Der Mensch als Egoist. Politische Analysen von Erik Flügge. Eine Rezension

Erik Flügge hat ein Buch veröffentlicht, das den kurzen und prägnanten Titel „Egoismus“ trägt. (Egoismus. Wie wir dem Zwang entkommen, anderen zu schaden, Dietz Verlag, Bonn 2020) Das Buch ist mit 111 Seiten von überschaubarer Länge, der Preis, den der Verlag angesetzt hat, ist aber auch nicht hoch, er beträgt 10 Euro.

Der Egoismus lässt sich nicht durch Moral einhegen

Der Egoismus hat nach Flügge in unserer Gesellschaft eine zwiespältige Rolle: Auf der einen Seite prägt er den Alltag und viele gesellschaftliche Strukturen, auf der anderen Seite aber wird er von den meisten als eine zu verurteilende Haltung abgelehnt. Flügge macht zu Beginn klar, dass er in dieser Ambivalenz ein Problem sieht. Er fragt pointiert: „Sind Sie ein Egoist? Ich hoffe doch. Alles andere wäre die blanke Unvernunft.“ (S. 13) Es ist hier und auch an vielen anderen Stellen des Buches eindeutig, was Flügge auf jeden Fall ablehnt, das ist eine Moralisierung des Problems. Im Text bezieht er sich immer wieder auf Moralisten, die für ihn  an der Oberfläche hängen bleiben, die nicht erkennen, wie fundamental der Egoismus für unsere Gesellschaft ist. Das zeigt sich auch bei politischen Wahlen: „Die moralische Rede vom Zusammenhalt erhält Applaus, weil sie eine Sehnsucht befriedigt, aber sie erhält keine Stimme,weil sie nicht mehr ist als eine hohle Phrase.“ (S. 20) Es steht seiner Ansicht nach außer Frage, dass man den verbreiteten Egoismus nicht mit moralischen Vorhaltungen einhegen kann. Immer wieder scheint durch, dass er eine solche Haltung verlogen findet, denn tatsächlich dominiert der Egoismus in vielen unserer Handlungen. Zwischen Egoismus und Zusammenhalt liegt die Freiheit

Ist der Egoismus nun ein Verhängnis? Nein, das ist er nicht, er ist für Flügge in gewisser Weise ein Pol eines Spektrums. Die Extreme des Spektrums sind problematisch:Der unbegrenzte Egoismus führt zu einer Ordnung der Unterdrückung. Der andere Pol ist bestimmt von absoluter Gleichheit und Gemeinschaft. Hier gilt zwar die Norm des Zusammenhalts, aber: „Egal wie sehr man behauptet, die Gemeinschaft sei offen für alle, so wird der Gedanke vom Zusammenhalt doch immer eine so starke innere Norm entfalten (…) eine Gesellschaft, in der Gleichheit zementiert wird und echte individuelle Freiheit stirbt.“ (S. 16) Beide, Egoismus und Zusammenhalt im Sinne der Anerkennung durch andere möchte Flügge gerne zusammen denken: „Nur zwischen diesen beiden Polen gibt es echte Freiheit für jedermann.“ (S. 15)

Die kluge Ordnung fördert beides, Egoismus und Zusammenhalt

Wie aber soll man mit der ständigen Gefahr eines Überhangs an Egoismus umgehen, wie soll man ihn eindämmen, so dass die Gesellschaft sich nicht in dieses eine Extrem entwickelt? Hierzu gibt Flügge die Losung aus, systemisch zu denken. Gesellschaften bestehen aus Regeln, wenn diese Regeln egoistisches Verhalten nicht eindämmen können, so muss man die Regeln ändern. Aber anders als es die von Flügge so zu Recht gescholtenen Moralisten tun. Es geht nicht darum, mehr Verbote zu erlassen oder das Handeln zu erschweren, vielmehr geht es darum, die Regeln auf kluge Weise so zu gestalten, dass sie den Egoismus nicht absolute Freiheit lassen, dass Zusammenhalt auch möglich ist: „Es geht also darum, systemisch gedacht, den Menschen in möglichst vielen organisierbaren Situationen zur Kooperation zu bringen (…).“ (S. 29)

Flügge unternimmt das Wagnis, in den folgenden kurzen Kapiteln des Teils „Die kluge Ordnung“ konkrete Vorschläge für Regeländerungen auf ganz unterschiedlichen politischen Feldern zu entwickeln. So macht er Vorschläge zur Finanzierung der Gewerkschaften, zu einer Linderung der kontinuierlichen Mietsteigerungen, zu einer gerechteren Bildung, zu mehr Ökologie und Verbraucherschutz. All diese Gedanken sind kurz ausgeführt und leuchten mehr oder weniger ein. Alle sind sicherlich innovativ gedacht, sie hangeln sich nicht entlang einer liberalen Doktrin der Freiheit des Einzelnen oder einer dogmatischen Doktrin der Umverteilung von Vermögen.

Institutionen müssen ihre Eigenart erkennen, um überleben zu können

In einem letzten Teil befasst sich Flügge mit großen gesellschaftlichen Institutionen, vor allem den Kirchen und den politischen Parteien. Der zentrale Satz zu den Kirchen lautet. „ Überall dort, wo Kirchengemeinden sich nicht um sich selbst, sondern um andere drehen, da sind sie stark.“ (S. 97) Flügge sieht die latente Gefahr der Selbstbeschäftigung der Kirchen. Die Gefahr ist in den kommenden Zeiten schwindender Mittel in der Tat manifest. Den Parteien empfiehlt er nicht luftige Visionen, sondern eine klare Gegnerschaft: „ Wer nicht weiß, wogegen man antritt, verliert auch alle Überzeugungskraft.“ (S: 107)Politik hat es in der Tat mit Konflikten zu tun. Auch hier zeigt Flügge, dass er aus guten Gründen einer Moralisierung von Politik wehren möchte.

Die Kritik: Auch der Egoismus setzt immer schon eine grundlegendere Verbundenheit von Menschen voraus.

In manchem  kann ich Flügge folgen, an entscheidenden Punkten aber möchte ich ihm widersprechen. Er ist offenkundig der Auffassung, dass die Gegenwart und auch die Zukunft von den gegenwärtigen gesellschaftlichen Systemen bestimmt sind, die Formen der Gemeinschaft und des Zusammenhalts veraltet sein lassen. „Unser System liefert keinen Gewinn aus Gemeinsinn mehr. Uns gingen Gott und Tradition verloren.“ (S. 22) So oder ähnlich formuliert er auch an anderen Stellen. Doch hier kommt mir die philosophische Analyse zu kurz. Flügge neigt dazu, den Status quo zu zementieren. Doch die gesellschaftliche Gegenwart, die wir erleben, ist in einer gesellschaftlichen und kulturellen Formation entstanden und sie wird sich weiter entwickeln. Das Gleiche gilt für das vorherrschende  Menschenbild. Der Mensch ist nicht einfach ein egoistisches Individuum. Natürlich gab es und gibt es immer egoistische Beweggründe. Man darf dies aber weder moralisieren, noch überhöhen. Bestimmte gesellschaftliche und kulturelle Strömungen der Gegenwart legen letzteres nah. Um aber ein vollständigeres Bild zu zeichnen, ist es meiner Ansicht nach unerlässlich, Zusammenhalt – ich würde ja den Begriff der sozialen Verbundenheit bevorzugen – auch analytisch genauer zu bestimmen. Er ist weit mehr als Anerkennung. Die Verbundenheit konstituiert den Menschen und gibt ihm die Grundlage, überhaupt erst einmal Individuum werden zu können: Aus der Verbundenheit heraus lernen wir sprechen. Aus der Verbundenheit heraus, eignen wir uns Werte an. Aus der Verbundenheit heraus, empfinden wir Treue zu manchen Menschen. Das sind keine veralteten Kategorien, schon gar nicht haben wir sie einfach verloren. Gerade die moderne Anthropologie (Michael Tomasello: „Mensch werden“) weist dies im Detail nach, hier ist es die geteilte Intentionalität. Theologisch: Gerade die Verbundenheit mit Gott bringt sich im Glauben zum Ausdruck. So sehr ich also in der Skepsis gegenüber kurzschlüssigen Moralisierungen übereinstimme, so sehr beschreibt Flügge eine ganze Dimension menschlicher Realität, die Verbundenheit, nur unzureichend. Mehr dazu: https://frank-vogelsang.de/soziale-verbundenheit/

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