„Jeder soll nach seiner Façon selig werden.“ Dieses Bonmot, das Friedrich dem Großen zugesprochen wird, steht für eine große Errungenschaft der Aufklärung. Es war damals gerade einmal 100 Jahre her, dass sich auf deutschem Boden Katholiken und Protestanten 30 Jahre lang bekämpft hatten. Welch ein Fortschritt! Und auch heute kann man die Errungenschaften der Aufklärung nur preisen, wenn man etwa an den interreligiösen Dialog denkt. Eine multireligiöse Gesellschaft kann nur existieren, wenn sie dem Motto: „Jeder soll nach seiner Façon selig werden.“ folgt. Der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ist das Motto im Artikel der Religionsfreiheit eingeschrieben.
Religionsfreiheit als Errungenschaft
Für ein modernes Staatsgebilde muss die Religionsfreiheit gelten und damit das Recht eines jeden Einzelnen zu bestimmen, woran sie oder er glaubt. Doch das, was im politischen Raum eine große Errungenschaft ist, kann für die Selbstinterpretation von Religionen außerordentlich problematisch sein. „Jeder soll nach seiner Façon selig werden.“ heißt dann: Jede und jeder muss selbst wissen, was sie, was er glaubt. Der Glaube ist letztendlich eine Sache des einzelnen Menschen. Ist jeder auf sich selbst zurückverwiesen, wenn es um Fragen des Glaubens geht?
Kultur der Individualität
In unserer Kultur betonen wir gerne das, was uns voneinander unterscheidet, weniger das, was verbindet. Es wird belohnt, sich von anderen zu unterscheiden. Wer etwas Besonderes ist oder etwas Besonderes aus sich macht, erfährt Aufmerksamkeit. Das gilt auch für die Religion: Im Rampenlicht stehen bestimmte Virtuosen des Glaubens, exemplarische Gläubige. Doch wenn die Aufmerksamkeit sich allein auf das Besondere richtet, gerät das, was alle miteinander vereint, in den Hintergrund. Diese kulturelle Vorgabe, die das Individuelle betont und in den Mittelpunkt stellt, lässt auch religiöse Erfahrungen immer mehr zu individuellen Ereignissen werden. Jede und jeder richtet sich auf das Besondere und Unvergleichliche aus, sucht danach.
Die Bedeutung von Verbundenheit
Doch dieses Verständnis von Religion kann in vielfacher Weise kritisiert werden. Ganz grundsätzlich ist der Mensch nicht einfach ein einzeln existierendes Wesen, das zunächst bei sich selbst und den eigenen Erfahrungen ist. Menschen sind leibliche Wesen. Die Verbundenheit mit anderen Menschen und mit der umgebenden Umwelt ist elementar und Voraussetzung menschlicher Existenz. Als leibliche Wesen sind Menschen immer schon mit anderen verbunden, etwa durch das Herkommen, durch die Sprache, durch die Kultur. Diese Verbundenheit ist nichts Zweitrangiges oder Nebensächliches, das Individuelle ist nicht das Eigentliche.
Die Vorstellung, dass jeder Mensch seinen eigenen religiösen Weg finden muss, entspricht darüber hinaus weder den soziologischen Beschreibungen von Religion. Aus der Perspektive eines distanzierten soziologischen Betrachters stehen Religionen immer in einer engen Beziehung zu Gemeinschaften. Einzelne Menschen mögen bestimmte Erfahrungen als religiös beschreiben, als eine Erfahrung von Transzendenz. Aber daraus wird noch lange keine Religion. Zur Religion gehört mehr, vor allem eine Gemeinschaft von Menschen, die ähnliche Erfahrungen miteinander teilen und sie in ähnlicher Weise zum Ausdruck bringen über Rituale, Beachtung besonderer Orte und Zeiten usw.
Der christliche Glaube als Erfahrung von Gemeinschaft
Der christliche Glaube ist in besonderer Weise von Beginn an auf Gemeinschaft ausgerichtet. Erste Glaubenszeugnisse von Christinnen und Christen waren mit ihrer Gemeinschaft eng verbunden. Diese Verbundenheit führten sie zurück auf die Erfahrung der Verbundenheit mit Gott. Man kann ganz grundsätzlich den christlichen Glauben als eine Erfahrung von radikaler Verbundenheit beschreiben. Das lateinische Wort „radix“ bedeutet „Wurzel“: Der Glaube bezeugt, dass die eigene Existenz in Gott wurzelt, in Gott gegründet ist. Er weist auf eine Verbundenheit, aus der alles entspringt: Erst durch sie finden Menschen zu sich selbst.
Die biblischen Stellen, die auf die Bedeutung von Gemeinschaft weisen, sind außerordentlich zahlreich. Schon die ersten Menschen, die Jesus Christus nachfolgten, erlebten sich auch in einer besonderen Weise miteinander verbunden. Die zwischenmenschlichen Erfahrungen sind für das Verständnis des christlichen Glaubens von größter Bedeutung. Zwischenmenschliche Erfahrungen von Verbundenheit können ein Anlass sein, die radikale Verbundenheit aufscheinen zu lassen. Das gilt insbesondere für die Liebe. Das Doppelgebot der Liebe zeigt die Nähe der Erfahrungen von Verbundenheit: Die Liebe zu Gott und die Liebe unter den Menschen stehen in einem engen Verhältnis.
Der christliche Glaube als Ausdruck für die radikale Verbundenheit ist keine individualisierte Erfahrung, sondern von Beginn an Teil eines übergreifenden zwischenmenschlichen und kommunikativen Geschehens. Er ist eingebunden in eine geschichtliche Tradition von Erzählungen, Gebeten, Bekenntnissen und Liturgien, durch die Christinnen und Christen ihrem Glauben Ausdruck geben. Der christliche Glaube erschließt sich nicht allein über Worte, aber er drängt immer wieder dazu, sich auch durch Worte zum Ausdruck zu bringen. Der christliche Glaube ist nicht ohne Worte. Auch Worte bezeugen die Verbundenheit und sind selbst eine Form von Verbundenheit: sie sind ein eminenter Ausdruck zwischenmenschlicher Gemeinschaft, der Sprachgemeinschaft. All das zeigt: Moderne Vorstellungen von einem individuellen Glauben in dem Sinn, das jede und jeder sich selbst einen Reim auf die religiösen Erfahrungen machen muss, verkürzt die Wirklichkeit des christlichen Glaubens.