Eine Klarstellung sei dem Folgenden vorangestellt: Eine emanzipatorische Politik ist ohne moralische Ausrichtung, ohne eine klare Wertorientierung nicht möglich. Das galt für die Französische Revolution (Freiheit, Gleichheit, Solidarität), das galt für alle weiteren gesellschaftlichen Veränderungen und wird auch für künftige gelten. Moralische Orientierung ist nicht etwas, das einer progressiven und demokratischen Politik äußerlich ist, sondern etwas, das sie im Kern ausmacht. Es gibt politische Positionen, die meinen, ohne eine solche Wertorientierung auskommen zu können. Für sie geht es in der Politik um das alleinige Ringen um Macht, es geht um Interessen und die Durchsetzung von Interessen. Doch stehen sie in Gefahr, zynisch oder auch belanglos zu werden: Die Sieger haben immer Recht. Das ist zynisch, weil auch nicht ein Mindestmaß an Gerechtigkeitsforderungen erhoben wird. Das ist aber auch banal, weil es auf die einfache Aussage zuläuft: Wer siegt, der siegt. Geschichte kann dann nur rückblickend interpretiert werden. Wer morgen siegt, wird sich erst noch zeigen.
Die Bedeutung der geschichtlichen Entwicklung
Eine emanzipatorische Politik, die Erwartungen an ein Morgen hat, das gesellschaftliche Verbesserungen bereithält, die Veränderungen zum Besseren ersehnt, braucht notwendigerweise einen moralischen Kompass. Der moralische Kompass erfüllt dann seine Funktion, wenn die Handelnden sich in einer geschichtlich sich verändernden Gesellschaft erfahren, wenn es darum geht, Impulse für Verbesserungen auszulösen. Entscheidend ist aber, dass die Moral hier gebunden ist an ein starkes Geschichtsbild. Es gab gesellschaftliche Veränderungen und es wird gesellschaftliche Veränderungen geben, Gesellschaft und Geschichte lassen sich nur künstlich trennen, der französische Philosoph Cornelius Castoriadis spricht deshalb konsequent nur von dem Gesellschaftlich-Geschichtlichen. Im Rahmen dieser steten Veränderungen, die alle Gesellschaftsmitglieder erfasst, hat die Moral eine große Bedeutung, sie hilft, Veränderungen zum Besseren auszuzeichnen.
Der offene Brief von 153 Intellektuellen
Nun gibt es aber in diesen Tagen eine weitreichende Debatte um die Funktion von Moral in der gegenwärtigen Politik. Politische Positionen, die vor allem moralisch argumentieren und die Argumente mit der Frage nach Identität verbinden, haben eine Tendenz zur Eindeutigkeit, die kaum noch Differenzierungen zulässt. Hieran gibt es zu Recht viel Kritik. Die 153 Intellektuellen, deren offener Brief im Harper‘s Magazine veröffentlicht wurde, beklagen die drohende Verengung der Debattenkultur. Ein wichtiger Satz lautet: „The way to defeat bad ideas is by exposure, argument, and persuasion, not by trying to silence or wish them away.” Die Haltung, gegen die sich die Autorinnen und Autoren des Briefes wenden, ist einerseits durch eine enge Verbindung von moralischer Position und Identität gekennzeichnet, andererseits aber auch von den geringen Erwartungen an kulturelle Veränderungen in einem gesellschaftlich-geschichtlichen Prozess. Nicht ein Wandel aller Beteiligten soll zum Besseren führen, eher eine Ausgrenzung von unmoralischen Störern.
Ist eine Reduktion auf Individuen in der Politik möglich?
Eine starke Betonung der Moral hat so die Eigenschaft, Geschichte abzublenden, weil sie die Veränderung von Institutionen, von Formen der Verbundenheit gar nicht in Betracht zieht. Das Gesellschaftlich-Geschichtliche besteht aber aus einer ständigen Veränderung der Institutionen und Formen der Verbundenheit, sei es zum Besseren, sei es zum Schlechteren. Große gesellschaftliche Institutionen vereinen mit der Vielzahl von Mitgliedern aber notwendiger Weise ein Spektrum unterschiedlicher moralischer Positionen. Das gilt selbst für so moralisch orientierte Institutionen wie die Kirchen. Eine starke Betonung von Moral konzentriert deshalb auf das handelnde Individuum und lässt Institutionen weitgehend außen vor.
Aus der Konzentration auf Individuen und auf ihre moralische Position lässt den Schluss zu, dass es im Kampf um die Durchsetzung der eigenen moralischen Position vor allem darauf ankommt, sich gegen jene Individuen durchzusetzen, die abweichende Positionen haben und weniger darauf, gesellschaftliche Institutionen und Formen der Verbundenheit zu verändern, die man gegebenenfalls sogar auch mit jenen durchsetzen kann, die andere moralische Positionen haben. Mark Siemons hat in der FAS vom 19.7. zu Recht festgestellt: „Diese Kritik läuft erst einmal nicht auf die Vorstellung einer allen gemeinsamen Gesellschaft hinaus, sondern auf die Herstellung eines individuellen und sich dann ausbreitenden Bewusstseins.“ Es ist ein Prozess, bei dem “sich am einen Ende die Vorstellung einer allen gemeinsamen Gesellschaft auflöst“. Entscheidend ist allein, wie man die moralische Position eines Individuums einschätzt, darauf konzentriert sich die Diskussion. Dies kann leicht destruktive Folgen haben. Der Theologe Ulrich Körtner hat deshalb schon 2017 darauf hingewiesen, dass es eine herausragende „Aufgabe der Ethik ist, vor zu viel Moral und ihren Ambivalenzen zu warnen“.
Wer oder was hat Trump möglich gemacht?
Die Konzentration bestimmt auch die Auseinandersetzung mit Donald Trump. Seine persönliche Haltung und Gebaren erhält in der politischen Diskussion außerordentlich viel Aufmerksamkeit. Das entspricht im Übrigen genau Trumps Selbstbild, hier gibt es eine gewisse Reziprozität. Er hat offenkundig den hoch narzisstischen Eindruck, er könne aus eigener Vollmacht als Individuum handeln. Doch, was außen vor bleibt, ist die Frage, wer und was überhaupt möglich gemacht hat, dass das Individuum Trump Präsident der USA werden konnte. Das aber sollte in einem progressiven Politikentwurf im Mittelpunkt stehen: Das Individuum Donald Trump ist doch eher Symptom für einen beklagenswerten gesellschaftlichen Zustand. Robert Putnam hat hierzu mit seiner Analyse „Bowling Alone“ schon im Jahr 2000 den Weg gewiesen, die Schwächung der Zivilgesellschaft und langfristiger Formen der Verbundenheit ebnet dieser Individualisierung die Bahn.
Der Mensch als Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse
Die alleinige Konzentration auf individuelle Moral im den politischen Debatten ist ein Symptom für eine Blindheit gegenüber der gesellschaftlichen Vermitteltheit menschlicher Existenz. Da kann es hilfreich sein, auch Altvordere wie Karl Marx wieder stärker zu beachten, der in der 6. These zu Feuerbach schrieb: „Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“ Eine politische Moral, die sich auf Individuen konzentriert, steht in Gefahr, diese entscheidenden gesellschaftlichen Dimensionen zu übersehen, die nicht nur ökonomische sind. Die gesellschaftliche Vermittlung über Kultur, Institutionen, im weitesten Sinne Formen der Verbundenheit geht viel weiter.