Ist menschliche Gewalt vermeidbar? Anmerkungen zu einer (un)menschlichen Eigenschaft

Ein Jahr der Erinnerungen

Mit 2018 verbinden sich Erinnerungen an gleich zwei große Kriege in der deutschen Geschichte: Einerseits ist dieses Jahr der 400. Jahrestag des Beginns des Dreißigjährigen Krieges und es ist zugleich der 100. Jahrestag des Ende des Ersten Weltkrieges. Beide Kriege sind durch eine vorher nicht genannten Ausbruch von Gewalt bestimmt: im Dreißigjährigen Krieg starb in vielen Regionen Deutschlands bis zu einem Drittel der Bevölkerung, der Erste Weltkrieg war in gewisser Weise der erste industrialisierte Krieg, in dem neue Waffensysteme und neue Kampfmittel eine bis dahin unvorstellbare Zahl von Toten zur Folge hatte. Seit dieser Zeit gab es den Zweiten Weltkrieg und es gab eine Vielzahl weiterer Kriege, die Kriege in Syrien, im Jemen und in Afghanistan sind nur stellvertretend für viele weitere Gewaltkonflikte unserer Zeit. Die Vereinten Nationen sind nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Ziel gegründet worden, den brüchigen Weltfrieden zu bewahren. Die Organisation hat viele verdienstvolle Einsätze in der ganzen Welt geleistet und doch ist die Welt auch im Jahr 2018 noch weit von einem Frieden entfernt.

Ist der Mensch ein Wolf, ist der Mensch ein Schaf?

Dies soll ein Anlass sein, einmal grundsätzlicher über menschliche Gewalt nachzudenken. Es soll hier um die Schattenseite des Menschlichen gehen. Sind wir Menschen von Natur aus gewalttätige Wesen, die nur mühsam über zivilisatorische Maßnahmen gezähmt werden können? Oder ist Gewalt ein vermeidbares Übel für den Menschen, so dass es darauf ankommt, diese Geißel des Menschlichen ein für alle Mal hinter sich zu lassen? Ist es möglicherweise so, dass wir immer damit rechnen müssen, dass Menschen zur Durchsetzung in einer Auseinandersetzung zur Gewalt greifen können? Oder ist der Mensch von Natur aus friedfertig, aber durch ungerechte Strukturen immer wieder zur Gewalt herausgefordert? Ist Gewalt etwas primär Männliches, dass sie die Folge von patriarchalischen Kulturen beschrieben werden kann? Oder ist die Gewalt vielmehr amorph, so dass sie, sobald sie in der einen Form eingedämmt ist, in einer anderen Form wieder auftritt? Für all diese Positionen lassen sich Argumente finden. Die einen betonen die immer wieder auflodernde Gewalt im zwischenmenschlichen Leben. Das muss nicht allein die Gewalt in der Auseinandersetzung von Staaten sein, es kann gerade auch die Gewalt zwischen einzelnen Menschen sein. Die anderen betonen die Entwicklung, die die Menschheit in den letzten Jahrhunderten durchlaufen hat. Zwar gibt es immer wieder Kriege, aber die relative Anzahl der Menschen, die in gewalttätigen Auseinandersetzungen verwickelt sind an der Gesamtzahl der Menschheit hat abgenommen.

Biblische Beobachtungen zum Thema Gewalt

Was gilt? Ich vermute, dass die beiden extremen Positionen – der Mensch ist unveränderbar von Natur aus gewalttätig oder: der Mensch ist von Natur aus friedliebend, jedoch waren die Verhältnisse bislang nicht so – eine eklatante Schwäche aufweisen. Die Schwäche ihrer Argumentation besteht darin, dass sie das Verhältnis des Menschen zur Gewalt in ein eindeutiges Verhältnis setzen wollen. Wahrscheinlich kann das ebenso wenig gelingen, wie der Versuch, endgültig bestimmen zu wollen, was oder wer der Mensch ist. Gewalt ist eine grundlegende Möglichkeit menschlichen Handelns und man muss auch immer mit ihr rechnen. Selbst in einer sehr friedlichen Gesellschaft hat zumindest der Staat das Gewaltmonopol. Weltanschauliche Urteile neigen aber in dieser Diskussion zur Eindeutigkeit: Der Mensch ist von Natur aus gewalttätig. Oder: Der Mensch ist von Natur aus gut. Wahrscheinlich ist er weder das eine noch das andere. Biblische Texte beschreiben den Menschen gerade in seinem Verhältnis zur Gewalt sehr realistisch. Sie propagieren nicht einen Idealmenschen, sondern befassen sich mit dem real existierenden Menschen. Die Menschheitsgeschichte beginnt hier mit einem Brudermord. Israel hat es in seiner Geschichte immer wieder mit Gewalt zu tun. In Jesus Christus erleidet der menschgewordene Gott einen grausamen und gewaltsamen Tod. Auch sind die Menschen der ersten Gemeinde immer wieder von Verfolgung und Gewalt bedroht.

Die Verheißung und das Gebot

Nun gibt es in den biblischen Traditionen zwei grundsätzliche Traditionen, in denen Aussagen zur Gewalt im Mittelpunkt stehen. Da ist auf der einen Seite die göttliche Verheißung. Am Ende der Geschichte wird Gott aller menschlichen Gewalt ein Ende setzen. Berühmt ist die Stelle bei Jesaja, wo alle Völker zum Zion pilgern und die Schwerter zu Pflugscharen geschmiedet werden (Jesaja 2,4; auch Micha 4,3). Im Neuen Testament steht am Ende der Apokalypse das schöne Wort „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein.“ (Apk 21,4). Die christliche Tradition interpretiert die Geschichte der Menschheit als einen Weg auf diese Verheißung zu. Die Verheißung wird damit zu einer Zielmarke für alles menschliche Handeln. Handle stets so, dass die Folgen Deines Handelns das ferne Ziel der Gewaltlosigkeit ein Stück näher rücken. Doch erreichen können wir Menschen das Ziel nicht, es bleibt Gottes Handeln vorbehalten.

Viel karger und nüchterner steht dann da die zweite biblische Aussage zur Gewalt, die sich in dem fünften Gebot konzentriert: „Du sollst nicht töten.“ (Exodus 20,13). Dieses Gebot sagt ja implizit dreierlei: Zum ersten sagt es, dass es möglich ist, zu töten. Zum zweiten sagt es, dass es durchaus ein menschlicher Wunsch sein kann, zu töten. Denn sonst machte ein Gebot keinen Sinn. Doch es sagt zum dritten, dass das Töten von Menschen nicht sein darf.  Die Tötung eines Menschen durch einen Menschen ist sicherlich eine Zuspitzung von Gewalt. Deshalb kann sie paradigmatisch für die Gewalt von Menschen gegen Menschen stehen. Das Gebot besagt: Es ist immer mit der Möglichkeit zu rechnen. Deshalb sind alle aufgerufen, so gut als möglich sich davor zu bewahren.

Ist das Töten etwas Fernes? Ein Interview mit Joe Bausch

Nun mögen sich vielleicht viele zurücklehnen und beruhigt denken, dass das sie in ihrem Alltag nicht betrifft. Töten tun möglicherweise andere… Doch das ist ein wenig zu kurz gegriffen. Einerseits steht das Töten für eine Vielzahl von Gewaltformen. Eine zerstörerische Gewalt kann schon viel früher einsetzen als dann, wenn man einen Menschen zu ermorden versucht. Man nennt eine sehr böswillige Verleumdung nicht von ungefähr „Rufmord“. Und dazu gibt es heute angesichts der Möglichkeiten in den digitalen Netzen mehr denn je Möglichkeiten und Gelegenheiten. Es gilt also, ohne Unterlass wachsam zu sein. Dier Formen von Gewalt sind vielfältig und können immer wieder neue Formen annehmen. Und auch alte Formen von Gewalt, etwa die der Auseinandersetzung mit Waffen, können unversehens wieder an Kraft gewinnen. Schließlich ist es doch erstaunlich, dass in unserer scheinbar so friedsamen Gesellschaft ein eigentümliche Faszination von den fiktiven Morden ausgeht, wir sind Zuschauer ungezählter Morde in den täglich ausgestrahlten Fernsehkrimis. Was fasziniert uns so daran? Ich habe ein Akademiegespräch mit Joe Bausch zu dem Thema geführt. Joe Bausch ist einerseits Schauspieler und mimt den Gerichtsmediziner Dr. Roth in dem Kölner Tatort. Zum anderen ist er Arzt in einer Justizvollzugsanstalt und dadurch täglich mit solchen Menschen konfrontiert, die schwere Gewalttaten begangen haben. Über beide Facetten von Gewalt reden wir in dem Gespräch.

 

 

Über die Rolle von moralischen Werten in der Politik

In den letzten Jahren hat die Rede von moralischen Werten in der deutschen Politik dramatisch zugenommen. Wenn man den öffentlichen Verlautbarungen glaubt, geht es in der politischen Auseinandersetzung vor allem darum, welchen Werten man folgt. Oft hat die Rede von den Werten appellativen Charakter: Man müsse sich auf die gemeinsamen Werte besinnen, es gehe darum, den richtigen Werten zu folgen, im Ernstfall geht es darum, die gemeinsamen Werte zu verteidigen.

Die Politik als Mechanismus zur kollektiven Ausrichtung auf gemeinsame Werte? Für mich ist diese Beschreibung in keiner Weise überzeugend. Zunächst einmal vorab, damit keine Missverständnisse entstehen: Natürlich spielen Werte eine wichtige Rolle in politischen Handlungen. Das gilt aber nicht nur für die politischen Handlungen, sondern ebenso auch für alle anderen menschlichen Handlungsweisen. Auch wirtschaftliches, unternehmerisches, wissenschaftliches, kulturelles und religiöses Handeln sollte wertorientiert sein. Es ist eine Auszeichnung aller menschlichen Handlungen, dass sie Werten folgen können. Und es ist weiterhin eine Auszeichnung, dass wir diese Werte diskutieren, dass wir über Wertkonflikte reden und bestehende Wertorientierungen in Frage stellen können.

Politik ist der Ort der Aushandlung gesellschaftlicher Konflikte

Doch gilt das für alle menschlichen Handlungen, da hat die Politik keine Sonderstellung. Ich bezweifle aber, dass die Politik als ein herausragender Ort für wertorientiertes Handeln beschrieben werden kann. Politik ist in der Tradition doch viel überzeugender als ein Ort der Aushandlung von Interessenskonflikten beschrieben worden. Es geht in der Politik nicht darum, wer den besseren oder richtigen Werten folgt, sondern darum, auf wertorientierte Weise Konflikte zwischen unterschiedlichen Interessen zu bearbeiten. Das war nicht nur in der Vergangenheit richtig, sondern hat auch heute eine große Bedeutung. Eine moderne offene Gesellschaft ist zu kompliziert, als dass ein Mastermind eine für alle gleichermaßen gültige und zufrieden stellende Lösung finden könnte. Geschichtliche Entwicklungen sind kontingent, zufallsbestimmt und oft nicht „systemlogisch“.

Es gibt in einer offenen Gesellschaft unterschiedliche kollektive Erinnerungen, unterschiedliche ökonomische Interessen, es gibt technische Innovationen mit unübersehbaren sozialen Folgen. Wenn es also nicht die eine Position gibt, von der aus die Problemlösungen dirigiert werden können, bleibt es bei der pragmatischen Aushandlung von je und je entstehenden Konflikten. Die Interessensgruppen können sich in der Gesellschaft mehr oder weniger gut hörbar machen und ihre Interessen vertreten. Es gibt Gewinner und Verlierer. Nicht alle haben gleichen Zugang zu Ressourcen.

Die biblische Geschichte ist voller Konfliktdarstellungen

Zum Verständnis der aktuellen politischen Diskussion kann es auch hilfreich sein, einmal in die Bibel zu schauen. Die biblischen Darstellungen von Geschichte legen ein Verständnis von Geschichte nah, das von Konflikten und immer wieder neu entstehenden Verwerfungen geprägt ist. Die Geschichte ist hier eher eine turbulente Entwicklung mit immer wieder neuen Herausforderungen. Scheint einmal alles einigermaßen gut geordnet wie im Königreich David und Salomon (das aber auch durch nicht enden wollende Konflikte gekennzeichnet ist), entstehen alsbald neue Probleme und Verwerfungen. Immer wieder intervenieren Seher und Propheten, die situationsbezogen handeln. Eine dauerhafte Lösung von Konflikten zeichnet sich nicht ab. Das gilt für das Verhältnis der Menschen zueinander. Das gilt im Übrigen aber auch für ihr Verhältnis zu Gott. Wenn die christliche Botschaft davon redet, dass die Konflikte zwischen Mensch und Gott aufgehoben sind, dann lag das nicht an der richtigen Wertorientierung der Menschen…

Kann es einen Zustand weitgehender Konfliktlosigkeit geben?

Es gibt allerdings eine Tradition der politischen Theorie, die die Beschreibung von Politik durch Interessenkonflikte eher gering schätzt. Das ist die liberale Tradition. Sie legt nah, dass es ein harmonisches Miteinander der vielen Menschen in einer komplexen Gesellschaft geben kann, wenn nur die richtigen Randbedingungen gesetzt sind. Richtige Randbedingungen sind solche, die die freie Entfaltung von Individuen befördern. Dann stellt sich ein Zustand ein, der den größten Nutzen für alle erzeugt. Doch hat diese Tradition den Nachteil, dass sie auf keine historische Erfahrung verweisen kann, in der die Bedingungen erfüllt gewesen wären. Die Geschichte der Menschheit ist aus dieser Perspektive eine fortgesetzte Folge von Störungen und Abweichungen von dem idealen Zustand. Ist man aber nah dem idealen Zustand, dann kann man sich in der Politik auf die Werte konzentrieren und an die Individuen appellieren, sich entsprechend der gemeinsamen Werte zu verhalten.

Aber vielleicht sind die Störungen gar keine Abweichungen von einem an sich idealen Zustand, vielleicht sind die immer neuen geschichtlichen Konstellationen mit immer neuen Herausforderungen der Normalfall der menschlichen Existenz in der Geschichte! Dann ist es nicht so einfach, globale Rezepte zu dekretieren. Erst in den Mühen der Ebene, bei dem Aushandeln der vielen kleineren und größeren Konflikte, mag sich herausschälen, welche politische Entscheidung gerechtfertigt ist und welche nicht.

Die Rede von den Werten wirkt strukturkonservativ

Welche Funktionen hat die ausufernde Rede von den Werten in der Politik, die man in den letzten Jahren beobachten kann? Wer Werte immer wieder thematisiert, zeigt, dass es ihm an ihrer Aufrechterhaltung der Werte gelegen ist. Im Grunde ist die Rede, so wie sie bei uns geführt wird, aber nicht nur wertkonservativ, sie ist auch strukturkonservativ. Sie legt nah, dass politischen Rahmenbedingungen schon mehr oder minder gut eingerichtet ist. Es kommt nur darauf an, dass die Menschen auch den „richtigen“ Werten folgen.

In der öffentlichen Darstellung geht es den politisch Tätigen anscheinend vor allem darum, darauf zu achten, dass die gemeinsamen Werte eingehalten werden. Der Appell an die gemeinsamen Werte betont aber die Gemeinsamkeit und lässt gesellschaftliche Konflikte gering erscheinen. Der Rest von Politik besteht aus untergeordneten technischen Fragen, wie man das gemeinsam Bestätigte am besten erhalten kann. Diese öffentliche Darstellung kaschiert damit die Konflikte, die in jeder offenen Gesellschaft, besonders aber in einer modernen Gesellschaft bestehen. Wer Werte thematisiert, braucht nicht so sehr über Interessenskonflikte zu reden, es geht schließlich um das Gemeinsame.

Die politische Exekutive kann sich durch den Appell an die gemeinsamen Werte den Anstrich einer präsidialen Rolle geben. Dass die Exekutive in der Politik in „westlichen“ Gesellschaften eine problematische zentrale Machtstellung gewonnen hat, dass die Legislative, das Parlament, nur noch eine untergeordnete Rolle spielt, hat etwa der Historiker Pierre Rosanvallon klar herausgearbeitet. Doch das Parlament ist der eigentliche Ort, um Konflikte öffentlichkeitswirksam zum Ausdruck zu bringen.

Die deutschen Konflikte werden zurzeit nach Europa exportiert

Für unser politisches Gemeinwesen wäre viel gewonnen, wenn es gelänge, Interessenskonflikte wieder deutlicher zur Geltung zu bringen. Denn das bildet besser ab, was in der Gesellschaft tatsächlich stattfindet: Eine unausgesetztes Ringen um Ressourcen und Interessenseinflüssen. Diese Interessenskonflikte gibt es innerhalb der nationalen Gesellschaften, aber auch im internationalen Kontext. Es scheint so, als habe die deutsche Gesellschaft die Konflikte externalisiert: in der aktuellen europäischen Situation profitiert Deutschland als stärkster Produktionsstandort von der gemeinsamen, eher schwachen Währung, während andere Länder in einer wirtschafts- und sozialpolitisch prekären Situation sind. Das ist dann eine gute Voraussetzung, die Werte in der politischen Rhetorik nach vorne zu kehren, an gemeinsame Werte zu appellieren, die Konflikte sind ja im eigenen Land gemildert.

Es ist aber äußerst wahrscheinlich, dass die Interessenkonflikte sehr bald wieder hervorbrechen werden: In der Europäischen Union gibt es eine Vielzahl tiefgreifender struktureller Konflikte, die bislang kaum in unser Bewusstsein gedrungen sind. Es ist aber nur eine Frage der Zeit, bis sie offen thematisiert werden. Dann stehen Entscheidungen an und dann werden wir wohl auch in der deutschen Politik wieder stärker von Konflikten reden müssen.

Was ist mit Geschichte?

Ich empfinde schon seit längerer Zeit ein Unbehagen, wenn ich aktuelle Diskussionen zum Zeitgeschehen verfolge. Ich habe den Eindruck, dass wir in einer Zeit gravierender Geschichtsvergessenheit leben. Nicht in dem Sinne, dass wir uns nicht mehr erinnern würden. Schließlich ist doch die Evangelische Kirche in diesem Jahr mit großer Intensität dabei, das Reformationsjubiläum zu begehen! Auch gibt es vielfältige Gedenkfeiern, oft motiviert durch die schreckliche deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert. Ich meine eher die Geschichtsvergessenheit in der Deutung der Gegenwart. Wir diskutieren unsere Zeit, als sei sie so, wie sie ist und viel Neues sei auch nicht zu erwarten. Kaum gibt es in der Deutung der Gegenwart einen Blick zurück, schon gar nicht gibt es einen Blick nach vorne.

Es stellt sich die Frage, ob dies nicht die Folge eines im Grundsatz liberalen Schemas ist. Danach gibt es zwar eine Geschichte, aber die Geschichte ist doch eher die Geschichte der Störungen eines sich selbst stabilisierenden Systems. Der freie Markt ist das Paradebeispiel. Wenn es nur den wirklich freien Markt gäbe, dann stabilisierte er sich immer wieder neu, kleinere Veränderungen würden aufgenommen und in einen neuen stabilen Zustand überführt. Hier ist Geschichte Nebensache. Natürlich gibt es Veränderungen, aber den Hauptton setzen die sich selbst stabilisierenden Systeme. Wenn man die Störung gering halten kann, dann geht das System wieder in einen stabilen Zustand über. Das gilt dann auch für die Natur: eigentlich ist sie stabil. Als ob die Evolution nicht von etwas ganz anderem reden würde: Hier ist alles Bewegung und Veränderung. Evolutionäre Nischen sind die Ausnahme und meist nicht auf Dauer gestellt.

Ich habe diese Grundgedanken liberaler Theorien schon immer für eine Fiktion gehalten: Eigentlich wäre die Welt wunderbar eingerichtet, nur leider gibt es ständig Störungen. Ich glaube, dass umgekehrt „ein Schuh daraus wird“: Wir leben in einer Welt, die sich in einer kontinuierlichen  geschichtlichen Veränderung befindet. Was gestern war, ist heute anders und wird morgen wiederum verändert sein. Stabilisierende Systeme sind Abstraktionen aus dieser Entwicklung. Sie mögen eine Zeit lang Stabilität ermöglichen, aber es ist immer damit zu rechnen, dass sie sich grundlegend verändern können.

Diese Sichtweise ist im Übrigen meiner Ansicht nach auch biblischer. Der christliche Gott ist ein Gott der Geschichte. Er hat sein Volk durch die Geschichte begleitet. Israel hat immer wieder die bewahrende Kraft Gottes, aber auch seinen Zorn erfahren und zum Ausdruck gebracht. Auch nach der Offenbarung Gottes in Christus hört die Geschichte nicht auf. Christinnen und Christen leben im Vorschein des kommenden Reiches Gottes. Deshalb ist die Erinnerung so wichtig, ist es wichtig, von Gottes Geschichte mit dem Menschen erinnernd zu erzählen. Und deshalb ist auch die Hoffnung so wichtig, weil sie einen Sinn dafür gibt, was noch aussteht. Wir sind eingebunden in eine geschichtliche Entwicklung, die wir nur mit Mühe überschauen können. Aber Versuche dazu, etwa durch Erzählungen, können auch immer wieder Neues entdecken, Neues in dem Vergangenen, das aber auch überraschende Einblicke in das gewähren kann, was kommen wird.

Doch wir diskutieren unsere Gegenwart nicht in diesem Spannungsbogen. Wir beschreiben sie nur in Ansätzen aus der Entwicklung der Vergangenheit heraus. Aber schon gar nicht beschreiben wir sie unter dem Vorzeichen der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Stattdessen sind wir vernünftig und realistisch. Wir wissen nun, was Sache ist, haben die Lehren aus der Vergangenheit gezogen. Wir stehen nicht in einer kontinuierlichen Entwicklung, sondern sehen die Vergangenheit als ein Reservoir an, aus dem wir unsere Folgerungen ziehen. Wir schauen natürlich in die Zukunft. Aber auch das tun wir vernünftig und realistisch: Wir stellen Prognosen an, zumeist mit „wissenschaftlichen“ Mitteln. Zumeist fallen die Prognosen negativ aus. Aber das zeigt ja nur, wie vernünftig und realistisch wir geworden sind.

Da ist etwas Grundsätzliches verloren gegangen. Nichts gegen Prognosen, die jeder Mensch, der tatsächlich vernünftig und verantwortlich ist, anstellen muss. Aber warum fragen wir nicht viel intensiver danach, in welcher geschichtlichen Entwicklung wir leben? Warum versuchen wir nicht die politische und kulturelle Bewegung aus der Vergangenheit in die Zukunft fortzuschreiben. Warum entwickeln wir keine Hoffnung und sehen die Wirklichkeit als eine zukunftsoffene Wirklichkeit an? Warum sind wir eigentlich kaum neugierig auf das, was da kommen wird? Der Versuch, die Welt als sich selbst stabilisierendes System zu verstehen, kann in manchen Fragen hilfreich sein. Die Menschheitsgeschichte aber zeigt: Zumeist wurde es auf überraschende Weise anders, als die Menschen zuvor geglaubt haben. Das gilt auch heute so, seien wir doch vernünftig und realistisch!

Bemerkungen zu dem Buch von Hartmut Rosa: „Resonanz“

Vorbemerkung (2.10.18) Nach diesem Blogbeitrag ist eine längere Rezension, die auch noch deutlicher Position bezieht, in der Internetzeitschrift „Euangel“ 2/2018 erschienen.

In einem Vortrag vor einigen Tagen habe ich einige Überlegungen vorgestellt, die die Verbundenheit für die Beschreibung des christlichen Glaubens hervorheben: Es geht im Glauben um eine grundlegende Verbundenheit mit anderen Menschen, um die Verbundenheit mit der Welt. Beide resultieren aus einer radikalen Verbundenheit mit Gott. In der anschließenden Diskussion ist mir die Frage gestellt worden, in welchem Zusammenhang diese Gedanken mit dem Ansatz des Soziologen Hartmut Rosa stehen, wie er ihn in seinem Buch „Resonanz“ dargestellt hat (Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Frankfurt am Main 2016). Ich habe das Buch noch einmal zur Hand genommen. Einige Beobachtungen zu dem, was mir auffiel.

Zunächst: Rosa beruft sich unter anderem auf drei Philosophen, die auch für mich sehr wichtig sind, Charles Taylor, Maurice Merleau-Ponty und Bernhard Waldenfels. Ich finde auch viele Gedanken bei Rosa, die mir selbst sehr wichtig sind. Was meint Resonanz  nach Rosa? Resonanz weist zunächst einmal darauf, dass das Entscheidende eines gelingenden Lebens nicht in einem selbst liegt, sondern in der Beziehung, die man zur Welt hat! Wir sollten nicht zu ergründen versuchen, wie es tief in unserm Innern aussieht, um zu uns selbst zu kommen. Vielmehr geht es darum, darauf aufmerksam zu werden, dass wir schon immer in der Welt und in den Beziehungen zu anderen Menschen eingebunden sind. Diese „Soziologie der Weltbeziehung“ (56) ist gegenüber den üblichen Selbstvervollkommnungsansätzen eine wichtige Korrektur: Wir kommen nicht dadurch zu uns selbst, dass wir uns auf uns selbst konzentrieren, sondern nur so, dass wir auf unsere Beziehung zur Welt achten.

Was Rosa unter Resonanz versteht, macht er in einem Bild deutlich: Bei Resonanz entsteht so etwas wie ein vibrierender Draht zwischen uns und der Welt. (24) Dabei kommt es auch auf die Haltung an, die man gegenüber der Welt einnimmt: „Auf dem Gipfel eines Berges oder am Ufer des Meeres sind (zumal moderne) Menschen auf eine andere Weise in die Welt gestellt als in der Großstadt (…).“(31) Resonanz kann man also besonders gut in diesen außergewöhnlichen Momenten erleben. Aber es kommt darauf an, dass Resonanz nicht nur eine Ausnahmeerscheinung im Leben ist, sondern eine Struktur, die unser Leben begleitet. Was ist nach Rosa ein gutes Leben? Das gute Leben ist das „Ergebnis einer Weltbeziehung, die durch die Etablierung und Erhaltung stabiler Resonanzachsen gekennzeichnet ist (…).“ (59)

Der Begriff der Resonanz stellt vor allem die klassische Subjekt-Objekt-Unterscheidung in Frage. Diese Unterscheidung vollzieht zunächst einmal eine Trennung: Wir sind die Subjekte, die dem Objekt „Welt“ gegenüber stehen. Wir sind aber als Subjekte nicht unabhängig von der Welt, sondern immer schon aufeinander bezogen. Das ist ohne Zweifel ein Erbe des Ansatzes von Merleau-Ponty (und vonHeidegger), durch den ja auch Taylor und Waldenfels beeinflusst sind. Rosa definiert die Resonanz sehr kompakt in wenigen Sätzen, die theoretisch hoch verdichtet sind. Der zentrale Satz lautet:

„Resonanz ist eine durch Af<-fizierung und E->motion, instrinsisches Interesse und Selbstwirksamkeitserwartung gebildete Form der Weltbeziehung, in der sich Subjekt und Welt gegenseitig berühren und zugleich transformieren.“ (298)

Ein nicht gerade leicht zu verstehender Satz. Man merkt, dass hier sich verdichtet der Kern der Theorie von Rosa befindet. Aber die beiden Sonderzeichen in den Wörtern Affizierung und Emotion zeigen an: Resonanz ist ein Geschehen zwischen dem Subjekt und der Welt, das zwei Richtungen kennt. Beide müssen füreinander offen sein, nur so kann es zur Resonanz kommen.

Für Rosa hat die Resonanz nicht nur eine beschreibende Bedeutung, dem Begriff kommt auch eine kritische Funktion zu. Deshalb setzt er den Begriff der Resonanz von jenem Begriff ab, der für die Missstände unserer Zeit verantwortlich ist: von dem Begriff der Entfremdung. Bei der Entfremdung ist das Verhältnis des Subjekts zur Welt durch Gleichgültigkeit oder gar Ablehnung bestimmt (306) Entfremdung hat nach Rosa viel mit der kontinuierlichen Beschleunigung  zu tun, durch die unsere Zeit geprägt ist.

So weit in wenigen Worten einige wichtige Gedanken aus dem Ansatz von Rosa. Er lässt sich leicht auf Erfahrungen unserer Zeit beziehen. Das ist seine Stärke, aber auch seine Gefährdung. Mir scheint es, dass man beim Lesen doch nur allzu schnell sagen kann: Ja, so ist es! Doch diese Bestätigung gefährdet den Anspruch, mit dem Ansatz etwas Neues zeigen zu wollen. Ich habe Probleme damit, dass Rosa sich zwar gegen die Unterscheidungen von Objekt und Subjekt wendet, das Arsenal der herkömmlichen Weltvorstellung aber bestehen lässt: Es gibt Subjekte, es gibt die Welt. Es kommt nur darauf an, wie man damit umgeht. Wenn man es falsch macht, entsteht Trennung, wenn man es richtig macht, entsteht Resonanz. Nur allzu schnell kann der Ansatz therapeutisch verkürzt werden: Es kommt nur darauf an, die Beziehung zur Welt (und zu anderen Menschen) besser zu gestalten. Leiden wir nicht an den neueren gesellschaftlichen Entwicklungen, an der Beschleunigung? Das ist die Entfremdung! Wie können wir uns aus dieser Entfremdung befreien? Indem wir neue Resonanzachsen aufbauen bzw. sie pflegen. Das ist möglich, denn: „Die Resonanztheorie geht im Gegenteil von der Überzeugung aus, dass beide Seiten von Resonanz- oder Entfremdungsverhältnissen – Subjekt und Welt – grundsätzlich veränderbar sind (…).“ (728)

Und dann folgt bei Rosa ein Programm, das eigentlich bekannt ist. Es geht um die Postwachstumsgesellschaft, die natürlich liberal, demokratisch und pluralistisch ist. Ebenso klingen viele andere zurzeit aktuelle Begriffe an: Urban Gardening, Shared Economy usw. usf. Man könnte auf den Gedanken kommen, dass, wenn man sich in dem richtigen sozialen Milieu befindet, dass man dann auch schon auf dem richtigen Wege ist. Das muss alles jetzt nur noch umgesetzt werden.

Mir behagen diese überraschungsfreien Konsequenzen nicht, die Rosa aus dem Ansatz ableitet. Der Ansatz ist im Grunde fundamental, wichtig und richtig. Doch die Durchführung der Theorie ist nur allzu anschlussfähig an die Grundüberzeugungen bestimmter Milieus in unserer Gesellschaft. Da wirkt der Ansatz wie eine Bestätigungstheorie. Viele Leserinnen und Leser dieser Milieus können das Buch zuklappen, zufrieden, dass sie das doch immer schon gewusst haben. Das erhöht sicherlich die Resonanz des Buches selbst. Aber müssen wir in unseren Zeiten des Umbruchs und der Verunsicherung nicht tiefer graben? Gilt es nicht, neue Antworten zu finden, die vielleicht auf dem ersten Blick nicht schlüssig klingen? Der Ansatz von Rosa bietet meiner Ansicht nach dazu Möglichkeiten. Nur sind sie nicht ausgeführt.