Jürgen Habermas stellt die Gretchenfrage – Anmerkungen zu seiner Geschichte der Philosophie

Jürgen Habermas hat vor wenigen Monaten mit über 90 Jahren ein sehr umfangreiches Werk in zwei Bänden  vorgelegt: „Auch eine Geschichte der Philosophie“, Berlin 2019. Habermas hat sich in seinen bisherigen Veröffentlichungen fast ausschließlich auf die philosophische Diskussion der Neuzeit bezogen, seine Beiträge suchten stets die aktuelle gesellschaftliche Debatte und hatten eine große Bedeutung in der philosophischen Selbstverständigung der Bundesrepublik Deutschland. Nun, in dem aktuellen Werk blickt der Philosoph weit zurück, lässt seine Geschichte der Philosophie in der so genannten Achsenzeit, einige hundert Jahre vor Christi Geburt beginnen und verfolgt die Entwicklung der Philosophie über die Spätantike, das Mittelalter, die Renaissance und Reformationszeit bis ins frühe 19. Jahrhundert. Im Grunde liegt dadurch eine Rechenschaft über den Gang der Philosophie des Okzidents über mehr als 2000 Jahre vor.

Die Rolle der Lebenswelt in der gegenwärtigen Philosophie

Es geht Habermas aber nicht um eine einfache chronologische Darstellung historischer philosophischer Ansätze. Er ist zu diesem umfangreichen Werk wiederum durch eine Frage motiviert, die sich aus der philosophischen Debatte der Gegenwart speist. Er teilt die gegenwärtigen Ansätze der Philosophie in zwei Richtungen, in eine solche, die bei dem vereinzelten erkennenden Subjekt ansetzt und im Großen und Ganzen einer (natur-)wissenschaftlichen, einer szientistischen Orientierung folgt und in eine solche, die bei intersubjektiv geteilten Symbol- und Regelsystemen ansetzt und die die Bedingungen von lebensweltlicher Vermittlung nicht außen vor lässt. (vgl. Bd.1, S. 10) Es ist unschwer zu erkennen, dass sich Habermas selbst der zweiten Richtung philosophischer Ansätze zuordnet.

Ich finde diese erneute Hinwendung zur Lebenswelt in dem Denken von Habermas überraschend und wichtig. Es hat eine Zeit gegeben, in der er sich nach der „Theorie des kommunikativen Handelns“, wo sie eine zentrale Rolle hatte, sehr weit von einem Bezug auf die Lebenswelt entfernt hat. Die Beschäftigung mit dem Recht („Faktizität und Geltung“) und die Verankerung seiner Diskurstheorie mit dem Universalisierungsgrundsatz U haben ihn davon distanziert. Das war aus meiner Sicht sehr bedauerlich, weil die Lebenswelt ja gerade jenes Reservoir bezeichnet, in dem Menschen in elementarer Verbundenheit miteinander existieren. Die Lebenswelt war im Frühwerk bei Habermas immer das Gegenüber und kritische Korrektiv zu seiner modernen systemisch organisierten Gesellschaft. Die Abwendung von der Lebenswelt hat insbesondere ein ihm nahe stehenden Kritiker, der Philosoph Albrecht Wellmer bemängelt. Es scheint mir ein deutliches Zeichen zu sein, dass Habermas sein spätes Werk nun gerade diesem befreundeten kritischen Begleiter widmet.

Die Wegscheide bei Hume und Kant

Die beiden  philosophischen Richtungen, die heute miteinander konkurrieren, führt Habermas auf zwei herausragende Philosophen des 18. Jahrhunderts zurück, auf Hume und Kant. Während Kant die reiche Tradition der Philosophie mit einem umfassenden Ansatz, der auch die praktische und ästhetische Vernunft umfasst, bewahren möchte, ist Hume auf die Dekonstruktion aller Deutungsansprüche aus, die über eine methodisch erschlossene Empirie hinaus gehen: „Die Alternative (scil. zwischen Kant und Hume, FV) ist klar: Entweder muss die erkennende subjektive Vernunft um ein Vermögen der praktischen Vernunft ergänzt werden (…) oder die normativen Gehalte der transzendierenden Begriffe des Gerechten, Guten und Schönen müssen (…) im buchstäblichen Sinne ‚dekonstruiert‘, also auseinandergenommen und ‚reduziert‘, das heißt via empirischer Erklärung auf beobachtbare Phänomene zurückgeführt werden.“ (Bd. 2, S. 207)

Habermas will mit Hilfe seiner weit ausholenden Geschichte des philosophischen Denkens prüfen, welche der konkurrierenden Richtungen durch sie gestützt wird. Er stellt die Geschichte der Philosophie als eine Genealogie dar, neuere Entwürfe entwickeln sich aus älteren, indem sie neue Erkenntnisse aufnehmen oder auf veränderte gesellschaftliche Konstellationen reagieren. Diese Genealogie interpretiert Habermas also als einen Lernprozess. Welche der beiden konkurrierenden Richtungen ergeben sich zwangloser als fortgesetzter Lernprozess aus der vorangegangenen Entwicklung? Der erste Band stellt die „Okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen dar und endet mit den Ansätzen des Spätmittelalters und der Renaissance. Der zweite Band folgt der Diskussion von Glauben und Wissen seit der Reformation und der Neuzeit bis zu den Positionen der Junghegelianer im 19. Jahrhundert.

Die Gretchenfrage: Wie hältst Du es mit der Religion?

Das Spannende und auch Überraschende gerade auch aus der Perspektive christlicher Theologie ist nun, dass Habermas diese Geschichte der Philosophie Europas so erzählt, dass er sie als einen ständige Neubestimmung des Verhältnisses von Glauben und Wissen darstellt! Das ist in der durch und durch säkularen Diskussion der gegenwärtigen Philosophie überraschend. „Die Frage, was sich die Philosophie noch zutrauen kann und soll, entscheidet sich heute, ungeachtet ihres unverhohlen säkularen Charakters, in jenem transformierten Erbe religiöser Herkunft.“ (Bd. 1, S. 15) Diese These im Kern seiner Ausführungen ist erstaunlich. Man kann die Situation in zugespitzter Form so beschreiben: Der säkulare Philosoph Jürgen Habermas möchte sich in einer Auseinandersetzung mit konkurrierenden säkularen philosophischen Ansätzen seine Position dadurch argumentativ stärken, dass er auf die sehr lange Geschichte des Wechselspiels von Glaube und Wissen, von christlicher Theologie und griechischer Philosophie verweist. Was heute so ungewöhnlich wirkt, war nach dem Zweiten Weltkrieg noch Grundlage einer lebhaften Diskussion. Damals hatte es im deutschsprachigen Raum eine breite Debatte um das Verhältnis der Philosophie zur christlichen Tradition gegeben. Habermas erinnert an sie, um sich zugleich davon abzugrenzen. Weder will er der Nostalgie eines Carl Schmitt folgen, noch der Abgrenzung eines Hans Blumenbergs (vg. Bd. 1, S. 42; Bd. 1, S. 67).

Letztendlich doch Säkularisierung der Religion?

Klar ist, dass Habermas die Geschichte von Glauben und Wissen nicht als Dialog zweier gleichberechtigter Partner konzipiert. Letztlich obsiegt die Philosophie und es ist für den säkularen Philosophen Habermas klar, dass vor der Prüfinstanz der Philosophie nur rationale Gründe gelten können. Jedoch fasst er sie weiter als eine Einschränkung auf wissenschaftliche Methoden. Er bezieht sich insbesondere auf das Reservoir der Lebenswelt, um einen anspruchsvolleren Begriff von Vernunft ableiten zu können: „Was wir ‚Vernunft‘ nennen, ist nur die subjektive Spiegelung einer soziokulturellen Lebensform sprachlich vergesellschafteter Subjekte (…).“ (Bd. 1, S. 174). Mit dieser Vernunft müssen sich Gründe für normative Aussagen finden lassen.

Die theologischen Gehalte werden und müssen säkularisiert werden, da ist sich Habermas sicher. Aber die säkulare Position der Philosophie zehrt als solche von ihrer Loslösung von der Theologie. Er versucht „den Prozess der ‚Einwanderung‘ theologischer Gehalte ins profane Denken als einen philosophisch nachvollziehbaren Lernprozess darzustellen.“ (Bd. 2, S. 806) Auch am Ende der umfangreichen Arbeit über diesen Lernprozess ist dem Autor nicht deutlich, ob es noch nicht abgegoltene Gehalte religiöser Erfahrung gibt, die darauf harren, in die säkulare philosophische Sprache übertragen zu werden.

Der Entwurf kann und wird sicherlich noch lebhaft kritisch diskutiert werden. Hans Joas und Otfried Höffe haben das schon in ersten Rezensionen begonnen. Man kann und muss die Annahme von Habermas hinterfragen, die religiösen Gehalte ließen sich über einen Lernprozess einer säkularen Vernunft zuführen. Wichtig finde ich aber unabhängig von der konkreten Ausführung auf jeden Fall sein deutliches Plädoyer für die Ressourcen der Lebenswelt und für eine neue Beurteilung des viele Jahrhunderte währenden Dialogs zwischen Glauben und Wissen, der die okzidentale Geistesgeschichte geprägt hat! Man muss die Arbeit von Habermas auch als Hinweis lesen, dass in dem scheinbar Vergangenen und Veralteten der Diskussionen der letzten Jahrhunderte und Jahrtausende für die Gegenwart noch so manche Schätze zu bergen sind!

Zur Hauptseite

Ein Plädoyer für das Unperfekte – Unsere leibliche Existenz und die digitalen Technologien

Wir sind leibliche Wesen

Menschen sind leibliche Wesen. Wir sind ebenso durch unseren Körper bestimmt wie auch durch geistige Fähigkeiten. Wir sind weder auf das eine noch auf das andere zu reduzieren. Das ist im Kern die Bedeutung des philosophischen Ausdrucks „Leib“: Er weist darauf hin, dass wir eine eigentümliche und schwer zu definierende Mischung sind von Materie und Bewusstsein, von Körper und Geist. Die philosophische Schule der Phänomenologie hat Methoden entwickelt, mit diesem irreduziblen Gemisch, mit dieser ständigen Doppelbestimmung umzugehen. Sie setzt bei unserer Lebenswelt an, also bei unseren alltäglichen Erfahrungen und Handlungen. Denn unsere alltäglichen Handlungen und Erfahrungen sind stets von beidem bestimmt. Die Haltungen, alles auf den materiellen Körper zu beziehen oder alles auf das begriffliche Bewusstsein zu beziehen, führen zu Abstraktionen: Der objektive Körper, die reine Vernunft. Jede Handlung, jede Erfahrung in der Lebenswelt haben aber Anteile von beidem, sie geschehen bewusst und sind zugleich körperliche Vorgänge. Im Alltag unterscheiden wir auch nicht zwischen beiden Seiten, wir leben in den undefinierten Zuständen dazwischen.

Wenn wir von unserer leiblichen Existenz ausgehen, wie ist dann die Entwicklung digitalen Technologien zu beurteilen? Am Rande einer Tagung in Aachen hatte ich Gelegenheit, mit Bernhard Waldenfels, dem prominentesten Vertreter der phänomenologischen Philosophie im deutschsprachigen Raum, ein Gespräch zu führen (siehe hier). Seine Haltung gegenüber den digitalen Technologien ist durchaus kritisch. Es steht etwas auf dem Spiel in einer Kultur, die immer stärker durch diese Technologien geprägt ist. Die Erfahrungen der leiblichen Existenz, die lebensweltlichen Orientierungen können verzerrt werden.

Digitale Technologien arbeiten mit definierten Zuständen

Hinlänglich bekannt ist, dass das Digitale die Virtualität betonen, also die geistige Seite des Menschen zulasten der körperlichen. Viele Stereotype der kritischen Diskussion weisen in die Richtung: Sitzen nicht viele körpervergessen stundenlang vor Bildschirmen oder beschäftigen sich mit ihrem Smartphone? Vernachlässigen sie dann nicht den Körper und befinden sich rein geistig in virtuellen Welten? Hier existiert offenkundig die Möglichkeit, aus der Balance zu geraten. Doch das Gegenteil stimmt auch: Digitale Technologien betonen ebenso einseitig den Körper als materiellen Organismus! Waldenfels weist auf bestimmte Technologien, die der Losung „Quantify yourself!“ folgen. Man joggt dann mit einem digitalen Gerät, das die Körperzustände exakt abbildet, Durchschnittswerte ermittelt und Vergleichszahlen anbietet. Der Körper befindet sich in einer kontinuierlichen Überwachung. Durch die Hilfsmittel reduziert sich der Mensch auf einen objektiven Körper.

Die digitalen Technologien befördern also nicht so sehr die Bevorzugung des Bewusstseins gegenüber dem Körper, sie betonen vielmehr beide Extreme, den virtuellen Geist einerseits und den objektiven Körper andererseits. Auf der einen Seite ist unser Leib der Zugang zu einem virtuellen Raum, in dessen Weiten wir uns verlieren können. Auf der anderen Seite erscheint unser Leib in der digitalen Welt als ein genau beobachtetes und kontinuierlich vermessenes Objekt. Die Extreme werden gefördert, der Leib, der die Extreme vermittelt, dagegen wird gering geschätzt.

Die Lebenswelt als das Undefinierbare

Die große Herausforderung besteht künftig darin, auch in und mit den digitalen Technologien den Leib als solchen immer wieder zu entdecken. Der Leib zeigt sich in der Lebenswelt. Bernhard Waldenfels gab in der Diskussion der Tagung ein Beispiel, das in die Richtung weist: Besonders akrobatische Leistungen von Robotern beeindrucken ihn nicht. Das ist berechenbar. Beeindrucken würde ihn dagegen, so sagte er, wenn ein Roboter in einem Handlungsablauf innehalten würde, wenn er zögern  würde!

Dies ist ein wichtiger Hinweis auf die Lebenswelt, denn sie ist eine Sphäre jenseits perfekter Funktionsabläufe (des Körpers) und jenseits perfekter Illusionswelten (des Geistes). In der Lebenswelt regiert das Imperfekte, das, was ins Stolpern bringt, das, was undefinierte Situationen ermöglicht. Im Alltag können wir uns oft nicht so gut entscheiden, wir zweifeln, wir haben Bedenken oder wir haben nicht den notwendigen Überblick.

Plädoyer für das Unperfekte

Wenn wir auch in einer Welt mit digitalen Technologien unsere leibliche Existenz in der Lebenswelt erhalten wollen, müssen wir auf das achten, was sich nicht genau messen oder definieren lässt. Hierzu gehört nebenbei auch die Fantasie. Virtuelle Welten etwa über VR (Virtual Reality) Brillen mögen beeindruckende Spielumgebungen schaffen, aber sie lassen kaum Raum für die Fantasie. Was sich zeigt, ist immer schon definiert. Das ist bei klassischen Rollenspielen von Kindern (Räuber und Gendarm) eben nicht der Fall. Hier braucht es die ausgeprägte Fähigkeit, das, was sich zeigt, anders zu deuten. Hier ist nichts perfekt, hier ist nichts genau vorgegeben. Die Fantasie eröffnet einen Freiraum undefinierter Zustände. Ein Großteil unseres Lebens findet aber tatsächlich genau in dieser unperfekten Sphäre statt. Die wertvollsten Erfahrungen machen wir in einer solchen Umgebung. Sie gilt es zu erhalten auch in einer digitalen Welt. Das heißt: Wir müssen Umgangsformen mit den digitalen Medien und Technologien finden, die das Undefinierte undefiniert sein lassen.

 

Gibt es Vernunftsgründe für die Existenz Gottes?

 

Die Frage, ob man die Existenz Gottes mit Vernunftgründen belegen kann, ist schon alt. Sie ist in Zeiten diskutiert worden, in denen die allermeisten Menschen noch selbstverständlich von der Existenz Gottes ausgingen. Philosophen des Mittelalters haben auf diese Weise versucht, die biblische Rede von Gott mit der Begrifflichkeit griechischer Philosophie zu verbinden. Die Voraussetzung solcher Vorhaben war und ist, dass man Gott in einer Weise definiert, die dem vernünftigen Nachdenken zugänglich ist. Gott werden dann in der Regel Eigenschaften zugesprochen wie: Gott ist allmächtig. Oder: Gott ist allwissend. Oder. Gott ist das, was größer nicht gedacht werden kann. Ist Gott mit diesen Eigenschaften definiert, versucht man zu zeigen, dass Gottes Existenz aus vernünftigen Gründen verteidigt werden kann.

Ein Beitrag zu der Frage, ob die Existenz Gottes schon aus Vernunftsgründen bejaht werden kann, ist  das sehr populäre kleine Buch des Philosophen Holm Tetens: „Gott denken. Ein Versuch über rationale Theologie.“ Tetens fragt und argumentiert als Philosoph, das heißt, nur innerhalb jener Grenzen, die der Philosophie gesetzt sind. Er bekennt sich nicht zu einer bestimmten religiösen Gottesvorstellung. Aber er lässt an mehreren Stellen durchscheinen, dass sein Nachdenken schon in das Umfeld der christlichen Traditionen gehört.

Es geht nicht um Wunderglauben

Tetens setzt zunächst einmal die Gültigkeit der Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung voraus. Gott ist zunächst einmal nichts, was mit der Durchbrechung naturwissenschaftlicher Gesetze identifiziert werden kann. Ihm geht es vielmehr um die Frage, ob man die Behauptung, Gott existiere, mit vernünftigen Argumenten begründen kann.

Die erste und wichtigste Voraussetzung für ein solches Vorhaben ist es, dass man mit Gott Eigenschaften verbindet. Tetens beginnt zunächst beim Menschen und definiert ihn als ein endliches Subjekt. Wir Menschen sind nicht Weltgeist, sondern in endliche Körper eingebunden und haben nur endliche Erkenntniskraft. Wir sind in unserem Leben unüberwindlichen Hindernissen ausgesetzt, das definiert unsere Endlichkeit. Von dieser Definition des Menschen ausgehend, beschreibt Tetens in einem zweiten Schritt Gott als ein unendliches Subjekt. Gott ist also keinen unüberwindlichen Hindernissen ausgesetzt, deshalb ist Gott nicht endlich. Weiterhin will Gott das Gute, er ist kein kalter, distanzierter, sondern ein wohlwollender Gott. Von diesen grundlegenden Annahmen geht Tetens aus und prüft dann, ob man mit vernünftigen Gründen sagen kann, dass ein solcher Gott existiert.

Gott als Schöpfer des Bösen?

Eine entscheidende Frage ist die Frage, wie Gott und Welt zusammen gedacht werden. Gott ist nach Tetens Schöpfer der Welt. Das ist mit seiner Definition des unendlichen Subjekts vereinbar. Gott kann als Schöpfer über alles Weltliche verfügen, nichts kann ihm ein Hindernis darstellen. Denn jedes Hindernis würde ihn begrenzen, die Unendlichkeit wäre aufgehoben. Nun hat diese klassische Vorstellung von Gott dem (unendlichen, allmächtigen) Schöpfer aber ein riesiges Problem: Was machen wir mit dem Bösen in der Welt? Hier klingt die berühmte Theodizee Frage an: Wenn Gott allmächtig, unendlich ist, und gleichzeitig gut und wohlwollend, wie kann es dann das Böse in der Welt geben? Es werden begriffliche Klimmzüge notwendig, weil nun erklärt werden muss, warum das Böse ist, obwohl es Gott nicht will und obwohl das Böse für Gott kein ernstzunehmender Widerstand sein kann. Eine klassische Antwort auf dieses Problem ist, dass Gott das Böse nicht aktiv will, sondern nur zulässt. Doch warum sollte diese Unterscheidung überzeugend sein? Laufen beide Einstellungen, „wollen“ und „zulassen“, nicht auf dasselbe hinaus? Eine philosophische Vorstellung von Gott dem Schöpfer der Welt, die Gott und Welt in eine (vernünftige) Ordnung zu zwängen versucht, verwickelt sich von Beginn an in Widersprüche! Das entscheidende Gegenargument ist die Existenz des Bösen, des absolut Widervernünftigen in der Welt. Beispiele dafür finden wir jeden Tag, wir brauchen bloß die Nachrichten aus der Welt lesen.

Wie kann man vernünftig von etwas Unvernünftigen reden?

Das Problem einer rationalen Theologie im Sinne Tetens ist meiner Ansicht nach, dass sie in rationale Begrifflichkeit einzufangen sucht, was sich dieser von Beginn an entzieht. Liefere ich damit ein Plädoyer für den Irrationalismus? Nein, die Vernunft ist zu wichtig, um leichtfertig mit ihr umzugehen. Die entscheidende Frage ist, wie man sich dem nähert, was sich der Vernunft entzieht. Beide Wege halte ich für falsch: Entweder die Gottesvorstellung so weit in die vernünftige Ordnung zu zwingen, dass der Anschein entsteht, man könne Gott zu einem Teil eines Vernunftsystems machen oder aber die Vernunft zu vergessen und sich kopfüber in den Irrationalismus zu stürzen.

Dagegen ist es für mich entscheidend, wie wir uns dem Nicht-Vernünftigen, dem Über-Vernünftigen annähert, das immer im Spiel ist, wenn es um Gott geht. Auch hier sind wir aufgefordert, die Mittel der Vernunft einzusetzen, wir sollen mit verständlichen Worten von Gott reden, aber es sind die Mittel einer Vernunft, die sensibel ist für die Differenzen und Abweichungen und ihre eigenen Grenzen. Und es sind Worte, denen man abspürt, dass sie über sich selbst hinaus weisen. Die philosophische Aufklärung immer wieder hervorgehoben, wie wichtig es ist, die Grenzen der Vernunft zu berücksichtigen. Es ist nicht alles vernünftig oder alles unvernünftig. Es ist vielleicht gerade vernünftig, ständig mit den Grenzen der Vernunft zu rechnen. Wer von Gott redet, hat es aber immer mit den Grenzen der Vernunft zu tun.

Die Geschichte als Umfeld einer endlichen Vernunft

Die biblischen Texte gehen in einer bestimmten Weise mit Gott um. Sie zwängen ihn nicht in ein Prokrustesbett rationaler Begrifflichkeit, sondern betonen immer wieder die geschichtlichen Vorgänge, in denen sich Gott zeigt. Es sind konkrete geschichtliche Ereignisse, mit denen Gott in Verbindung gebracht wird, der Auszug aus Ägypten oder das babylonische Exil oder auch das Leben und Sterben des Jesu von Nazareth. Ist die Geschichte vernünftig? Nein, leider nicht. Ist sie einfach unvernünftiges Chaos? Das könnte wohl nur ein Zyniker sagen. Wir sind endliche Subjekte, wie Tetens zu Recht sagt. Aber als endliche Subjekte sind wir geschichtliche Subjekte und die Geschichte vernachlässigt Tetens. So ist es kein Zufall, dass er das apostolische Glaubensbekenntnis zitiert, dabei den ersten Artikel, Gott der Schöpfer, und den dritten Artikel, Gott als Geist, aber den zweiten Artikel: Gott offenbart in der Geschichte durch Jesus Christus komplett auslässt.

Wir leben in einem Fluss geschichtlicher Ereignisse, die wir mit der Vernunft auszuleuchten versuchen, so gut es geht. Aber es ist vielleicht besonders vernünftig, immer auch auf die Ränder zu achten, die sich der Vernunft entziehen. Also müssen wir uns gerade im Gebrauch der Vernunft üben, um dann ihre Grenzen besser erahnen zu können. Dann aber erahnen wir auch die Existenz Gottes. Seine Existenz schlüssig begründen können wir in dem kleinen Lichtkegel unserer Vernunft leider nicht.

Kann man unsere Alltagswelt mit den klassischen physikalischen Gesetzen beschreiben?

In dem schon in anderen Beiträgen erwähnten Gespräch mit Harald Lesch (www.mensch-welt-gott.de) gab es eine Gesprächssequenz  (Teil 2), die eine weitreichende Bedeutung für die Interpretation der Welt hat. Üblicherweise nehmen wir an, dass die Welt von Grund auf zunächst einmal eine physikalisch beschreibbare Welt ist. Was auch immer existiert, lässt sich auf die physikalischen Grundbestandteile reduzieren. Was auch immer uns in unserer Alltagswelt begegnet, es ist letztlich aus den Grundbestandteilen der Elementarteilchenphysik zusammengesetzt. Doch lohnt hier ein zweiter Blick, den Lesch in dem Gespräch einfordert. Er warnt vor einer „Substanzmetaphysik“, also vor der Meinung, dass es eine Substanz gäbe und dass es auf sie allein ankomme, wenn man die Welt beschreiben will.

Physik komplexer Prozesse

Ein wesentlich komplexeres Bild zeigt sich, wenn man sich gerade auf die Erkenntnis der modernen Physik einlässt! Hiernach sind es nicht nur die „Teilchen“, auf die es ankommt, sondern auch auf die Prozesse, in die sie verwickelt sind. Allein die Tatsache, dass man alle an einem Prozess beteiligte „Teilchen“ kennt, heißt noch nicht, dass man den Prozess im Prinzip berechnen kann. Schon in makroskopischen Verhältnissen kann man einigermaßen komplexe Vorgänge nicht mehr mit Hilfe von Gesetzen beschreiben (Vielkörperproblem). Und hier kommt unsere Alltagswelt ins Spiel. Wenn wir die Alltagswelt so beschreiben wollen, wie sie tatsächlich abläuft, dann müssen wir uns hochkomplexen Prozessen stellen, die wir nicht ansatzweise berechnen können.

Das unterscheidet die Alltagswelt von dem ganz Großen, dem Universum, und dem ganz Kleinen, den Elementarteilchen. In diesen Bereichen ist es möglich, Vereinfachungen einzuführen, um die Berechenbarkeit zu verbessern. So nimmt man beispielsweise an, dass die Masse im Universum annähernd gleichverteilt ist. Dadurch erst sind viele Berechnungen möglich. Natürlich ist die Masse nicht gleich verteilt, aber in den großen Dimensionen des Universums spielt das keine Rolle.

Doch in unserer Alltagswelt interessiert uns ja nicht, was wir berechnen können, wenn wir ähnliche Vereinfachungen vornehmen, sondern wir wollen doch wissen, wieso genau das geschieht, was geschieht! Und dann muss man feststellen, dass die Prozesse so komplex sind, dass sich gleich mehrere fundamentale Schwierigkeiten stellen.

Grenzen der physikalischen Beschreibung der Alltagswelt

Erstens kann man die Vorgänge nicht berechnen („Warum öffne ich gerade ein Fenster?“) Es handelt sich ausnahmelos um nichtlineare Prozesse mit einer Unzahl von Variablen. Schon bei dem ganz einfachen Drei-Körper-Problem kommt die physikalische Berechenbarkeit an seine Grenze, erst recht aber bei der Beschreibung unseres hochkomplexen Körpers, der mit den Dingen der Umwelt interagiert.

Zweitens kommen die konkreten Prozesse („Ich öffne jetzt ein Fenster“) immer nur in der Fallzahl 1 vor. Jede Situation mit der Vielzahl von Faktoren ist einmalig, die mich dazu bringt, das Fenster zu öffnen. Eine solche Situation wird niemals wieder eintreten. Also lassen sich so gut wie keine allgemeinen Gesetzmäßigkeiten für den Alltag ableiten. Ein „Gesetz“ müsste für jeden Fall neu geschrieben werden: „Am 28. Juni 2017 lässt sich gegen 11 Uhr für die Person Frank Vogelsang an dem Ort XY durch Berechnung eindeutig die Prognose ableiten, dass er das Fenster öffnen wird.“ Das ist eben nicht möglich.

 

Das bedeutet drittens, dass die Reproduzierbarkeit weg fällt, eine wichtige Voraussetzung zumindest der experimentellen Physik. Niemand kann die Konstellation rekonstruieren, nach der ich in genau dem Moment entschied, das Fenster zu öffnen.

Nun kann man entgegnen, dass das für den Einzelfall richtig sei, dass man aber trotzdem „im Prinzip“ alles beschreiben könne und nichts die physikalischen Gesetze bricht. Das ist richtig, aber es bleibt die Frage, wem die prinzipielle Aussage nützt? Wunder im Sinne der Durchbrechung allgemeiner physikalischer Gesetze können ausgeschlossen werden, das ist wahr, aber deshalb ist die Alltagswelt dennoch nicht berechenbarer geworden.

Die Alltagswelt ist eine Wirklichkeitsform, die nicht reduzierbar ist

Harald Lesch sagt in dem Interview deshalb: Die Vorgänge der Alltagswelt sind nicht reduzierbar. Es macht wenig Sinn, zu sagen, dass sie eigentlich nichts anderes sind als das, was die Bewegung der unendlich vielen beteiligten Elementarteilchen. Denn über dieser Aussage liegt der Schleier der fundamentalen Unberechenbarkeit. Eine genauere Analyse zu diesem Thema nimmt übrigens der Physiker und Philosoph Jan C. Schmidt vor in seinem Buch „Das Andere der Natur“, in dem er ausführlich die Physik nichtlinearer Prozesse und chaotischer Systeme behandelt.

Wenn wir aber an unserer Alltagswelt interessiert sind, dann brauchen wir also andere Beschreibungsformen als die der physikalischen Gesetze. Anders gesagt: Eine Physik der hochkomplexen Prozesse der Alltagswelt kommt schnell an ihre Grenzen. Da ist es dann eine hochrationale Folgerung, einen Methodenwechsel für die Beschreibung vorzunehmen: Wir fangen an zu erzählen, um das Vergangene zu beschreiben und Vermutungen zu äußern, um das Kommende zu beschreiben. Diese Verfahren in den Geisteswissenschaften und auch in der Theologie sind also in keiner Weise defizitär. Sie gehorchen nicht den Objektivitätsstandards wie die Gesetze der Physik, aber sie sind in hohem Maße sachadäquat!

%d Bloggern gefällt das: