Hoffnung ist nicht einfach der Ausdruck für eine positive Sicht auf die Zukunft. Eine positive Sicht auf die Zukunft kann sich aus einigermaßen sicheren Prognosen ableiten: Morgen scheint die Sonne. Mit guten Daten ist die Wetterprognose heute einigermaßen sicher. Doch ist es ein Ausdruck von Hoffnung, wenn dann jemand aufgrund der Prognose zuversichtlich ist, dass morgen die Sonne scheint?
Am Anfang ein Defizit
Hoffnung, so das bisherige Ergebnis, ist gerade elementar mit einem Mangel verbunden, mit einem Mangel an Überblick über die Gegenwart, mit einem Mangel an Prognosefähigkeit. Die radikale Hoffnung ist sogar von dem tiefgreifenden Defizit geprägt, dass ein ganzer kultureller Rahmen abbricht und es keinen Zugang mehr gibt zu den vertrauten Erzählungen.
Die Brücke zu künftigem Sinn
Was macht die Hoffnung mit dieser Situation? Sie entwickelt trotz der Einschränkungen die Fähigkeit zu Erzählungen, die in die Zukunft weisen. Erzählungen wiederum unterscheiden sich von Prognosen. Prognosen sind desto besser, je genauer die Datenbasis, je umfassender das Wissen um die Gegenwart ist. Erzählungen bleiben vage. Sie fixieren kein Wunschbild als zukünftigen Zustand. Aber das ist kein Makel, das ist ihre Stärke. Denn mit ihrer Unbestimmtheit eröffnen sie einen Raum für künftige Entwicklungen. Sie bieten ein Gerüst, das nicht darüber bestimmt, was mit welcher Wahrscheinlichkeit eintrifft, sondern das hilft, in den möglichen Entwicklungen Sinn zu finden.
Ein Traum als Brücke
Diese Erzählungen in die Zukunft hinein können sehr bruchstückhaft sein. Sie bieten keine ausgeschmückten, detailverliebten Szenerien. Plenty Coups, der Häuptling der Crow (siehe letzter Blog-Eintrag), leitet die Erzählung, die ihm eine sinnhafte und erfüllte Zukunft der Crow auch nach dem kulturellen Abbruch durch den Einzug in das Reservat ermöglicht, aus einem Traum ab. Der Traum kennzeichnet für ihn den Kontakt mit Kräften, die weiter reichen als das menschliche Vermögen. Der Traum legt damit ein Fundament für eine Erzählung in die Zukunft, die Sinnerwartungen ermöglicht.
Die Meise fordert zum Zuhören auf
Sein Traum ist der von einer Meise, die in einem Baum sitzt. Es kommen Stürme auf, aber die Meise widersteht allen Stürmen, anders als alle anderen Vögel. Ihr wird in dem Traum die Fähigkeit zugeschrieben, genau zuzuhören. Die Weisheit der Meise besteht also nicht darin, selbst wahr und falsch zu unterscheiden, sondern sich ihrer Umgebung zu öffnen und genau hinzuhören und angemessen auf die Umgebung zu reagieren. Diese Haltung weist für Plenty Coups in die Zukunft: Die Pfade der Zukunft sind nicht solche, die sich bruchlos aus der Vergangenheit ableiten lassen, sondern solche, in denen es darauf ankommt, die Umgebung genau zu studieren und flexibel auf diese Kräfte einzugehen.
Plenty Coups hört zu
Plenty Coups versteht dies so, dass er auf die neuen Bedingungen hört, die durch die Anwesenheit der Weißen und ihrer staatlichen Ordnung gegeben sind. Diese Ordnungen sind ihm und den Crow fremd, er übernimmt sie auch nicht einfach. Aber zugleich opponiert er nicht. Er achtet auf die Freiräume, die sich bieten. Er engagiert sich unter den neuen Bedingungen politisch und pflegt die Kontakte nach Washington. Dadurch gelingt es ihm, manche Entscheidungen im Sinne der Crow zu beeinflussen. Aus der traditionellen Erzählstoffen wäre sein Verhalten nicht beschreibbar, in gewisser Weise sinnlos.
Der zukünftige Sinn
Für Plenty Coups galt: Nur wer genau hinhört, überlebt die Stürme der Veränderung. In gewisser Weise bietet der Traum von der Meise eine Brücke. Er partizipiert an der alten Welt der Crow, auch dort hat die Meise eine bestimmte Rolle. Er weist zugleich in die Zukunft, er wird zum Ausdruck radikaler Hoffnung, die über das traditionell Beschreibbare hinaus geht. Hoffnungen bieten mit Erzählungen Brücken zu zukünftigem Sinn.