sich nicht auf das Handeln einzelner Personen isolieren, Gewalt ist immer ein soziales Geschehen: „In einem bestimmten Sinne ist Gewalt, die einem anderen angetan wird, auch Gewalt, die dem Selbst angetan wird, aber nur dort, wo die Beziehung zwischen ihnen sie auf grundlegende Weise definiert.“ (S. 20) Das „Selbst“ und der „Andere“ sind zutiefst verbunden, nur, wenn das wahrgenommen wird, kann es auch gelingen, Gewalt durch Gewaltlosigkeit zu überwinden. Dies ist einer der zentralen Gedanken des Buches von Butler. Denn der soziale Bezug ist für Menschen elementar, eine Politik eine Ethik der Gewaltlosigkeit kann nicht davon absehen. Damit setzt die Autorin einen Kontrapunkt zu der hegemonial gewordenen Vorstellung vom Menschen als Individuum. Sie stellt fest, „dass die überzeugendsten Gründe für eine Ethik der Gewaltlosigkeit  direkt eine Kritik des Individualismus implizieren und ein erneutes Durchdenken der sozialen Bindungen erfordern, die uns als lebendige Wesen konstituieren.“ (S. 28)

Die fundamentale Bedeutung sozialer Verbundenheit

Die Bedeutung der sozialen Verbundenheit für das Verständnis des Menschen ist auch in diesem Blog von zentraler Bedeutung. Die soziale Verbundenheit lässt sich aus einer genaueren Analyse der Bedingungen leiblicher Existenz von Menschen ableiten. Es geht dabei nicht darum, die Individualität zu ignorieren, es geht aber darum, Individualität und Singularität auf der Grundlage sozialer Beziehungsgeflechte entscheidend zu relativieren: „Singularität und Abgrenzung existieren, aber sie bilden ausdifferenzierte Merkmale von Wesen, die kraft ihrer wechselseitigen Beziehungen existieren.“ (S. 30)  Jede Reduzierung auf ein isoliertes Individuum führt zu einer Verzerrung, die nach Butler nicht als Grundlage für eine Ethik und eine Politik der Gewaltlosigkeit dienen kann. Natürlich sind damit noch viele Fragen und Probleme ungelöst: Wie wird Gewalt interpretiert bzw. was wird in einer Gesellschaft auch nicht als Gewalt interpretiert? (vgl. S. 27) Wie kann man verhindern, dass die Rechtfertigung von Gewalt einer instrumentellen Logik folgt? (vgl. S. 32)

Konflikte gehören zu menschlichen Beziehungen

Butler betont immer wieder: Menschliche Verhältnisse lassen sich durch keinen Ansatz konfliktfrei gestalten. Viele Widrigkeiten und Widersprüche bleiben, auch wenn man dem von Butler vorgeschlagenen Weg folgt: Es gibt „keine Praxis der Gewaltlosigkeit ohne grundlegende ethische und politische Ambiguität; das heißt, dass ‚Gewaltlosigkeit‘ kein absolutes Prinzip ist, sondern eine andauernde Anstrengung bezeichnet.“(S. 38) Butler weist immer wieder darauf hin, dass auch soziale Beziehungen nicht einfach das Gute in die Welt bringen, sondern ebenso sehr Ursache von Konflikten sein können. Konflikte gehören „potentiell zu jeder sozialen Bindung“ (S. 55). Butler vertritt also keine romantisierende Vorstellung von gelingender sozialer Verbundenheit, sondern sieht in den so betonten „Abhängigkeiten und Interdependenzen“ (S.80) immer auch eine Quelle einer Vielzahl von Problemen. Dennoch kann man nicht von ihnen absehen. Im Gegenteil, wenn man beim Individuum ansetzt, ist der Weg zur Gewaltlosigkeit auch systematisch verbaut. Denn soziale Verbundenheit kennzeichnet menschliche Verhältnisse von Grund auf. Butler betont: „ Wir alle wurden, unabhängig von unseren späteren politischen Auffassungen, in einen Zustand radikaler Abhängigkeit hineingeboren.“ (S. 58) Weiterhin gilt, „dass wir mit dem Erwachsenenwerden die Abhängigkeiten der Kindheit nicht überwinden. „(S. 59).

Betrauerbarkeit als Basis universeller Würde

Verbunden sind Menschen aber immer nur in begrenzter Zahl miteinander. Wie gelingt es dann, einen universalen Anspruch analog der Menschenwürde zu etablieren? Butler führt als Grundlage für universale Werte den Begriff der „Betrauerbarkeit“ ein. Nur dann, wenn Menschen betrauerbar sind, haben sie einen fundamentalen Wert. Nur wenn alle Menschen betrauerbar sind, gilt dieser Wert universal. Jeder kulturelle oder nationale Ausschluss gefährdet die Betrauerbarkeit. Sie bietet die Basis der Menschenwürde. Es ist offensichtlich, dass Butler den etwas ungewöhnlichen Begriff der „Betrauerbarkeit“ einführt, um die universale Menschenwürde aus den sozialen Beziehungen abzuleiten, nicht aus der Existenz von Individuen. Ethischen Beziehungen gründen in einer wechselseitigen dyadischen Verbundenheit: „Ich betrachte dich als betrauerbar und wertvoll, und du betrachtest mich vielleicht ebenso.“ (S. 99) Der Begriff der Betrauerbarkeit bleibt dennoch sperrig, es fragt sich, ob ethische Verhältnisse nur mit der äußersten Grenze des Todes begründet werden können. Es wäre meiner Ansicht nach auch möglich, die Menschenwürde aus dem sozialen Zusammenhang direkt abzuleiten, nämlich so, dass der beurteilende Mensch sich in gleicher Weise als Mensch erkennt wie der beurteilte Mensch. Die Verbundenheit, die dann aufscheint, ist existential.

Verbundenheit von Kindheit an

Butler entwickelt weitere Argumente der ethischen Grundlegung zwischenmenschlichen Verhaltens unter anderem unter Bezug auf Immanuel Kant und Sigmund Freud, was nicht immer überzeugt, da beide ihren oben skizzierten Grundansatz ja eher nicht teilen. Anders ist es bei der ausführlichen Darstellung der Psychoanalytikerin Melanie Klein. Klein zeigt all die Ambivalenz zwischenmenschlicher Beziehungen auf zwischen Liebe und Schuld und Butler resümiert in Bezug auf Klein, „dass hier die psychoanalytische Basis für eine Theorie der sozialen Bindung liegt.“ Klein kann gerade in Kleinkindanalysen zeigen, wie fundamental sich zwischenmenschliche Verbundenheit gestaltet, die in der Kindheit erworben wird. Die Analyse gipfelt in dem Satz: „ Das ‚Ich‘ lebt so in einer Welt, in der sich Abhängigkeit nur durch Selbstauslöschung überwinden lässt.“ (S. 127) Jede Ethik und Politik der Gewaltlosigkeit muss vor Augen führen, dass Gewaltlosigkeit nicht einfach ein altruistischer Zug ist, sondern etwas mit der Selbsterhaltung zu tun hat. Das gilt selbst dann, wenn diese Beziehungen von Konflikten geprägt sind, was nach menschlichem Ermessen wohl für fast alle Beziehungen gilt. Eine Ethik der Gewaltlosigkeit an diesen anknüpfen, „denn ich bin zum Erhalt dieser konfliktuellen Bindungen angehalten, ohne die ich selbst nicht existieren würde“. (S. 129f)

Butler verfolgt ihren Ansatz in weitere Gefilde, etwa das des Rechts. Hier orientiert sie sich an einer frühen Schrift von Walter Benjamin. Butler scheint hier nahe zu legen, dass jede Form des Rechts inhärent gewalttätig ist. Diese Folgerung erscheint mir zu weitreichend. Gerade wenn man annimmt, dass Konflikte zwischen Menschen unumgänglich sind, ist doch das Recht eine große zivilisatorische Errungenschaft! Die Analyse des Todestriebs bei Freud führt nach Butler in eine Sackgasse: Es ist für sie offenkundig, dass Freud nicht das genügende Instrumentarium hat, um die destruktiven Tendenzen menschlicher sozialer Bezüge klar zu benennen.

Gefährdung und Widerstand in allen menschlichen Bezügen

Zum Abschluss macht Butler auf einen äußerst wichtigen Punkt aufmerksam: Es ist gängig geworden, Betroffenengruppen zu identifizieren, gefährdete Gruppen von Menschen, die es zu schützen gilt. Klar ist, dass der humane Impuls von großer Wichtigkeit ist. In den Worten von Butler geht der Kampf dann darum, dass auch diesen Menschen Betrauerbarkeit zukommt. Jedoch entsteht dabei unbesehen schnell eine Asymmetrie. Die „Fürsorge“ für die Gruppen der Gefährdeten kann nach Butlers Ansicht nicht die Basis eine Politik der Gewaltlosigkeit sein. Dafür gibt es zwei Gründe: Einerseits plädiert Butler entschieden dafür, auch in den gefährdeten Menschen aktive und gestaltende Menschen zu sehen, die auf den Zustand der Gefährdung mit aktivem oder passivem Widerstand reagieren. Andererseits entsteht so eine Verengung der Perspektive, weil Gefährdung immer zu jeder menschlichen sozialen Beziehungen gehört und eine Einschränkung auf bestimmte Gruppen dazu führt, nur über andere nachzudenken. „Gefährdung durchzieht und bedingt soziale Beziehungen, und ohne diese Einsicht können wir kaum erfassen, welche substantielle Gleichheit hier gefragt ist. (…) Der Blick auf Gefährdung als Bestandteil des verkörperten sozialen Bezugs und Handelns hilft uns verstehen, wie und warum ganz bestimmte Widerstandsformen entstehen.“ (S. 233) Schließlich gilt Gefährdung nicht „als Eigenschaft des Subjektes, sondern als Merkmal sozialer Beziehungen“. (S. 243)

Mit Butler lässt sich festhalten: Neuere Entwicklungen in der Politik, die dazu tendieren, isolierte Identitäten zu betonen, müssen immer wieder auf die Tatsache sozialer Verbundenheit rückgebunden werden. Isolierte Individuen und Identitäten können nicht die Grundlage für eine Gesellschaft sein, die sich das Ziel der Gewaltlosigkeit gesetzt hat! Es muss darum gehen, bei den sozialen Beziehungen, bei der sozialen Verbundenheit anzusetzen, die immer ambivalent sind. Nur so kann es gelingen, einen realistischen Weg zu einer Gesellschaft, die von Gewaltlosigkeit geprägt ist, zu finden.

Damit setzt Butler auch ein kräftiges Korrektiv zu bestimmten Strömungen so genannter identitätspolitischer Bewegungen, ohne dass diese explizit genannt werden. Ihr eindringliches Plädoyer ist, die immer schon bestehenden sozialen Bezüge, in denen wir leben, in all ihrer Ambivalenz ernst zu nehmen. Nur so lässt sich eine Politik der Gewaltlosigkeit auf Dauer installieren. Eine Politik dagegen, die von einer eher unverbundenen Menge von Individuen ausgeht, die sich über bestimmte Eigenschaften definieren und unterscheiden, eine Politik also, die die Grundsätze des Liberalismus mit der Fokussierung auf das Individuum fortzuschreiben versucht, wird dazu nicht in der Lage sein.

Christlicher Glaube als Weggemeinschaft. Anmerkungen zu einem Buch von Christoph Nötzel

Christoph Nötzel hat ein gut und allgemein verständliches und zugleich theologisch fundiertes Buch zum christlichen Glauben geschrieben: „Glauben – Was ist das eigentlich? verstehen – leben – teilen“ (Neukirchener Verlag 2020, ISBN-10 : 3761567405, 287 Seiten, 20 Euro). Wir leben in einer Zeit, in der eine solche Arbeit dringend notwendig ist. Hatte noch vor 50 Jahren ein Buch über die christlichen Glauben eher die Funktion, die eigenen Traditionen zu bestätigen, sie noch einmal umfassend darzustellen, so ist heute jede Selbstverständlichkeit verloren gegangen und bis in die inneren Zirkel der verfassten Kirche eine Unsicherheit darüber groß, worauf sich der Begriff „Glaube“ eigentlich bezieht. Leichter fällt es, in den alltäglichen Debatten eine moralische Position zu beziehen als die Grundlagen des Glaubens darzulegen. Denn moralische Positionen werden in der Gesellschaft stark diskutiert, die Anschlussfähigkeit ist hoch. Wohl auch nicht zuletzt deshalb haben sich diese Debatten in der Kommunikation der Kirche in den Vordergrund geschoben.

Doch was genau meint es, wenn ein Mensch sagt, sie oder er glaube an Gott? Im ersten Kapitel beschreibt Christoph Nötzel n einer ersten Orientierung zum Thema unterschiedliche Erfahrungen des Glaubens. Das tut er nicht allgemein, abstrakt im Stile einer Dogmatik, sondern indem er immer auch bei sich selbst, bei seinen eigenen Erfahrungen ansetzt. Das ist folgerichtig, weil man heute nicht mehr leicht auf geteilte Überzeugungen und Erzählungen, schon gar nicht auf dogmatische Lehrsätze Bezug nehmen kann. Das zweite Kapitel behandelt den Glauben, wie er sich in den biblischen Texten widerspiegelt, sowohl in den Schriften der Hebräischen Bibel wie auch in den Schriften des Neuen Testaments. Es folgt im dritten Kapitel ein kurzer Abriss einiger herausgehobener Positionen der Geschichte der Theologie, von Augustinus über Luther und Dietrich Bonhoeffer bis hin zu Dorothee Sölle. Im vierten und letzten Kapitel schließlich stellt Nötzel die christliche Gemeinschaft als Basis für den Glauben dar.

Ich möchte mich hier auf das vierte Kapitel konzentrieren, weil der Autor dort eine alte theologische Einsicht betont, die leider in unserer Zeit aus dem Blick geraten ist: Der christliche Glaube ist nicht in erster Linie eine „innere“ Eigenschaft oder „innere“ Einstellung einzelner Menschen. Der Glaube ist vielmehr eine Erfahrung, die wir notwendigerweise in Gemeinschaft mit anderen, in Verbundenheit mit anderen Menschen und mit Gott machen! Der Glaube ist die Erfahrung einer Weggemeinschaft.

Der Glaube als individuelle Erfahrung

Üblicherweise konzentriert sich die Theologie in der Moderne gerne auf das „Subjekt des Glaubens“. Dieses Subjekt ist in der Regel der einzelne Mensch, der vielleicht eine Predigt hört und der zum Glauben kommt, zu einer festen persönlichen Überzeugung. Es gibt sehr unterschiedliche theologische Strömungen, die diese Fokussierung auf den Einzelnen gefördert haben. Da sind manche Strömungen des Pietismus und der Erweckungsbewegung, die die Bekehrungserlebnisse der Einzelnen betonen. Im Gottesdienst ist es gern gesehen, wenn ein einzelner Mensch nach vorne geht und Zeugnis ablegt davon, wie sie oder er zum Glauben gekommen ist. Aber auch in der großen konkurrierenden theologischen Strömung, der liberalen Theologie, steht es nicht anders. Hier bezieht man sich auf das Bewusstsein, des Gefühl, das subjektive Erleben von Einzelnen. Diese Haltung ist bis zum heutigen Tag in der Kirche dominant. Nicht selten lautet in kirchlichen Kreisen die Antwort auf die Frage nach dem Glauben, dass da jede, jeder ganz eigene Erfahrungen machen muss. Die Antwort ist auf der einen Seite entlastend, weil niemand vorschreibt, was sie oder er zu glauben hat. Aber zugleich ist jeder Mensch auf sich selbst zurück verwiesen, die Frage wird nicht von der Gemeinschaft aufgenommen, die Antwort wird nicht von einer Gemeinschaft getragen.

Der entscheidende Punkt ist aber nun: Es gibt ein Drittes zwischen einem autoritären Glauben, der von einer Institution vorgegeben wird und einem Glauben, den jede und jeder Einzelne für sich selbst finden muss! Dieses dritte ist die wechselvolle, die sich verändernde und sich immer wieder neu findende Weggemeinschaft der Glaubenden. Hier wird die wechselseitige Verbundenheit im Glauben nicht starr, sie wird aber auch nicht kaschiert. Als Weggemeinschaft wird sie immer wieder neu gestaltet!

Der Glaube als Erfahrung von Beziehung

Die Vorstellung des Einzelnen, die, der glaubt, ist tatsächlich eine Abstraktion, eine Fiktion. Christoph Nötzel stellt deshalb fest: „Am Anfang also ist Beziehung. Mit-Sein. Erst im Mit-Sein werde ich zum ICH.“ (S. 221). So wie sich kein Mensch aus sich selbst heraus selbst gestaltet, so ist der Glaube nicht eine innere Haltung, sondern eine bestimmte Weise der Verbundenheit mit anderen Menschen, mit Gott. „Glauben jedenfalls geschieht nicht bloß innerlich in mir. Zum Glauben braucht es immer einen Anderen.“ (S. 221) Auch gegenüber Gott ist der Glaube keine einsame Tätigkeit, sondern innigste Verbindung, Verbundenheit. „Von Gott kann deshalb nicht anders als in personhaft-menschlichen Bildern gesprochen werden.“ (S. 229) Unsere Verbundenheit mit anderen Menschen weist uns den Weg zur Verbundenheit mit Gott, auch wenn diese immer größer und umfassender ist. Denn mit Gott sind wir nicht nur verbunden, wir existieren durch ihn und werden von ihm gehalten. Der Glaube bringt diese elementare, ja radikale Verbundenheit zum Ausdruck.

Der Glaube aus und in einer geschichtlichen Gemeinschaft

Dieser Glaube ist nicht durch eine Theorie zu fassen. Er drückt sich in der Lebensgeschichte immer wieder neu aus. Keine Antwort ist dauerhaft und hinreichend. Glaubende Menschen setzen immer wieder neu an, um eine angemessene Ausdrucksform für den Glauben zu finden. Der christliche Glaube ist kein statisches Verhältnis, deshalb lebt er von Erzählungen und regt er zu Erzählungen an. „Mein Glaube ist geschichtlich. Er erzählt deshalb auch in Geschichten. Und er stellt mich zugleich in eine Geschichte.“(S. 230) Er vermittelt sich in und durch Sprache, durch Worte, menschliche Worte, die zum Wort Gottes werden können. “Der Glaube wird in Gemeinschaft weitergegeben.“ (S. 234) Diese Gemeinschaft  steht in einer wechselvollen Geschichte, in der sich ständig etwas ändert. Deshalb ändert sich auch die Gemeinschaft kontinuierlich, sie ist eine Weggemeinschaft. Die Gemeinschaft des Glaubens ist deshalb auch immer eine experimentelle, eine experimentierende Gemeinschaft (S. 265).

Der Glaube als Erfahrung von Weggemeinschaft

Die Kirchen befinden sich auf absehbare Zeit in einem gravierenden Umbruch. Die Volkskirchlichkeit werden sie verlieren. Damit verlieren aber auch konventionelle Ausdrucksformen an Bedeutung, wie „man“ vom Glauben redet. Die Institution „Kirche“ wird sich mit dem Wandel schwer tun, denn es ist für sie ein Schrumpfungsprozess. Es geht immer auch um Beschäftigte, um etablierte Arbeitsfelder, die nicht mehr fortgesetzt werden können. Doch ist dieser beschwerlich Wandel ist für die christliche Gemeinde nicht etwas völlig Neues, das über sie kommt. Sie war immer schon und ist auch heute experimentierende Gemeinschaft auf dem Wege, sie kann als Weggemeinschaft auf die Zusage Gottes vertrauen, dass er auch in schwierigeren Zeiten bei ihr sein wird, „bis an der Welt Ende“. Was braucht es mehr? Das Verständnis des christlichen Glaubens als Zeugnis der Weggemeinschaft zu fördern, das ist ein sehr wichtiger Beitrag des Buches von Christoph Nötzel.

Der Mensch als Egoist. Politische Analysen von Erik Flügge. Eine Rezension

Erik Flügge hat ein Buch veröffentlicht, das den kurzen und prägnanten Titel „Egoismus“ trägt. (Egoismus. Wie wir dem Zwang entkommen, anderen zu schaden, Dietz Verlag, Bonn 2020) Das Buch ist mit 111 Seiten von überschaubarer Länge, der Preis, den der Verlag angesetzt hat, ist aber auch nicht hoch, er beträgt 10 Euro.

Der Egoismus lässt sich nicht durch Moral einhegen

Der Egoismus hat nach Flügge in unserer Gesellschaft eine zwiespältige Rolle: Auf der einen Seite prägt er den Alltag und viele gesellschaftliche Strukturen, auf der anderen Seite aber wird er von den meisten als eine zu verurteilende Haltung abgelehnt. Flügge macht zu Beginn klar, dass er in dieser Ambivalenz ein Problem sieht. Er fragt pointiert: „Sind Sie ein Egoist? Ich hoffe doch. Alles andere wäre die blanke Unvernunft.“ (S. 13) Es ist hier und auch an vielen anderen Stellen des Buches eindeutig, was Flügge auf jeden Fall ablehnt, das ist eine Moralisierung des Problems. Im Text bezieht er sich immer wieder auf Moralisten, die für ihn  an der Oberfläche hängen bleiben, die nicht erkennen, wie fundamental der Egoismus für unsere Gesellschaft ist. Das zeigt sich auch bei politischen Wahlen: „Die moralische Rede vom Zusammenhalt erhält Applaus, weil sie eine Sehnsucht befriedigt, aber sie erhält keine Stimme,weil sie nicht mehr ist als eine hohle Phrase.“ (S. 20) Es steht seiner Ansicht nach außer Frage, dass man den verbreiteten Egoismus nicht mit moralischen Vorhaltungen einhegen kann. Immer wieder scheint durch, dass er eine solche Haltung verlogen findet, denn tatsächlich dominiert der Egoismus in vielen unserer Handlungen. Zwischen Egoismus und Zusammenhalt liegt die Freiheit

Ist der Egoismus nun ein Verhängnis? Nein, das ist er nicht, er ist für Flügge in gewisser Weise ein Pol eines Spektrums. Die Extreme des Spektrums sind problematisch:Der unbegrenzte Egoismus führt zu einer Ordnung der Unterdrückung. Der andere Pol ist bestimmt von absoluter Gleichheit und Gemeinschaft. Hier gilt zwar die Norm des Zusammenhalts, aber: „Egal wie sehr man behauptet, die Gemeinschaft sei offen für alle, so wird der Gedanke vom Zusammenhalt doch immer eine so starke innere Norm entfalten (…) eine Gesellschaft, in der Gleichheit zementiert wird und echte individuelle Freiheit stirbt.“ (S. 16) Beide, Egoismus und Zusammenhalt im Sinne der Anerkennung durch andere möchte Flügge gerne zusammen denken: „Nur zwischen diesen beiden Polen gibt es echte Freiheit für jedermann.“ (S. 15)

Die kluge Ordnung fördert beides, Egoismus und Zusammenhalt

Wie aber soll man mit der ständigen Gefahr eines Überhangs an Egoismus umgehen, wie soll man ihn eindämmen, so dass die Gesellschaft sich nicht in dieses eine Extrem entwickelt? Hierzu gibt Flügge die Losung aus, systemisch zu denken. Gesellschaften bestehen aus Regeln, wenn diese Regeln egoistisches Verhalten nicht eindämmen können, so muss man die Regeln ändern. Aber anders als es die von Flügge so zu Recht gescholtenen Moralisten tun. Es geht nicht darum, mehr Verbote zu erlassen oder das Handeln zu erschweren, vielmehr geht es darum, die Regeln auf kluge Weise so zu gestalten, dass sie den Egoismus nicht absolute Freiheit lassen, dass Zusammenhalt auch möglich ist: „Es geht also darum, systemisch gedacht, den Menschen in möglichst vielen organisierbaren Situationen zur Kooperation zu bringen (…).“ (S. 29)

Flügge unternimmt das Wagnis, in den folgenden kurzen Kapiteln des Teils „Die kluge Ordnung“ konkrete Vorschläge für Regeländerungen auf ganz unterschiedlichen politischen Feldern zu entwickeln. So macht er Vorschläge zur Finanzierung der Gewerkschaften, zu einer Linderung der kontinuierlichen Mietsteigerungen, zu einer gerechteren Bildung, zu mehr Ökologie und Verbraucherschutz. All diese Gedanken sind kurz ausgeführt und leuchten mehr oder weniger ein. Alle sind sicherlich innovativ gedacht, sie hangeln sich nicht entlang einer liberalen Doktrin der Freiheit des Einzelnen oder einer dogmatischen Doktrin der Umverteilung von Vermögen.

Institutionen müssen ihre Eigenart erkennen, um überleben zu können

In einem letzten Teil befasst sich Flügge mit großen gesellschaftlichen Institutionen, vor allem den Kirchen und den politischen Parteien. Der zentrale Satz zu den Kirchen lautet. „ Überall dort, wo Kirchengemeinden sich nicht um sich selbst, sondern um andere drehen, da sind sie stark.“ (S. 97) Flügge sieht die latente Gefahr der Selbstbeschäftigung der Kirchen. Die Gefahr ist in den kommenden Zeiten schwindender Mittel in der Tat manifest. Den Parteien empfiehlt er nicht luftige Visionen, sondern eine klare Gegnerschaft: „ Wer nicht weiß, wogegen man antritt, verliert auch alle Überzeugungskraft.“ (S: 107)Politik hat es in der Tat mit Konflikten zu tun. Auch hier zeigt Flügge, dass er aus guten Gründen einer Moralisierung von Politik wehren möchte.

Die Kritik: Auch der Egoismus setzt immer schon eine grundlegendere Verbundenheit von Menschen voraus.

In manchem  kann ich Flügge folgen, an entscheidenden Punkten aber möchte ich ihm widersprechen. Er ist offenkundig der Auffassung, dass die Gegenwart und auch die Zukunft von den gegenwärtigen gesellschaftlichen Systemen bestimmt sind, die Formen der Gemeinschaft und des Zusammenhalts veraltet sein lassen. „Unser System liefert keinen Gewinn aus Gemeinsinn mehr. Uns gingen Gott und Tradition verloren.“ (S. 22) So oder ähnlich formuliert er auch an anderen Stellen. Doch hier kommt mir die philosophische Analyse zu kurz. Flügge neigt dazu, den Status quo zu zementieren. Doch die gesellschaftliche Gegenwart, die wir erleben, ist in einer gesellschaftlichen und kulturellen Formation entstanden und sie wird sich weiter entwickeln. Das Gleiche gilt für das vorherrschende  Menschenbild. Der Mensch ist nicht einfach ein egoistisches Individuum. Natürlich gab es und gibt es immer egoistische Beweggründe. Man darf dies aber weder moralisieren, noch überhöhen. Bestimmte gesellschaftliche und kulturelle Strömungen der Gegenwart legen letzteres nah. Um aber ein vollständigeres Bild zu zeichnen, ist es meiner Ansicht nach unerlässlich, Zusammenhalt – ich würde ja den Begriff der sozialen Verbundenheit bevorzugen – auch analytisch genauer zu bestimmen. Er ist weit mehr als Anerkennung. Die Verbundenheit konstituiert den Menschen und gibt ihm die Grundlage, überhaupt erst einmal Individuum werden zu können: Aus der Verbundenheit heraus lernen wir sprechen. Aus der Verbundenheit heraus, eignen wir uns Werte an. Aus der Verbundenheit heraus, empfinden wir Treue zu manchen Menschen. Das sind keine veralteten Kategorien, schon gar nicht haben wir sie einfach verloren. Gerade die moderne Anthropologie (Michael Tomasello: „Mensch werden“) weist dies im Detail nach, hier ist es die geteilte Intentionalität. Theologisch: Gerade die Verbundenheit mit Gott bringt sich im Glauben zum Ausdruck. So sehr ich also in der Skepsis gegenüber kurzschlüssigen Moralisierungen übereinstimme, so sehr beschreibt Flügge eine ganze Dimension menschlicher Realität, die Verbundenheit, nur unzureichend. Mehr dazu: https://frank-vogelsang.de/soziale-verbundenheit/

Künstliche Intelligenz – auf dem Weg zu einem neuen Menschen?

Der Umgang mit digitalen Daten ist heute im Alltag nahezu unausweichlich: Wer ein Auto fährt, nutzt ein Navigationssystem. Wer Informationen zu einem beliebigen Thema erhalten möchte, nutzt die Funktionen der stets zugänglichen Suchmaschinen oder „schlägt“ bei Wikipedia „nach“. Telefonate, Fotografien und Filme, schriftliche Notizen: alles geschieht fast ausschließlich mit Hilfe digitaler Technologien. Durch die alltäglichen Aktivitäten entsteht weltweit eine unglaublich große Menge an Daten.

Wer beherrscht die moderne Datenflut?

Wer kann mit dieser schier unübersehbaren Menge von Daten umgehen? Menschen sind dazu nicht mehr in der Lage. Aber es gibt immer bessere Computerprogramme, die so schnell lernen wie neue Datensätze entstehen. Diese Computerprogramme haben hochspezialisierte Fähigkeiten, in denen sie den Menschen weit überlegen sind. Ist all das der Anfang vom Ende des Menschen? Werden künstliche Intelligenzen irgendwann die Herrschaft übernehmen, beherrschen uns dann Algorithmen, ja sind wir Menschen dann nur noch Algorithmen und vielen anderen, wie etwa der Erfolgsautor Noah Yuval Harari mutmaßt? Entsteht ein neues Wesen, eine künstliche Intelligenz, die für den Menschen selbst eine Bedrohung darstellt oder ihn in ganz neue Zeiten führt?

Der alte Traum vom künstlichen Menschen

Der Traum, dass der Mensch in der Lage sei, menschenähnliche Wesen zu schaffen, ist schon alt: Nach einer Sage soll der bekannte Rabbi Löw im 16. Jahrhundert in Prag mit kabbalistischer Kunst einen Golem, ein menschenähnliches Wesen aus Lehm geschaffen haben. Hier wird dem bekannten Gelehrten also eine gottähnliche Fähigkeit zugesprochen. Das Wesen wird, nachdem es seinen Zweck erfüllt hat, wieder zerstört. Im 18. Jahrhundert macht ein Automat, ein schachspielender Türke Furore. Allein aus mechanischen Elementen soll er menschliche Spieler schlagen. Natürlich war dies ein Betrug, ein versteckter Mensch in der Apparatur musste nachhelfen. Anfang des 19. Jahrhunderts hat Mary Shelley die Geschichte von Frankenstein erfunden, hier ging die Schöpfung schon neben alchemistischen Künsten auch mit den damals bekannten Naturwissenschaften vonstatten. Im 20. Jahrhundert schließlich wächst in der Science Fiction Literatur mit zunehmenden technischen Fähigkeiten auch die Zahl der künstlichen, von Menschen geschaffenen Wesen. So bevölkern Menschen-Maschine Mischwesen, die Cyborgs Romane und Filme. In dem Film „2001 Odyssee im Weltraum“ kämpft der Computer HAL gegen die Astronauten eines intergalaktischen Raumschiffes.

Die rasante technologische Entwicklung der letzten Jahrzehnte

Auch wenn man weltanschauliche Erwartungen oder Befürchtungen relativieren muss, so ist dennoch richtig, dass die Entwicklung der Technik in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht hat. Maschinen erwerben eine immer komplexere Intelligenz und Roboter gewinnen immer mehr Freiheitsgrade in der Bewegung. Der Rechner Deep Blue von IBM hat 1997 den Weltmeister Kasparov im Schachspiel geschlagen, das Programm  Watson von IBM hat es 2011 geschafft, ein komplexes Wissensspiel, „Jeopardy“ im Fernsehen gegen gut gebildete Menschen zu gewinnen, das Programm AlphaGo von Google hat es 2016 geschafft, den weltbesten Go Spieler zu schlagen.

Allein diese Erfolge sind schon aufsehenerregend. Fundamental neu ist dabei zudem die Technik, die AlphaGo verwendet. Anders als in den vorigen Maschinen wird nun nicht mehr ein Programm Schritt für Schritt vorgedacht und abgearbeitet, sondern die Maschine „programmiert sich selbst“, indem sie mit immer neuen Daten gefüttert wird, die sie analysiert und daraus weitere Schritte abgeleitet werden. Die Technik, die hier verwendet wird, nennt sich „neuronales Programmieren“. Programmeinheiten des Rechners simulieren Neuronen, die zu einem Gitter verbunden werden. Diese Gitter werden über mehrere Ebenen gestapelt, die „Neuronen“ sind miteinander verkoppelt. Ihre Verbindungen zueinander gestalten sie wie biologische Neuronen durch Rückkoppelungsprozesse, Erfolge stärken bestehende Verbindungen, Misserfolge schwächen bestehende Verbindungen oderstärken alternative Wege. Die Technik, die neuronalen Netze zu gestalten nennt sich Deep Learning, der Begriff des „Lernens“ wird hier vom Menschen auf Maschinen übertragen. Das radikal Neue ist nun, das Maschinen mit solchen Netzwerken, die viele Millionen Mal gegen sich selbst Go oder Schach gespielt haben, was in kurzer Zeit möglich ist, eine Kombinationsfähigkeit besitzen, die auch für Programmierer nicht mehr nachvollziehbar ist. Das unterscheidet sie von Maschinen, die wie die klassischen Computer Rechenoperationen Schritt für Schritt nachvollziehbar abarbeiten. So hat AlphaGo in den Partien Züge gewählt, die alle menschlichen Spieler erstaunten und die doch letztlich zum Erfolg führten. Hier wird der Computer zu einer Blackbox, die in gewisser Weise ein eigenes, unvorhergesehenes Verhalten entwickeln kann, ähnlich wie die Geschöpfe aus dem Science Fiction.

Thesen zur Diskussion: Ist ein Künstlicher Mensch, ein transhumanes Wesen zu erwarten?

Was gilt nun: Reden wir von einem alten Traum unserer Kultur, den man getrost illusionär nennen kann oder stehen wir durch die digitalen Technologien vor der Erfüllung dieses Traums? Hier sind fünf Thesen, die auch die Grundlage für eine Debatte um KI am 17. September 2020 in der Kreuzeskirche in Essen gewesen sind.

(Die Thesen des Gesprächspartners Helmut Fink, Akademie für säkularen Humanismus, finden sich hier)

(Vorbemerkung: Die folgenden Thesen beziehen Intelligenz auf „Maschinen“. Entscheidend für intelligente Fähigkeiten sind natürlich eher die Programme und Programmarchitekturen, die auf Maschinen laufen. Beide können nicht aufeinander reduziert werden. Jedoch ist es immer das Aggregat, also eine Maschine, ein Computers, ein Roboters oder ein Netzwerke dieser Einheiten, auf den und die sich die Zuschreibung von Intelligenz bezieht. Der allgemeinste Begriff ist der der Maschine. So ist ja auch von einer Von-Neumann-Maschine die Rede.)

1. These

Menschen werden sich dauerhaft von Maschinen unterscheiden. Das wichtigste Kriterium: Menschen finden sich immer schon vor, sind Teil einer menschlichen Umgebung und entwickeln sich von dort aus. Maschinen werden von Menschen, nicht von Maschinen gemacht. Ihre Entwicklung wird von ebenso von Menschen, nicht von Maschinen geplant. Theologisch lässt sich das deuten als die Unterscheidung des Schöpfungshandelns Gottes und des Gestaltungshandelns des Menschen. So wie die Menschen nicht die Ebene Gottes erreichen können, so Maschinen nicht die Ebene des Menschen.

2. These

Die Intelligenz von Maschinen ist in allen Realisierungen bislang streng begrenzt und auf bestimmte Leistungen fokussiert. In den begrenzten Spezifikationen haben Maschinen leicht übermenschliche Fähigkeiten. Dies gilt schon für einen konventionellen Taschenrechner, der schneller und exakter multiplizieren kann als jeder Mensch. Den Menschen zeichnet dagegen eine generalisierte Intelligenz aus. Er kann rechnen, Fahrrad fahren, jonglieren, malen, musizieren und in vielfältigster Weise kommunizieren. Die Intelligenz ist sowohl kognitiv wie auch emotional, beide Seiten lassen sich nicht trennen. Damit ist die generalisierte Intelligenz eine Eigenschaft des Leibes. Bislang gibt noch nicht einmal in Ansätzen eine Definition für diese allgemeine Intelligenz.

3. These

Entscheidend für ein Verständnis des Menschen ist, dass er nicht in Einzahl existiert. Es kann also nicht ein Mensch mit einer Maschine verglichen werden, da ansonsten entscheidende Eigenschaften des Menschen aus dem Blick gerieten. Menschen leben in Verbundenheit. Kultur und das, was man traditionell den „Geist“ oder die „Vernunft“ nennt, sind Produkte von Kollektiven. Man kann menschliche Verbundenheit als eine nahezu unendliche Überlagerung von kommunikativen Rückkopplungen beschreiben.

4. These

Der Anthropologe Michael Tomasello beschreibt die menschliche Verbundenheit auch als geteilte Intentionalität: Zwei Menschen können sich auf etwas Drittes beziehen und wissen, dass sie sich beide auf etwas Drittes beziehen. Diese Eigenschaft ist schon bei Menschenaffen in ihrem Verhalten nicht zu entdecken. Diese unscheinbare Fähigkeit ist aber die Wiege der menschlichen Kultur. Sie schweißt die Menschen auf der kognitiven Ebene zusammen, etwas, was sich im Tierreich nicht findet. Noch weniger ist es bei Maschinen zu erwarten: Es ist völlig unklar, was eine Maschine leisten muss, so dass man ihr Intentionalität zuschreiben kann.

5. These

Mit der Intentionalität hängen mehrere grundlegende menschliche Vermögen zusammen. Ein Mensch kann einem anderen vertrauen. Das bedeutet aber auch, dass man sich täuschen kann, dass Vertrauen gebrochen werden kann. Kann eine Maschine Vertrauen brechen oder verhält sie sich nicht einfach nur anders als erwartet? Kann eine Maschine ein Versprechen abgeben? Ist das mehr als eine Prognose?

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