Der Weg ist noch weit

Der Krieg in der Ukraine und das unsägliche Leid, die atemberaubende Destruktion sind wie ein Weckruf, der viele aufrüttelt. Wir fragen uns verwundert, warum all das Leid nicht zu verhindern war, welche Frühwarnsignale übersehen worden sind. Die Kraft der Destruktion macht sprachlos. Wir sind zutiefst irritiert: War denn nicht klar, dass der Wohlstand der Welt mit Freiheit, Wissenschaft und moderner, nachhaltiger Technik einher gehen muss?

Die Irritation des nahen Krieges

Uns irritiert das nahe Leid. Doch gab es dieses Leid nicht immer schon, ob im Jemen, ob in Äthiopien? Haben wir es nur besser von uns fernhalten können? Haben wir gedacht, dass ist eben eine andere Weltgegend? Eine Ausnahme in der deutschen Diskussion war Syrien. Hier reagierten viele in unserem Land ähnlich wie heute, mit viel Empathie. Der Krieg in der Ukraine geht aber noch darüber hinaus. Er ergreift uns mehr, weil der Krieg und seine Zerstörung unser Selbstverständnis trifft. Er erreicht uns in unserer Welt, in der wir uns eingerichtet haben

Das etwas träge Auenland Gefühl

Im Grunde haben wir im Deutschland der letzten Jahre ein Gefühl des „Auenlandes“ aufgebaut, eine glückliche Metapher des Psychologen Stephan Grünwald. Wir leben in einer Welt, die in den Grundzügen jetzt schon so ist, wie sie sein soll. Da draußen gibt es sicherlich noch eine andere, eine Rest-Welt. Doch die Zukunft der Welt ist durch unsere Gesellschaft repräsentiert. Sie steht für die modernen Errungenschaften der Menschheit, für Wissenschaft und Technik und auch für den freien Handel, der kontinuierlich Wohlstand erzeugt. Hinzu kommen die Freiheiten der Lebensführung, große kulturelle Ressourcen. Die meisten anderen Länder fallen dagegen ab, mit Bedauern sehen wir die Differenz und zugleich mit der Zuversicht, dass letztlich alles so werden wird wie es bei uns jetzt schon ist. Der Welthandel und der Austausch werden es schon richten.

Die offene Auseinandersetzung der Weltanschauungen

Doch nun der so nahe Krieg: Jetzt ist viel von Zeitenwende die Rede. Es kommt nun mächtig Bewegung in die Deutung der Welt. Solche Diskussionen waren in den letzten Jahren der Selbstgewissheit eher langweilig, irrelevant. Thomas Assheuer hat in DIE ZEIT einen großen Essay über unterschiedliche Weltdeutungen veröffentlicht. Seine Referenzautoren sind: Francis Fukuyama, Alexander Dugin, Zhao Tingyang. Sehr unterschiedliche Autoren: Francis Fukuyama war derjenige, der medienwirksam Anfang der 90er Jahre von einem liberalen Zeitalter, von dem Ende der Geschichte redete (und damit den Beginn des gerade skizzierten Zeitgeistes repräsentierte). Für den Liberalismus kämpft er auch heute: In einer neueren Veröffentlichung zeigt er aber mehr die Gefährdungen des Liberalismus auf, einerseits durch die neoliberale Wirtschaft andererseits durch postmoderne Strömungen. Alexander Dugin ist Vordenker des russischen Präsidenten und verbreitet faschistoide Gedanken mit seinen Reflexionen über die eurasische Kultur und die besondere Rolle Russlands. Zhao Tingyang wiederum gilt als Vordenker der chinesischen Führung. Sein Ansatz wurzelt in der chinesischen Geschichte, er erhebt die vorkaiserliche Zhou Dynastie zu einem leuchtenden Vorbild. Den beiden Letztgenannten ist eigen, dass sie mit den Grundannahmen liberalen Denkens nicht viel anfangen können.

Die Werte des Liberalismus gelten für alle

Warum die Beschäftigung mit den für uns abseitigen Weltanschauungen? Es zeichnet sich ab, dass der liberale Westen nicht einfach der Standard der modernen Welt ist, dass es nur einige bedauerliche periphere Abweichungen gibt. Vielmehr zeigt sich, dass große Teile der Menschheit in Ländern leben, die diese Standards nur wenig berücksichtigen. Und die Geschichte ist kein Selbstläufer hin zu immer mehr Liberalismus und Demokratie! Die nicht-liberalen Staaten repräsentieren immer noch den weitaus größten Teil der Menschheit. Allein in China leben so viele Menschen wie in dem gesamten traditionellen Westen. Übrigens sind bei den obigen Referenzautoren noch nicht die vorherrschenden Strömungen in Indien (Modi) und in muslimischen Ländern wie Pakistan, Indonesien berücksichtigt. Dies würde noch mehr deutlich machen, wie wenig liberale Werte einfach als Standard der Welt angenommen werden können.

Für einen streitbaren Liberalismus

Was heißt das? Wir brauchen weniger einen selbstgefälligen Liberalismus, der sich eh schon auf der Seite der Sieger wähnt, als stärker einen streitenden Liberalismus, einen, der nicht leichtfertig sich zum natürlichen universalen Wahrheit und zum Sieger der Geschichte erklärt, sondern der um die Mühen weiß, die vor uns liegen, damit die liberalen Werte tatsächlich zu einem Standard der meisten Menschen der Welt werden können. Hier braucht es eine echte Auseinandersetzung mit den immer noch sehr starken Alternativen. Wir brauchen eine offene Wahrnehmung der weltanschaulichen Differenzen in der Welt. Viele Beiträge in den Feuilletons dieser Tage wie der von Herrn Assheuer weisen in diese Richtung. Es bleibt noch viel zu tun.

Der Blogbeitrag zu Stephan Grünewald

Zum Artikel von Thomas Assheuer

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Wissenschaft oder Weltanschauung oder…? Glaubensaussagen zeugen von der Verbundenheit mit der Wirklichkeit

Dieser Vorwurf wird im Dialog zwischen Naturwissenschaften und Theologie von Vertreterinnen und Vertretern einer naturalistischen Position oft erhoben: Gläubige Menschen argumentieren weltanschaulich, weil sie sich nicht mit einer (natur-)wissenschaftlichen Beschreibung der Welt zufrieden geben. Der Vorwurf impliziert, dass man entweder die Welt wissenschaftlich beschreibt oder, wenn man die Grenzen der Wissenschaften überschreitet, weltanschaulich argumentiert.

Zwei getrennte Bereiche?

Zunächst legt sie nah, es gäbe zwei säuberlich abgetrennte Bereiche, den der Wissenschaft und den der Weltanschauung. Der eine Bereich ist von Aussagen bestimmt, die empirisch bestätigt sind, der andere von Aussagen, die auf Wünschen, Fantasien, Glaubensvorstellungen und so weiter beruhen. Etwas Drittes ist nicht möglich, Aussagen über die Welt sind entweder wissenschaftlich oder weltanschaulich. Da aber weltanschauliche Aussagen vermieden werden sollten, ist man als vernünftiger Mensch gehalten, sich auf die wissenschaftlichen beschränken. Meiner Ansicht nach aber ist diese Unterscheidung, auf die der Vorwurf beruht, nicht zu halten.

Ein Beispiel aus der Kultur

Was macht man mit der Aussage: „Bertold Brecht war ein begnadeter Dichter.“? Es ist offenkundig, dass diese Aussage über Bertold Brecht keine wissenschaftliche Aussage ist. Es gibt kein Verfahren, keine Methode, die die Aussage bestätigen oder widerlegen kann. Nun werden die Verfechter des Naturalismus einschränken, dass die Aussage über Bertold Brecht als begnadeter Dichter ja eine Wertung beinhaltet. Das ist der Fall. Und doch ist es keine Aussage über fantastische Begebenheiten, über Einhörner oder Fantasiewelten. Vielmehr ist dies eine Aussage über jemanden, der unbezweifelbar Teil der wissenschaftlich beschriebenen Welt war, nämlich das Individuum Bertold Brecht mit einer bestimmten DNA, einem bestimmten, historisch nachvollziehbaren Lebensweg. Folgt man dieser Einschränkung, dass alle wertenden Aussagen nicht wissenschaftlich sind, dann sind sie notwendigerweise nach der obigen Unterscheidung weltanschaulich.

Nicht wissenschaftliche Aussagen sind sogar notwendig

Nun aber kann kein Mensch wertende Aussagen vermeiden. Niemand kann sich ohne wertende Aussagen in der Welt orientieren, dementsprechend machen in der obigen groben Unterscheidung alle Menschen notwendigerweise immer auch weltanschauliche Aussagen. Die Vorstellung zweier in sich geschlossener Bereiche ist damit hinfällig. Wertende und damit weltanschauliche Aussagen durchdringen den Alltag. Dann aber geht der Vorwurf, Christinnen und Christen würden weltanschaulich argumentieren, ins Leere, da doch alle Menschen, sofern sie Wertungen vornehmen, notwendigerweise weltanschauliche Aussagen vertreten.

Nicht wissenschaftliche Aussagen sind nicht nur subjektiv

Nun können die Verfechter des Naturalismus weiterhin einschränken, dass die Aussage „Bertold Brecht war ein begnadeter Dichter“ als wertende Aussage eine subjektive Aussage ist, die nicht den Anspruch erhebt, objektiv gültig zu sein. Doch was heißt das? Könnte man genauso gut das Gegenteil behaupten? Diejenigen, die Brecht für einen guten Dichter halten, werden vehement widersprechen, auch jene, die zugleich Naturalisten sind. Denn eine solche wertende Aussage soll nicht nur für den Menschen gültig sein, der sie ausspricht, sondern für möglichst viele, wenn sie denn zustimmen. Wenn nur ein einziger Mensch etwas mit einer Aussage anfangen kann, braucht er sie gar nicht erst zu äußern. Sie ist so inhaltsleer wie irgendein unverständiger Laut. Vielmehr erwartet der Mensch, der die Aussage macht, dass andere ihr oder ihm zustimmen. „Ja in der Tat, Brecht war ein begnadeter Dichter, man denke nur an seine Kunst, mit sprachlich kargen Mitteln so treffende Ausdrücke zu finden!“ An die erste Aussage mit einem wertenden Gehalt schließt sich im Dialog eine weitere, ebenfalls mit einem wertenden Gehalt an. Deshalb werden wertorientierte Aussagen gemacht. Sie appellieren an andere Menschen, zuzustimmen.

Nicht wissenschaftliche Aussagen sind wichtig für das Zusammenleben

Das heißt aber, dass solche wertenden Aussagen in zahlreicher Form existieren und menschliche Gemeinschaften durchdringen. Diese Aussagen sind nicht wissenschaftlich, das sei zugestanden und doch sind sie für keinen Menschen, der in einer sozialen Umwelt lebt, verzichtbar. Dann aber ist es nicht entscheidend, dass man wertende Aussagen macht, sondern, wie man mit ihnen umgeht. Nun steht der anfangs geäußerte Vorwurf der Weltanschauung im Raum. Doch eine Weltanschauung ist eine geschlossene Theorie über die Welt, allerdings eine, die auch auf nicht wissenschaftliche Aussagen ruht.

Glaubensaussagen jenseits von Wissenschaft und Weltanschauung

Es wäre in der Tat gefährlich, weltanschauliche Aussagen mit den wissenschaftlichen Aussagen gleichzusetzen. Überhaupt ist die Vorstellung, es gäbe so etwas wie die eine und richtige Anschauung von der Welt für eine offene Gesellschaft bedrohlich. Und ja, es gab Zeiten, in denen christliche Aussagen über die Welt wie weltanschauliche Aussagen behandelt wurden. Aber es gibt ein tertium datur. Man kann die christlichen Aussagen über die Welt als Schöpfung Gottes vielleicht besser verstehen, wenn man sie mit wertenden Aussagen vergleicht. Sie sind nicht einfach subjektive Eindrücke, schon gar nicht sind sie Aussage über Fantasiewelten. Sie sind Aussagen über die Welt, die um Zustimmung werben. Sie verweisen auf eine existentielle Verbundenheit, die nur die übersehen, die allein wissenschaftlich-objektivierenden Beschreibungen folgen. Sie hegen die Hoffnung, dass möglichst viele andere diesen Aussagen zustimmen. Und doch sind sie keine geschlossene Weltanschauung. Denn Christinnen und Christen wissen, dass man Gott nicht in geschlossene Theorien fassen kann. Der christliche Glaube bezeugt die Wahrheit des Glaubens, sie hat sie aber nicht verfügbar. Dieser Unterschied ist entscheidend. Wer ihn berücksichtigt findet sich in größerer Nähe zu jenen, die Bertold Brecht einen großen Dichter nennen als zu jenen, die sich allein auf Wissenschaftliches reduzieren und jenen, die geschlossene Weltbilder verkünden.

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