Was wäre, wenn man die Seele fände?

Am Dienstag, dem 20. Juni, lautete die Tageslosung: „Mein Gott, betrübt ist meine Seele in mir, darum gedenke ich an dich.“ (Psalm 42,7) Die Seele spielt in der Frömmigkeit seit je her eine große Rolle. Die Seele ist Ausdruck unserer Identität vor Gott. Die Seele ist der Ort der tiefst empfundenen Gefühle. Die Seele steht für das wahre Ich, das unverfälscht von allen gesellschaftlichen Überformungen das zum Ausdruck bringt, was ich wirklich bin.

Das Wort „Seele“ hat so eine überragende Bedeutung und zugleich weist es auf etwas, was kaum richtig zu fassen ist. Wir gebrauchen das Wort zwar immer wieder und doch fällt es uns schwer, zu sagen, was eigentlich gemeint ist. Diese Diskrepanz ist vielleicht nicht von ungefähr so, vielleicht ist das sogar notwendig für das, was „Seele“ zum Ausdruck bringen will.

Der Einspruch der Naturwissenschaften

Im Dialog mit den Neurowissenschaften kommt immer wieder die Frage auf, ob es so etwas wie eine Seele überhaupt geben kann. Und in der Tat, eine Seele, die aus einer wie auch immer gestalteten Substanz besteht, wie sie in den Zeichnungen von Wilhelm Busch auftauchen (Die fromme Helene), ist weit und breit nicht zu finden. Es gibt offenkundig keine Substanz, auch keine feinstoffliche Verbindung, was auch immer das sein soll, die mit der Seele in Verbindung gebracht werden könnte. Und auch Wilhelm Busch hat die Vorstellung in seinen Zeichnungen schon ironisch verwendet.

Ebenso scheint es unsinnig, nun einen ausgezeichneten Teil des neuronalen Gewebes selbst zur Seele zu erklären. Die Zellenstrukturen haben je eigene, hochspezifische Funktionen. Was auch immer wir unter der Seele verstehen, auf keinen Fall aber handelt es sich um eine spezifische Struktur!

Es gibt in unserem naturwissenschaftlichen Wissen wenig bis keine Anhaltspunkte, von einer Seele zu reden. Und doch tun dies auch im 21. Jahrhundert noch sehr viele Menschen. Besonders erstaunlich: Auch viele naturwissenschaftlich ausgebildete Medizinerinnen und Mediziner halten das Wort für nicht veraltet.

Die Seele zu finden, wäre verheerend!

Aber wonach suchen wir überhaupt? Können wir die Erwartung haben, etwas zu finden? Man sollte sich einmal fragen, was geschähe, wenn wir die Seele eines Tages (etwa mit Hilfe neuer Messmethoden) doch finden würden?! Ich vermute, die Folgen wären alles andere als gut, sie wären verheerend! Denn wir verbinden ja mit der Seele unsere tiefstempfundene Identität. Die Seele steht für das, was wir eigentlich sind. Wenn wir also die Seele fänden als ein besonderer Teil des Körpers oder als etwas, das von dem Körper getrennt werden könnte, dann würde die Wertschätzung von all dem, was nicht Seele ist, sinken. Das hätte zwangsläufig zur Folge, dass der Rest des Körpers oder eben der ganze Körper abgewertet würden. Schließlich haben wir ja doch mit der Seele unseren Identitätskern gefunden!

Es gibt tatsächlich Religionen und Frömmigkeitsformen, die dazu tendieren, die Seele von dem Körper zu trennen. Die Folgen sind augenfällig: Die Seele wird dann das eigentlich Wichtige, der Körper ist nur noch äußere Hülle. Auch das Christentum war in manchen Zeiten vor solcher Interpretation nicht gefeit. Meiner Ansicht nach widerspricht das aber dem Zentrum des Evangeliums: Gott wurde Mensch in dem Menschen Jesus von Nazareth! Die „Inkarnation“ wertet gerade den Körper durch die Menschwerdung Gottes sehr stark auf. Genau das aber wäre gefährdet, gelänge es, so etwas wie die Seele zu finden! (Dass damit zugleich unendlich viele weitere Probleme anstünden, steht auf einem anderen Blatt

Die Seele aus der Sicht der Psalmen

Übrigens kommt man dem Begriff der Seele näher, wenn man die alttestamentlichen Texte genauer betrachtet. In dem oben genannten Psalmvers 42,11 wird das Wort „nefesch“ gebraucht. Das Wort heißt übersetzt Atem, aber auch Kehle, Gurgel, Schlund und weist nicht nur auf den Luftaustausch, der für das Leben notwendig ist, sondern auch auf den Nahrungsaustausch. Und hier kommen wir der Sache, was Seele meinen könnte, schon näher. Die Seele ist eben gerade kein abgegrenztes Etwas, keine in sich geschlossene Einheit, sondern gerade das, was verbindet, das, was uns im Austausch sein lässt! Meine Seele dürstet nach Gott, sagt der Beter des Psalms 42. Sie hat eben nicht in sich selbst Genüge. Eine Seele an und für sich ist verloren, sie sucht, sie dürstet, sie sehnt sich, sie harrt. Für den Beter ist klar: Vor allem sehnt sich die Seele nach Gott. Wenn sie im Austausch mit ihm ist, kommt sie zu sich selbst.

So bleibt eine Spannung: Offenkundig ist die Seele etwas, das sich nach etwas anderem sehnen kann. Sie kann also erleben, dass sie allein ist. Aber sie kommt nicht zu sich selbst, wenn sie allein ist. Deshalb sind alle Bilder eines abgetrennten Etwas falsch. Sie kommt zu sich selbst, wenn sie mit anderem in Kontakt ist, wenn eine tiefgreifende Verbindung besteht.

Für so etwas aber haben wir keine Bilder. Und doch können wir immer wieder die Realität der Seele spüren. Die Seele ist übrigens nicht so ganz viel anders als die Sprache: Sprechen können wir je und je allein, aber Sprache kann durch keinen Menschen allein erfunden werden. Sie entsteht erst in Gemeinschaft, in Verbundenheit.

Die traditionellen Bilder von der Seele in unserer Kultur sind hochproblematisch, denn sie verstärken die Vorstellung einer isolierten Existenz. Besser erscheinen mir da die Bilder der hebräischen Bibel. Meine Seele ist das, was aus einem ständigen Austausch lebt, wie der Atem. Im Gesangbuch wird das immer wieder aufgegriffen durch den Gesang – denn was ist der Gesang anderes als eine besonders kunstvolle Weise zu atmen?

Du meine Seele, singe, / wohlauf und singe schön
dem, welchem alle Dinge / zu Dienst und Willen stehn.
Ich will den Herren droben / hier preisen auf der Erd;
ich will Ihn herzlich loben, / solang ich leben werd.

Zu den Grenzen physikalischer Weltmodelle

Die Astrophysik arbeitet mit einer erfolgreichen kosmologischen Theorie, die so etwas wie einen „Stand der Wissenschaft“ darstellt, eine Übereinkunft unter den führenden Astrophysikerinnen und Astrophysikern. Dieses Modell beschreibt ein expandierendes Universum. Es nimmt an, dass das Universum in einer extrem kurzen Zeit nach dem „Urknall“ mit Über-Lichtgeschwindigkeit expandiert ist, die so genannte Inflationsphase. Danach expandiert es mit deutlich geringerer Geschwindigkeit bis heute.

Warum ist das Universum so wie es ist?

Soweit das vorherrschende Modell in der Kosmologie. Doch unter der Oberfläche lauern tiefgreifende ungelöste Fragen, die an die Grundfeste des erfolgreichen Modells rühren. Zum einen ist vollkommen unklar, warum das Universum zu Beginn des Prozesses in der Inflationsphase so schnell expandiert ist. Nun gibt es eine beliebte „Erklärung“, die beliebte „Multiversentheorie“. Danach existiert nicht nur das uns bekannte Universum, sondern es existiert eine Vielzahl anderer, in denen es keine Inflationsphase gab. Es ist in gewisser Weise Zufall, dass wir in dem Universum leben, in dem es die Inflation gab. Andererseits ist es nicht zufällig, denn in einem Universum ohne Inflation könnten wir nicht existieren. Es ist nicht so erstaunlich, dass auch das uns bekannte Universum existiert. Es ist nur eines unter vielen.

Nun hat diese „Erklärung“ allerdings einen riesigen Nachteil: Um zu erklären, dass die Inflationsphase stattgefunden hat, wird der Bestand der Welt kurzerhand extrem ausgeweitet um eine Vielzahl weiterer Universen. Das Fatale dieser Vorstellung ist: Wir werden niemals die Chance haben, die Behauptung der Multiversen empirisch nachzuprüfen. Denn wir sind auf unser Universum beschränkt. Ist damit aber nicht eine der wichtigsten Grundlagen moderner Physik verlassen, nämlich die Forderung, dass physikalische Modelle auch empirisch überprüfbar sein müssen?

Die Grenzen der bisher bekannten physikalische Theorien

Das Fehlen einer Erklärung für die inflationäre Phase ist nicht das einzige Krisensymptom in der Physik. Lesch weist in dem Gespräch auf noch ein gravierenderes Problem hin: Bislang ist es nicht gelungen, die Relativitätstheorie und die Quantentheorie zu vereinigen. In der Vereinigung der beiden physikalischen Großtheorien gibt es bislang unüberwindbare physikalische und mathematische Hindernisse. Zugleich aber gibt es immer mehr empirische Befunde, die nahe legen, dass jede der beiden Theoriekomplexe in sich richtig und stimmig ist. Welcher Ausweg ist hier denkbar?

Sollte man daraus ableiten, dass es hier etwas gibt, was eine definitive Grenze der wissenschaftlichen Forschung darstellt? Nun hat die Vergangenheit gezeigt, dass fast alle Prognosen, etwas sei wissenschaftlich nicht nachweisbar, irgendwann gefallen sind. Man sollte mit solchen Prognosen äußerst vorsichtig sein. Zunächst einmal ist die Situation eine Herausforderung für die Wissenschaft und kein Mangelsymptom! Doch zugleich ist es eben auch nicht so, dass man angesichts der Lage sagen kann, dass die Welt weitgehend verstanden sei. Auf jeden Fall sollte man vorsichtig sein, von einem festen Bestand des Weltverständnisses auszugehen, dafür sind die Fundamente zu fragil. Sind grundstürzend neue Theorien denkbar?

Physik in einer offenen Wirklichkeit

Das wirft uns auf die Frage zurück, ob es überhaupt denkbar sein kann, dass es DIE eine und umfassende physikalische Theorie über die Welt geben kann. Möglicherweise müssen wir Menschen uns damit begnügen, dass wir nur kontextabhängige Modelle mit beschränkter Reichweite haben und kein umfassendes Wissen von der Welt. Es gibt gute philosophische Argumente, die diese Interpretation stützen. Als leibliche Wesen sind wir immer schon mit der Welt verbunden. Ein Überblickswissen ist uns verwehrt. (weitere Informationen zum Konzept einer offenen Wirklichkeit: http://www.mensch-welt-gott.de/offene-wirklichkeit-1574.php)

Wir mögen dank wissenschaftlicher Forschung die Welt immer besser verstehen können, doch die Erwartung einer letztgültigen Theorie, der TOE, der Theory of Everything, zielt dann ins Leere. Das entwertet die Wissenschaft nicht, wer könnte mit Verstand all das Wissen, das wir erlangt haben, gering schätzen! Aber das Argument zielt kritisch auf eine bestimmte philosophische Haltung, die dem Menschen zuspricht, ein letztgültiges und umfassendes Wissen über die Welt erlangen zu können. In einer offenen Wirklichkeit bleiben immer offene Fragen, immer neuer Ansporn für den Versuch, sie zu bearbeiten!

Dahinter steht ein grundlegendes philosophisches Problem: Diejenigen, die Physik betreiben, sind endliche Menschen. Kein Mensch aber kann „die Welt“ als Ganze zum Objekt machen.  Die Welt ist kein Objekt, weil wir uns nicht genügend distanzieren können. Wir sind Teil der Welt, die wir betrachten wollen. Diese Grundbedingung für alle Erkenntnis können wir nicht aufheben. Wenn wir die Welt als Ganze betrachten wollen, müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass wir immer schon verbunden sind. Wir können durch Distanzierung manches aufhellen, aber nicht alles!

Ist der Urknall der Anfang des Universums?

Zum Gespräch mit Harald Lesch

Vor fast einem Jahr hatte ich die Gelegenheit, mit dem Astrophysiker Harald Lesch ein längeres Interview führen zu können. Das Interview, wie auch einzelne Teile daraus kann man finden unter: www.mensch-welt-gott.de. Wir haben über sehr unterschiedliche Themen gesprochen, die sich aber alle um Fragen des Verhältnisses von Naturwissenschaften und Theologie drehten, unter anderem über die Krise in der Physik, über die Wichtigkeit alltäglicher Erfahrungen für das Verständnis der Welt, über die Rolle der Mathematik in der physikalischen Beschreibung und so weiter. Ich hatte schon vorher Harald Lesch in kleineren Veranstaltungen kennen gelernt und immer wieder erlebt, wie offen er sich darum bemüht, seine persönliche Haltung als evangelischer Christ mit seiner Arbeit als Astrophysiker in ein konstruktives Verhältnis zu setzen. Das kommt auch in dem Interview zur Geltung.

Wir haben über Themen geredet, die alle im Grenzbereich zwischen der Physik und der Philosophie bzw. der Theologie liegen. Es ging beispielsweise um die Frage, ob die Physik einen absoluten Anfang beschreiben kann, unter welche Bedingungen eine Vorstellung von dem Großen und Ganzen möglich ist, ob die Beschreibung des Universums sich mit einem Bedürfnis nach Sinn verbinden lässt, welche Rolle die Alltagssprache in der Vermittlung der physikalischen Erkenntnis spielt. Harald Lesch hat aber auch Grundfragen der Physik skizziert, die heute virulent sind, insbesondere die Frage, wie die beiden großen Theoriezusammenhänge Quantenphysik und Relativitätstheorie miteinander verbunden werden können. Lesch macht in dem Gespräch auch seine persönliche Glaubenshaltung als evangelischer Christ deutlich.

Was ist ein Anfang?

Was ist der Anfang von allem? Aller Anfang ist schwer sagt der Volksmund – das trifft auch schon auf den Versuch zu, erst einmal genau zu bestimmen, was überhaupt mit einem Anfang gemeint ist! Im Alltag ist das klar: wir setzen einen Anfang, wir beginnen etwas. Aber wir können ein Spiel beginnen, der Schiedsrichter pfeift das Spiel an. Er setzt damit einen Anfang. Anfänge sind in diesem Zusammenhang mit menschlichen Handlungen verbunden. Menschen setzen durch ihr Handeln einen Anfang.

Gibt es dann auch einen Anfang in der Physik? Kennt die Natur, so wie sie die Physik beschreibt, einen Anfang? Natürlich spielt auch in der Physik das menschliche Handeln eine große Rolle. Das gilt etwa für Experimente. Hier kann man einen Anfangspunkt t0 definieren, an dem das Experiment startet. Doch kann man auch solch einen ausgezeichneten Zeitpunkt t0 in der Natur beobachten? Es gilt offenkundig: einen Anfangspunkt setzt man, man findet ihn aber nicht. In der Beschreibung der physikalischen Zeit ist jeder Zeitpunkt gleich berechtigt. Deshalb gibt es keine ausgezeichneten Zeitpunkte. Wenn man einen Zeitpunkt t0 als Anfang definiert, dann kann man stets fragen: Und was geschah davor, also zu einem Zeitpunkt (t0 –t)?!

Es ist also nicht abwegig, davon zu reden, dass die Rede vom Anfang aus dem Alltag in die Physik importiert wird. Wir setzen als Menschen einen Anfang, aber es gibt in der wissenschaftlichen Beschreibung der Natur keine Zeitpunkte, die als Anfang ausgezeichnet wären. Auch biologisch sind Anfänge schwer zu bestimmen. So scheint es nahezu unmöglich zu bestimmen, wann genau etwa Leben anfängt. Das, was man biologisch beschreiben kann, zeigt sich als kontinuierlicher Prozess, da ist nirgendwo wo eine Zäsur, ein klarer Ausgangspunkt.

Aber redet nicht die Kosmologie von einem Anfang, dem Urknall? Dieser Anfang ist zudem ein besonderer Anfang, weil er der Anfang von allem ist. Doch was ist mit dem Urknall als dem Anfang von allem genau gemeint? Dieser Zeitpunkt erfasst zunächst einmal eine so genannte Singularität – eine physikalische Größe nimmt zu einem bestimmten Zeitpunkt beliebig große Werte an: Die Massedichte des Universums war vor etwa 13,7 Mrd Jahren beliebig groß. Das scheint ein ausgezeichneter Zeitpunkt der Physik zu sein. Aber ist es auch ein Anfang? Dieser Anfang nicht so eindeutig wie jene, die wir im Alltag setzen. Auch hier gilt, dass man durchaus fragen kann, was davor war. So gibt es kosmologische Theorien, die gehen davon aus, dass sich das Universum immer wieder ausdehnt und zusammenzieht und wieder ausdehnt…

Die entscheidende Frage ist, ob mit dem Anfang nicht etwas in die Physik eingetragen worden ist, was hier aber keinen Ort hat. Die Rede von einem Anfang der Welt stammt aus mythischen Erzählungen. Erzählungen haben einen Anfang. Sie berichten von einem Anfang, weil sie von Wesen berichten, die handeln. So auch der biblische Schöpfungsbericht: Er redet von einem Anfang, hier setzt Gott einen Anfang. „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“. Das ist nah bei unserem Alltagsverständnis. Ein Akteur setzt einen Anfang. Vermenschlichen wir da Gott? Oder ist es nicht vielmehr so, dass aus Gottes Vermögen, einen Anfang zu setzen, sich das menschliche Vermögen ableitet? Das letztere wäre die theologische Deutung. Offenkundig hängt auf jeden Fall die Rede vom Anfang mit einer Handlung zusammen. Wie steht es dann von der Rede eines Anfangs in der Physik? In der physikalischen Welt handelt keiner. Insofern ist die Rede von einem Anfang des Universums heikel.

Was ist mit Geschichte?

Ich empfinde schon seit längerer Zeit ein Unbehagen, wenn ich aktuelle Diskussionen zum Zeitgeschehen verfolge. Ich habe den Eindruck, dass wir in einer Zeit gravierender Geschichtsvergessenheit leben. Nicht in dem Sinne, dass wir uns nicht mehr erinnern würden. Schließlich ist doch die Evangelische Kirche in diesem Jahr mit großer Intensität dabei, das Reformationsjubiläum zu begehen! Auch gibt es vielfältige Gedenkfeiern, oft motiviert durch die schreckliche deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert. Ich meine eher die Geschichtsvergessenheit in der Deutung der Gegenwart. Wir diskutieren unsere Zeit, als sei sie so, wie sie ist und viel Neues sei auch nicht zu erwarten. Kaum gibt es in der Deutung der Gegenwart einen Blick zurück, schon gar nicht gibt es einen Blick nach vorne.

Es stellt sich die Frage, ob dies nicht die Folge eines im Grundsatz liberalen Schemas ist. Danach gibt es zwar eine Geschichte, aber die Geschichte ist doch eher die Geschichte der Störungen eines sich selbst stabilisierenden Systems. Der freie Markt ist das Paradebeispiel. Wenn es nur den wirklich freien Markt gäbe, dann stabilisierte er sich immer wieder neu, kleinere Veränderungen würden aufgenommen und in einen neuen stabilen Zustand überführt. Hier ist Geschichte Nebensache. Natürlich gibt es Veränderungen, aber den Hauptton setzen die sich selbst stabilisierenden Systeme. Wenn man die Störung gering halten kann, dann geht das System wieder in einen stabilen Zustand über. Das gilt dann auch für die Natur: eigentlich ist sie stabil. Als ob die Evolution nicht von etwas ganz anderem reden würde: Hier ist alles Bewegung und Veränderung. Evolutionäre Nischen sind die Ausnahme und meist nicht auf Dauer gestellt.

Ich habe diese Grundgedanken liberaler Theorien schon immer für eine Fiktion gehalten: Eigentlich wäre die Welt wunderbar eingerichtet, nur leider gibt es ständig Störungen. Ich glaube, dass umgekehrt „ein Schuh daraus wird“: Wir leben in einer Welt, die sich in einer kontinuierlichen  geschichtlichen Veränderung befindet. Was gestern war, ist heute anders und wird morgen wiederum verändert sein. Stabilisierende Systeme sind Abstraktionen aus dieser Entwicklung. Sie mögen eine Zeit lang Stabilität ermöglichen, aber es ist immer damit zu rechnen, dass sie sich grundlegend verändern können.

Diese Sichtweise ist im Übrigen meiner Ansicht nach auch biblischer. Der christliche Gott ist ein Gott der Geschichte. Er hat sein Volk durch die Geschichte begleitet. Israel hat immer wieder die bewahrende Kraft Gottes, aber auch seinen Zorn erfahren und zum Ausdruck gebracht. Auch nach der Offenbarung Gottes in Christus hört die Geschichte nicht auf. Christinnen und Christen leben im Vorschein des kommenden Reiches Gottes. Deshalb ist die Erinnerung so wichtig, ist es wichtig, von Gottes Geschichte mit dem Menschen erinnernd zu erzählen. Und deshalb ist auch die Hoffnung so wichtig, weil sie einen Sinn dafür gibt, was noch aussteht. Wir sind eingebunden in eine geschichtliche Entwicklung, die wir nur mit Mühe überschauen können. Aber Versuche dazu, etwa durch Erzählungen, können auch immer wieder Neues entdecken, Neues in dem Vergangenen, das aber auch überraschende Einblicke in das gewähren kann, was kommen wird.

Doch wir diskutieren unsere Gegenwart nicht in diesem Spannungsbogen. Wir beschreiben sie nur in Ansätzen aus der Entwicklung der Vergangenheit heraus. Aber schon gar nicht beschreiben wir sie unter dem Vorzeichen der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Stattdessen sind wir vernünftig und realistisch. Wir wissen nun, was Sache ist, haben die Lehren aus der Vergangenheit gezogen. Wir stehen nicht in einer kontinuierlichen Entwicklung, sondern sehen die Vergangenheit als ein Reservoir an, aus dem wir unsere Folgerungen ziehen. Wir schauen natürlich in die Zukunft. Aber auch das tun wir vernünftig und realistisch: Wir stellen Prognosen an, zumeist mit „wissenschaftlichen“ Mitteln. Zumeist fallen die Prognosen negativ aus. Aber das zeigt ja nur, wie vernünftig und realistisch wir geworden sind.

Da ist etwas Grundsätzliches verloren gegangen. Nichts gegen Prognosen, die jeder Mensch, der tatsächlich vernünftig und verantwortlich ist, anstellen muss. Aber warum fragen wir nicht viel intensiver danach, in welcher geschichtlichen Entwicklung wir leben? Warum versuchen wir nicht die politische und kulturelle Bewegung aus der Vergangenheit in die Zukunft fortzuschreiben. Warum entwickeln wir keine Hoffnung und sehen die Wirklichkeit als eine zukunftsoffene Wirklichkeit an? Warum sind wir eigentlich kaum neugierig auf das, was da kommen wird? Der Versuch, die Welt als sich selbst stabilisierendes System zu verstehen, kann in manchen Fragen hilfreich sein. Die Menschheitsgeschichte aber zeigt: Zumeist wurde es auf überraschende Weise anders, als die Menschen zuvor geglaubt haben. Das gilt auch heute so, seien wir doch vernünftig und realistisch!