Putin muss weg!? Die Konflikte bleiben…

Jürgen Habermas hat in der Süddeutschen Zeitung einen Text zum Krieg in der Ukraine geschrieben. Die kritischen Reaktionen darauf machen deutlich, dass sich viele in Deutschland auf dem Weg in eine neue Epoche sehen. Sie schreiben das Stichwort, dass der Bundeskanzler am 27. Februar in seiner Rede im Bundestag gesetzt hat, auf ihre Fahnen: „Zeitenwende“. Nun werde offenkundig, dass die Welt sich geändert hat. Man müsse sich selbst deshalb auch ändern, so Anton Hofreiter, der im Nu sich zu einem Waffenexperten mausern konnte. Es gelte, in dieser Zeit anders zu denken, zu argumentieren und zu handeln. Deshalb ist es auch nicht notwendig, die Argumentation von Texten wie etwa dem von Jürgen Habermas genau zu bedenken. Er gehört zum alten Eisen, jetzt gelten die Bedingungen der neuen Zeit. Habermas kann aus vielerlei Gründen kritisiert werden, das tue ich auch in diesem Beitrag, aber sein vorliegender Text zum Krieg in der Ukraine ist wohl abgewogen und zeigt, ganz untypisch für Habermas, ein Dilemma auf, dem wir nicht ausweichen können. Das halte ich für sehr bedenkenswert! Russland ist leider nicht irgendein Land, das die Ukraine überfallen hat. Es ist die größte Atommacht. Kann man einen solchen Krieg mit Panzern gewinnen?

Ein großes Aufwachen!?

Offenkundig haben Leute, die sich jetzt mit Verve neu positionieren, vieles lange und gut ignorieren können, dass sie erst mit dem Krieg in der Ukraine alles anders sehen. Sie haben verpasst, dass es auf der Welt der letzten Jahre kontinuierlich destruktive Konflikte und Kriege gab, etwa die Kriege im Jemen, in Äthiopien, im Sudan. Die ausgebrochenen Kriege sind das eine, die schwelenden Konflikte sind etwas anderes, von Afghanistan über Libyen und Mali bis Myanmar.  Waren diese zu weit weg, um sich ihnen wirklich zu stellen?

Putin – Energielieferant oder das Böse in der Welt?

Auch gegenüber der Person Wladimir Putin ist der Positionswandel dramatisch. Es ist noch nicht ein Jahr her, dass Herr Putin sich gegenüber der scheidenden Kanzlerin Merkel für die lange Zusammenarbeit bedankte und artig einen Blumenstrauß schenkte. Keiner regte sich auf, alles schien in Ordnung. Langfristige Verträge zu Nord Stream 2 waren unter Dach und Fach, die Abhängigkeit vom Energieproduzenten Russland auf lange Sicht festgelegt. Doch mit dem Krieg ist alles anders. Putin ist zu dem Bösen der Welt mutiert, der unbedingt weg gehört. Fast alles ist zu rechtfertigen, wenn es dem Ziel dient, Putin zu beseitigen, die russische Armee zu besiegen, die russische Wirtschaft zu demontieren. Putin war aber nie der vertrauensvolle Gashändler, als den man ihn darstellen wollte! Es sind genügend Reden von Putin bekannt, die sehr genau skizzieren, warum er nun die Ukraine überfallen hat. Es wäre auch möglich gewesen, auf das zu achten, was er in Aleppo oder im Donbass getan hat.

Eine Weltanschauung, die ohne destruktive Konflikte auskommt

Meine These: Die extrem unterschiedlichen Haltungen („Frieden auf Erden für alle ist jederzeit möglich“ und „Nun müssen wir den Feind im Krieg beseitigen“) bedingen einander. Deshalb ist es auch möglich, so leicht von der einen zur anderen Seite überzugehen. Sie sind von ein und derselben Weltanschauung geprägt, nämlich von der Annahme, dass destruktive Konflikte eine unzulässige Ausnahme in der Welt darstellen. Konflikte müssen hiernach nicht sein, sie lassen sich in der Regel durch rationale und moralische Handlungen auflösen – oder im Extremfall durch einen Krieg, der den Aggressor beseitigt. Woher kommt diese Weltanschauung? Zwei Quellen dieser Haltung möchte ich nennen. Einerseits speist sie sich tatsächlich aus Theorien wie der des Altmeisters Jürgen Habermas. Seine Theorie tat sich immer schwer mit der Beschreibung strategischer Interessen und auch mit destruktiven Konflikten. Sein ganzes Augenmerk galt der rationalen und moralischen Verständigung, gefestigt durch einen rechtlichen Rahmen. Doch vieles, was in der Welt geschieht, sprengt diesen Rahmen. Die zweite weitaus wichtigere Quelle ist der feste Glaube an die pazifizierende Wirkung des weltweiten Handels. Wenn nur alle in Wirtschaftsverträge eingebunden sind, dann werden sie das Interesse haben, sich in das Weltganze konstruktiv einzufügen. Doch auch hier ist das Eis dünn und hält nur, solange dieses Wirtschaften auch Wohlstand erzeugt. Was geschieht mit Ländern, die aus der Wohlstandsmaschinerie herausfallen? Ob dieser Optimismus eine künftige Wirtschaftskrise übersteht?

Lasst uns über Konflikte reden!

Unter diesen Vorzeichen haben Politikerinnen und Politiker in den vergangenen Jahren die sich abzeichnenden Konflikte mit Russland nicht genügend ernst genommen. Und so glauben dieselben heute, wenn nur Russland besiegt ist, wenn nur Putin weg ist, dann können die Konflikte auch wieder verschwinden. Beides war und ist falsch. Außenpolitik sollte nicht nur stets mit auch destruktiv wirkenden Konflikten rechnen, sondern sie auch frühzeitig aussprechen. Es war deshalb nach langer Zeit ein neuer und wohltuender Ton in der deutschen Außenpolitik, dass Annalena Baerbock gleich zu Beginn ihrer Amtszeit von Konflikten sprach, in die Deutschland einbezogen ist. Das ermöglichte ihr auch, von Beginn an eine angemessene Haltung gegenüber Russland einzunehmen. Wie waren dagegen die Auftritte von Heiko Maas in Moskau in den vergangenen Jahren?

Konflikte beseitigen?

Besonders gefährlich ist es nun, wenn aus dieser Haltung heraus, dass solche Konflikte eigentlich nicht notwendig seien, statt einer langfristigen Konfliktbearbeitung kurzfristige Konfliktbeseitigungen angestrebt werden. Wenn solche destruktiven Konflikte nicht zur Welt gehören, wenn sie die Ausnahme von der Regel sind, mag es ja vielleicht auch möglich sein, ihre Ursachen zielgenau zu beseitigen. Doch was heißt das für die politischen Forderungen und Ziele im aktuellen Krieg? Kann Russland überhaupt „verlieren“? Und wie wäre sein Zustand dann? Wird es dann zu einem berechenbaren und wieder rational und moralisch handelnden Akteur? Oder hängt alles an der Person Putin, und, wenn die weg ist, wird wieder alles gut? Sehr wahrscheinlich ist doch: Der Konflikt, der sich in den vergangenen Jahren abzeichnete, wird in der einen oder anderen Weise auch in Zukunft bleiben. Wir werden eine Weise finden müssen, ihn einzuhegen. Wir werden um internationale Arrangements ringen müssen, die alle einbezieht, ohne den Konflikt zu ignorieren. Und neue Konflikte zeigen sich am Horizont.

Der lange Atem im Umgang mit Konflikten

Die Friedens- und Konfliktforschung hat in den vergangenen Jahrzehnten viele gute Modelle der Konfliktbearbeitung entwickelt. Die dürfen angesichts der raschen Hinwendung zum Krieg nicht in Vergessenheit geraten. Der zugrunde liegende Konflikt lässt sich durch keinen Kriegsverlauf auflösen. Wir werden mit ihm auch nach dem Krieg zu tun haben und einen modus vivendi finden müssen. Wenn das die Erwartung ist, werden die Beiträge auch nüchterner und die kritischen Argumente mehr gehört, etwa konkret die von Jürgen Habermas in seinem Text zum Ukraine Krieg.

Das alles sagt übrigens wenig über die allseits diskutierte Frage der Waffenlieferung. Auch das ist ein Problem, das nüchtern mit Sachargumenten abgewogen werden muss. Was können die Waffen bewirken, welche realistischen Ziele verfolgt eine solche Intervention, welche Option ist derart, dass die Zahl der leidenden Menschen nicht weiter wächst? Waffen werden den zugrunde liegenden Konflikt nicht beseitigen.

Abschied vom Auenland

Der Psychologe Stephan Grünewald hat in seinem Buch „Wie tickt Deutschland“ eine Metapher eingeführt, die erhebliche Aussagekraft für die Stimmung in Deutschland des vergangenen Jahrzehnts hat: die Metapher des Auenlandes. (Am Ende dieses Textes ist ein Link zu einem Video mit einem Gespräch mit Stephan Grünewald vom November letzten Jahres.) Die Metapher ist natürlich eine Anspielung an die Saga von Tolkien „Der Herr der Ringe“. Das Auenland wird von den Hobbits bewohnt, es ist wohl gefügt. Die Hobbits sind in der Regel friedliche und freundliche Zeitgenossen. Sie leben in einer Idylle, in der es an nichts Grundlegendem fehlt. Im Großen und Ganzen ist alles in einer guten Ordnung, es gibt natürlich immer Gründe zur Klage, doch kann man mit einigem guten Willen diese Gründe beseitigen. Gerne appellieren viele Politikerinnen und Politiker in Deutschland an ein diffuses „Wir“, das dem „Wir“ der Auenlandbewohner gleicht. Gesellschaftliche Interessenkonflikte scheinen der Vergangenheit anzugehören. Dieses „Wir“ wird auch dadurch befeuert, dass dem „Auenland“ in der Terminologie von Grünewald das „Grauenland“ gegenüber steht. Das Auenland „Wir“ ist insgeheim froh, nicht dort leben zu müssen. In gewisser Weise fand aber mit diesem vorherrschenden Gefühl und „Wir“ Verständnis in der Politik eine erhebliche Entpolitisierung statt.

Wie das Auenland-„Wir“ entstand

Das Auenland Gefühl erfasst eine breite Mehrheit, wenn auch bei weitem nicht alle in der Gesellschaft, denn viele können an den Wohlstand gerade nicht partizipieren. Aber ihr kultureller Einfluss ist sehr begrenzt und kann dem Gefühl der Mehrheit wenig entgegen setzen. Das Auenland Gefühl darf nicht mit der sozialen Realität verwechselt werden. Allerdings es ist auch nicht willkürlich entstanden, die wirtschaftlichen und politischen Randbedingungen Deutschlands waren und sind tatsächlich sehr vorteilhaft und das beförderte bei einem großen Teil der Bevölkerung das Auenland Gefühl. Als starker exportorientierter Industriestandort ist Deutschlands Position innerhalb der EU unangefochten. Gleichzeitig ist der gemeinsame Euro nicht so stark wie es die alte D-Mark wäre. Das beflügelt zudem den Export in Staaten außerhalb der EU. Die guten Kontakte zu dem aufsteigenden Markt China aber auch zu dem großen Markt in den USA haben die Exporte kontinuierlich wachsen lassen. Die Wirtschaftsdaten Deutschlands waren deshalb über einen langen Zeitraum allesamt positiv. Die Arbeitslosigkeit nahm kontinuierlich ab, die Zahl der Arbeitsplätze kontinuierlich zu, hin und wieder war Deutschland Exportweltmeister. Mit keiner anderen Politikerin werden die positiven Daten assoziiert wie mit Angela Merkel. Ihr öffentliches Bild ist zu dem der mütterlichen und mit Umsicht sorgenden Kanzlerin geworden, die dafür sorgt, dass die Dinge auch für alle, für das große „Wir“ des Auenlandes gut bleiben.

Das Auenland-„Wir“ in der ersten Welle der Pandemie

Nun, in der Corona Pandemie aber gerät diese Auenland-Stimmung ins Wanken. Noch in der ersten Welle stellte sich das alte Gefühl nach einem anfänglichen Erschrecken recht schnell wieder ein. Die Inzidenzwerte waren besser als in anderen Ländern, der Lockdown wirkte schneller, das stark ausgebaute Gesundheitssystem war zu keiner Zeit ernsthaft in Gefahr einer Überlastung. Die Politik machte mit zum Teil martialischen Bildern deutlich, dass sie alle Widrigkeiten auffangen werde (Bazooka). Das Auenland will verteidigt werden. Dementsprechend stieg die Zuversicht im Sommer schnell wieder, wirtschaftliche Daten ließen den Schluss zu, dass sich der Standort Deutschland sehr schnell von dem Einbruch erholen werde. Die Politik bestärkte wiederum das diffuse „Wir“ Gefühl des Auenlandes. Man will die Herausforderungen „gemeinsam“ bewältigen. Auch hier geht es nur um ein Gefühl: Was meint dieses „Wir“ angesichts von starken Vermögensunterschieden, von sehr unterschiedlichen Partizipationschancen? Wenn Unternehmen, die Jahre zuvor viel Gewinn gemacht haben, nun vom Staat durch die Krise getragen und vor Verlusten beschützt werden, so fragt aufgrund des „Wir“ Gefühls niemand nach den Verteilungswirkungen dieser Hilfen. Jene, die zuvor die Gewinne verbuchen konnten, werden unterstützt von allen Steuerzahlern, bis sie wieder Gewinne für sich verbuchen können. Wie steht es mit denen, die in dieser Gesellschaft keine Gewinne machen können?

Die zweite Welle der Corona Pandemie

Doch dann kam im Herbst die zweite Welle. Nun kommen zu viele Mängel zum Vorschein, um sie noch in das Auenland-Gefühl integrieren zu können. Die öffentliche Infrastruktur ist in einem wesentlich schlechteren Zustand als es das Gefühl vermutet hätte. Da sind die Schulen, die auch in der zweiten Welle zumeist nicht auf digitalen Fernunterricht umstellen können. Da sind die Gesundheitsämter, die eine schon lange existierende Software zum überwiegenden Teil nicht installiert haben und die Daten auf gesondertem Weg übermitteln müssen. Da ist die Corona Warn App, die keinen tragenden Anteil an der Pandemiebekämpfung hat. Da ist die förderale politische Struktur, die während der Pandemiebekämpfung kontinuierlich Dissonanzen erzeugt. Im Dezember geriet auch das deutsche Gesundheitssystem an eine Belastungsgrenze, weniger wegen der technischen Geräte als  mehr wegen der ausgedünnten Belegschaften in den Krankenhäusern. In all dem zeigen sich Mängel, die schon vor der Pandemie da waren, die aber nicht sichtbar wurden. Hinzu kommen zwei Besonderheiten der Pandemiebekämpfung. Zum einen zehrt der langsame Impfstart an den Nerven vieler Menschen. Zum anderen existiert eine ständige Bedrohung, dass eine aggressivere Mutation des Virus die Zahlen wieder hochschnellen lassen kann.

Vom Schwinden des Auenland-„Wir“

Immer wieder wird gesagt, dass die Pandemie so etwas sei wie ein Brennglas, das die Verhältnisse sichtbarer macht. Das gilt auch für das diffuse „Wir“ des Auenlandgefühls. Es ist zu befürchten, dass nach der akuten Krise, wenn wir sie in einigen Monaten durchstanden haben, soziale Verwerfungen offensichtlicher werden. Es werden nicht alle in gleicher Weise die Krise durchstehen. Erste Schätzungen zeigen, dass die Krise zu einer Umverteilung von unten nach oben führen wird. Menschen mit viel Kapital verlieren nur wenig, solche, die weit überwiegende Mehrheit aber mit geringer Kapitalausstattung verlieren relativ mehr. Doch auch dies ist nicht einfach etwas Neues. Die Risse, die vorher angelegt waren, werden nur deutlicher.

Damit schwindet das diffuse „Wir“ des Auenlandes. Die gesellschaftlichen Verhältnisse werden wieder transparenter. Sie lassen sich bei weitem nicht auf ein Gemeinsames reduzieren. Es gibt Interessen, die sich in der Gesellschaft durchsetzen und solche, die dazu keine Chance haben. Sicherlich geschieht alles nach wie vor auf einem sehr hohen Wohlstandsniveau. Dadurch ließen sich die gesellschaftlichen Risse auch eine lange Zeit kaschieren. Mit ihnen schwindet das integrative Gefühl des Auenlandes, das diffuse „Wir“, das alle umfasst und auf ein Gemeinsames verpflichtet.

Möglicherweise gerät die Gesellschaft in die Lage, das Vordergründige des Auenland Gefühls besser wahrnehmen zu können. Für die Politik muss das kein Nachteil sein, es führt zu mehr Ehrlichkeit. Die Konflikte, denen man nicht ausweichen kann, können die Politik beleben. Es geht in ihr dann um unterschiedliche gesellschaftliche Entwürfe, die die einen oder die anderen Interessen vertreten. Möglicherweise wird diese Einsicht in dem kommenden Wahlkampf zur Bundestagswahl noch nicht so recht zur Geltung kommen können. Aber in mittlerer Sicht wäre es für die politische Kultur Deutschlands sehr hilfreich, weniger von dem Auenland-„Wir“ zu haben und mehr wieder um divergente Interessen zu ringen.

Hier der Link zu dem Gespräch mit dem Psychologen Stefan Grünebaum.

Über die Rolle von moralischen Werten in der Politik

In den letzten Jahren hat die Rede von moralischen Werten in der deutschen Politik dramatisch zugenommen. Wenn man den öffentlichen Verlautbarungen glaubt, geht es in der politischen Auseinandersetzung vor allem darum, welchen Werten man folgt. Oft hat die Rede von den Werten appellativen Charakter: Man müsse sich auf die gemeinsamen Werte besinnen, es gehe darum, den richtigen Werten zu folgen, im Ernstfall geht es darum, die gemeinsamen Werte zu verteidigen.

Die Politik als Mechanismus zur kollektiven Ausrichtung auf gemeinsame Werte? Für mich ist diese Beschreibung in keiner Weise überzeugend. Zunächst einmal vorab, damit keine Missverständnisse entstehen: Natürlich spielen Werte eine wichtige Rolle in politischen Handlungen. Das gilt aber nicht nur für die politischen Handlungen, sondern ebenso auch für alle anderen menschlichen Handlungsweisen. Auch wirtschaftliches, unternehmerisches, wissenschaftliches, kulturelles und religiöses Handeln sollte wertorientiert sein. Es ist eine Auszeichnung aller menschlichen Handlungen, dass sie Werten folgen können. Und es ist weiterhin eine Auszeichnung, dass wir diese Werte diskutieren, dass wir über Wertkonflikte reden und bestehende Wertorientierungen in Frage stellen können.

Politik ist der Ort der Aushandlung gesellschaftlicher Konflikte

Doch gilt das für alle menschlichen Handlungen, da hat die Politik keine Sonderstellung. Ich bezweifle aber, dass die Politik als ein herausragender Ort für wertorientiertes Handeln beschrieben werden kann. Politik ist in der Tradition doch viel überzeugender als ein Ort der Aushandlung von Interessenskonflikten beschrieben worden. Es geht in der Politik nicht darum, wer den besseren oder richtigen Werten folgt, sondern darum, auf wertorientierte Weise Konflikte zwischen unterschiedlichen Interessen zu bearbeiten. Das war nicht nur in der Vergangenheit richtig, sondern hat auch heute eine große Bedeutung. Eine moderne offene Gesellschaft ist zu kompliziert, als dass ein Mastermind eine für alle gleichermaßen gültige und zufrieden stellende Lösung finden könnte. Geschichtliche Entwicklungen sind kontingent, zufallsbestimmt und oft nicht „systemlogisch“.

Es gibt in einer offenen Gesellschaft unterschiedliche kollektive Erinnerungen, unterschiedliche ökonomische Interessen, es gibt technische Innovationen mit unübersehbaren sozialen Folgen. Wenn es also nicht die eine Position gibt, von der aus die Problemlösungen dirigiert werden können, bleibt es bei der pragmatischen Aushandlung von je und je entstehenden Konflikten. Die Interessensgruppen können sich in der Gesellschaft mehr oder weniger gut hörbar machen und ihre Interessen vertreten. Es gibt Gewinner und Verlierer. Nicht alle haben gleichen Zugang zu Ressourcen.

Die biblische Geschichte ist voller Konfliktdarstellungen

Zum Verständnis der aktuellen politischen Diskussion kann es auch hilfreich sein, einmal in die Bibel zu schauen. Die biblischen Darstellungen von Geschichte legen ein Verständnis von Geschichte nah, das von Konflikten und immer wieder neu entstehenden Verwerfungen geprägt ist. Die Geschichte ist hier eher eine turbulente Entwicklung mit immer wieder neuen Herausforderungen. Scheint einmal alles einigermaßen gut geordnet wie im Königreich David und Salomon (das aber auch durch nicht enden wollende Konflikte gekennzeichnet ist), entstehen alsbald neue Probleme und Verwerfungen. Immer wieder intervenieren Seher und Propheten, die situationsbezogen handeln. Eine dauerhafte Lösung von Konflikten zeichnet sich nicht ab. Das gilt für das Verhältnis der Menschen zueinander. Das gilt im Übrigen aber auch für ihr Verhältnis zu Gott. Wenn die christliche Botschaft davon redet, dass die Konflikte zwischen Mensch und Gott aufgehoben sind, dann lag das nicht an der richtigen Wertorientierung der Menschen…

Kann es einen Zustand weitgehender Konfliktlosigkeit geben?

Es gibt allerdings eine Tradition der politischen Theorie, die die Beschreibung von Politik durch Interessenkonflikte eher gering schätzt. Das ist die liberale Tradition. Sie legt nah, dass es ein harmonisches Miteinander der vielen Menschen in einer komplexen Gesellschaft geben kann, wenn nur die richtigen Randbedingungen gesetzt sind. Richtige Randbedingungen sind solche, die die freie Entfaltung von Individuen befördern. Dann stellt sich ein Zustand ein, der den größten Nutzen für alle erzeugt. Doch hat diese Tradition den Nachteil, dass sie auf keine historische Erfahrung verweisen kann, in der die Bedingungen erfüllt gewesen wären. Die Geschichte der Menschheit ist aus dieser Perspektive eine fortgesetzte Folge von Störungen und Abweichungen von dem idealen Zustand. Ist man aber nah dem idealen Zustand, dann kann man sich in der Politik auf die Werte konzentrieren und an die Individuen appellieren, sich entsprechend der gemeinsamen Werte zu verhalten.

Aber vielleicht sind die Störungen gar keine Abweichungen von einem an sich idealen Zustand, vielleicht sind die immer neuen geschichtlichen Konstellationen mit immer neuen Herausforderungen der Normalfall der menschlichen Existenz in der Geschichte! Dann ist es nicht so einfach, globale Rezepte zu dekretieren. Erst in den Mühen der Ebene, bei dem Aushandeln der vielen kleineren und größeren Konflikte, mag sich herausschälen, welche politische Entscheidung gerechtfertigt ist und welche nicht.

Die Rede von den Werten wirkt strukturkonservativ

Welche Funktionen hat die ausufernde Rede von den Werten in der Politik, die man in den letzten Jahren beobachten kann? Wer Werte immer wieder thematisiert, zeigt, dass es ihm an ihrer Aufrechterhaltung der Werte gelegen ist. Im Grunde ist die Rede, so wie sie bei uns geführt wird, aber nicht nur wertkonservativ, sie ist auch strukturkonservativ. Sie legt nah, dass politischen Rahmenbedingungen schon mehr oder minder gut eingerichtet ist. Es kommt nur darauf an, dass die Menschen auch den „richtigen“ Werten folgen.

In der öffentlichen Darstellung geht es den politisch Tätigen anscheinend vor allem darum, darauf zu achten, dass die gemeinsamen Werte eingehalten werden. Der Appell an die gemeinsamen Werte betont aber die Gemeinsamkeit und lässt gesellschaftliche Konflikte gering erscheinen. Der Rest von Politik besteht aus untergeordneten technischen Fragen, wie man das gemeinsam Bestätigte am besten erhalten kann. Diese öffentliche Darstellung kaschiert damit die Konflikte, die in jeder offenen Gesellschaft, besonders aber in einer modernen Gesellschaft bestehen. Wer Werte thematisiert, braucht nicht so sehr über Interessenskonflikte zu reden, es geht schließlich um das Gemeinsame.

Die politische Exekutive kann sich durch den Appell an die gemeinsamen Werte den Anstrich einer präsidialen Rolle geben. Dass die Exekutive in der Politik in „westlichen“ Gesellschaften eine problematische zentrale Machtstellung gewonnen hat, dass die Legislative, das Parlament, nur noch eine untergeordnete Rolle spielt, hat etwa der Historiker Pierre Rosanvallon klar herausgearbeitet. Doch das Parlament ist der eigentliche Ort, um Konflikte öffentlichkeitswirksam zum Ausdruck zu bringen.

Die deutschen Konflikte werden zurzeit nach Europa exportiert

Für unser politisches Gemeinwesen wäre viel gewonnen, wenn es gelänge, Interessenskonflikte wieder deutlicher zur Geltung zu bringen. Denn das bildet besser ab, was in der Gesellschaft tatsächlich stattfindet: Eine unausgesetztes Ringen um Ressourcen und Interessenseinflüssen. Diese Interessenskonflikte gibt es innerhalb der nationalen Gesellschaften, aber auch im internationalen Kontext. Es scheint so, als habe die deutsche Gesellschaft die Konflikte externalisiert: in der aktuellen europäischen Situation profitiert Deutschland als stärkster Produktionsstandort von der gemeinsamen, eher schwachen Währung, während andere Länder in einer wirtschafts- und sozialpolitisch prekären Situation sind. Das ist dann eine gute Voraussetzung, die Werte in der politischen Rhetorik nach vorne zu kehren, an gemeinsame Werte zu appellieren, die Konflikte sind ja im eigenen Land gemildert.

Es ist aber äußerst wahrscheinlich, dass die Interessenkonflikte sehr bald wieder hervorbrechen werden: In der Europäischen Union gibt es eine Vielzahl tiefgreifender struktureller Konflikte, die bislang kaum in unser Bewusstsein gedrungen sind. Es ist aber nur eine Frage der Zeit, bis sie offen thematisiert werden. Dann stehen Entscheidungen an und dann werden wir wohl auch in der deutschen Politik wieder stärker von Konflikten reden müssen.

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