Kann Wissen gefährlich sein für die Demokratie?

Dieser Frage geht der Soziologe Alexander Bogner in einem schmalen Reklam Bändchen „Die Epistemisierung des Politischen“ nach (Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet. Stuttgart 2021) Bogner beschreibt aktuelle wissenschaftliche Interventionen in politische Debatten, die allen vor Augen sind: EpidemiologInnen und VirologInnen in der Corona Krise, MeteorologInnen, OzeanographInnen, PhysikerInnen in der Klimaforschung. Für ein angemessenes Handeln in einer Krise ist wissenschaftliches Wissen unumgänglich, das betont auch Bogner. Zugleich ist er aber in keiner Weise glücklich mit dem großen Einfluss wissenschaftlicher Expertise, wenn sie den politischen Entscheidungsprozess überflüssig zu machen scheint, getreu dem Motto: There is no alternative.

Der Positivismus Streit

Bogner erinnert dabei auch an die alte Szientismus Debatte der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, den so genannten Positivismus Streit. Damals war es geradezu ein Kennzeichen progressiver Positionen, wissenschaftskritisch zu sein. Denn die Wissenschaft, die unter das Label „Positivismus“ gefasst wurde, so der Vorwurf, produziert ein opakes Weltbild, das keine Alternativen kennt.  Wer jedoch für gesellschaftliche Alternativen eintritt, muss die Fixierung auf Empirie und Fakten durchbrechen. Eine Gesellschaft von morgen ist möglich, wenn man auch andere Quellen als die empirischen Wissenschaften hinzuzieht. Die Protagonisten auf der gesellschaftskritischen Seite waren etwa Adorno und Habermas, aufseiten der Wissenschaftsverfechter Karl Popper und Hans Albert. Ein Widerschein dieser Debatten zeigte sich auch in den späteren Schriften von Habermas, etwa, wenn er von der „Kolonialisierung der Lebenswelt“ durch die gesellschaftlichen Systeme sprach, zu denen auch die Wissenschaften gehören.

Aber: Vorsicht vor den Aufklärungsgegnern

Doch heute ist es nicht mehr so ganz einfach, mit diesem Problem umzugehen, das ist auch Bogner klar. Denn wissenschaftliche Expertise in aktuellen Debatten abzulehnen, würde bedeuten, Tür und Tor allen möglichen Phantasten zu öffnen, heißen sie nun Corona Leugner, Klimaleugner, Impfgegner oder Verschwörungstheoretiker. Bogner hebt auch deutlich hervor, dass es in diesem Ringen um wissenschaftliche Expertise auch organisierte Gegenaufklärer gibt, wie das Cato Institute in den USA oder das Medienimperium von Robert Murdoch. Wer alle scheinbaren „Wahrheiten“ zulässt, landet im „epistemischen Tribalismus“ (118)

Fact-fake Unterscheidungen sind eingängig, aber zu simpel

Und doch ist es das Verdienst von Bogner, einmal mit Nachdruck auf die Problematik von wissenschaftlich abgesichertem Wissen in politischen Debatten einzugehen und nicht voreilig sie allein den Wissenschaftsgegnern in die Schuhe zu schieben. So fragt er provokativ in Hinsicht auf eine aktuelle Expertenhörigkeit: „Diese neue Variante des Szientismus ist, und das kann man nicht nachdrücklich genug betonen, demokratiepolitisch gesehen wahrscheinlich bedenklicher als das leicht durchschaubare Spiel mit Fake News und Twitter Lügen im politischen Alltag.“ (S. 121)

Gibt es sie, DIE Wissenschaft?

Ein klares Plädoyer dafür, diese allzu leichte Unterscheidung von Fake und Facts nicht mitzumachen. Denn die so genannten Facts sind nicht so harmlos, wie es der aktuelle Zeitgeist gerne glauben machen möchte. Zunächst: Die einfache Unterscheidung legt nah, dass es DIE Facts gäbe, DIE Position DER Wissenschaft. Das ist natürlich ein hoch reduktionistisches Wissenschaftsbild. Wissenschaft gleicht eher einer offenen, kollektiven Suche mit der ständigen Bereitschaft, sich korrigieren zu lassen. Doch andererseits gibt es wissenschaftliche Erkenntnisse, die man nicht in Frage stellen sollte. Wer die Erdanziehung leugnet und aus dem Fenster springt, wird schnell auf dem „Boden der Tatsachen“ landen. Es gibt also Tatsachen, aber im politischen Raum müssen sie immer auch noch gedeutet und bewertet werden (etwa die Verordnung, vor alle Fenster Auffangnetze zu spannen). Die Abkürzung, unmittelbar von „Fakten“ auf politische Maßnahmen zu schließen, darf eine der Aufklärung verpflichtete Politik nicht gehen.

Künftige Klimadebatten brauchen beides: die Unterscheidung und die wechselseitige Bezugnahme von Wissenschaft und Politik

Das Büchlein von Bogner ist gerade vor den jetzt anstehenden Klimadebatten – in der neuen Legislaturperiode wird „plötzlich“ die Frage auftreten, wie nun die 65 % CO2 Reduktion in den kommenden 8 Jahren erreicht werden soll. Manche Maßnahme wird dann mit der Stimme DER Wissenschaft begründet werden. Doch kann man aus den wissenschaftlichen Befunden keine politischen Maßnahmen ableiten. Das muss immer noch die Politik – vor den Wählerinnen und Wählern – selbst verantworten. Die Wissenschaft darf in der Politik nicht ignoriert werden, sie darf aber auch nicht zur alleinigen Legitimationsbasis werden.

Das Problem mit den Fakten und den „fact news“

Es findet in den letzten Jahren eine bedenkliche Verschiebung in der gesellschaftlichen Debatte statt. Es wird oft eine Zweiteilung vorgenommen. Danach gibt es zwei grundlegende Strömungen: Einerseits ist da eine Seite, die sich modern, weltoffen und rational verhält. Sie vertraut den „fact news“ und hört auf „die Wissenschaft“. Andererseits ist da eine andere Seite, die bereit ist, „fake news“ zu folgen.

Im Hintergrund dieser Debatte steht ein gravierendes Problem. Gesellschaften stabilisieren sich über Ressourcen, die Vertrauen ermöglichen. Das sind in erster Linie langfristig aufgebaute Formen der Verbundenheit, Institutionen und Organisationen, auf die sich Menschen über viele Jahre, wenn nicht sogar lebensbegleitend beziehen können. Solche Institutionen sind Volksparteien, Vereine, Gewerkschaften, Kirchen und Verbände. Jedoch sind all diese Institutionen und Organisationen in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich schwächer geworden. Damit schwindet aber auch die durch die unterschiedlichen gesellschaftlichen Institutionen vermittelte Ressource des Vertrauens, die Attraktivität von Verschwörungstheorien wird größer.

Die Gefahr, die von Verschwörungstheorien ausgeht

Diese Situation verschärft sich in Krisenzeiten wie in der aktuellen Corona Krise. Welche Maßnahme ist in dieser neuartigen Pandemie angemessen? Wem kann man trauen? Wer spricht und handelt in wessen Interesse? Die Unsicherheit, die in einer Krise entsteht, ist so etwas wie ein Humus Boden für Verschwörungstheorien. Wenn man nicht mehr den handelnden gesellschaftlichen Akteuren traut, ist der Verdacht schnell zur Hand, dass sie in einem anderen Interesse handeln, dass es eine verschwiegene Motivation gibt, die sie nicht offen legen. Hierin steckt eine nicht zu unterschätzende Gefahr für eine demokratische Gesellschaft. Es gab und es gibt immer Verschwörungstheoretiker, die eine alternative Wahrheit anbieten, die sich jeder kritischen Nachprüfung entzieht. Doch wenn diese in den größeren Kreisen der Mehrheitsgesellschaft Gehör finden, kann das die Gesellschaft auf Dauer destabilisieren. Die Evangelische Akademie im Rheinland thematisiert deshalb aktuell in einer Vielzahl von spannenden Veranstaltungen die Wirkungen und Mechanismen von gegenwärtigen Verschwörungstheorien.

Aber auch die Rede von den „fact news“ ist hoch problematisch

Die gesellschaftliche Debatte hat aber neben einer stärkeren Resonanz von „fake news“ noch eine weitere problematische Folge, über die auch gesprochen werden muss: die Auszeichnung von „fact news“. Was sollte an den „fact news“ schwierig sein? In dem Gegenüber zu den Verschwörungstheorien ist scheinbar klar, was gemeint ist. Zugleich aber verselbstständigt sich die Rede von den „fact news“ und fällt dann auf eine gefährliche Weise hinter den aufklärerischen Standards zurück, die wir schon erlangt haben.

„Fact news“ werden oft mit der Stimme „der Wissenschaft“ identifiziert. Waren wir da nicht in der gesellschaftlichen Interpretation von Wissenschaften schon einmal viel weiter? Hier werden Identifizierungen vorgenommen, die auch den aufklärerischen Umgang mit den Wissenschaften in der Gesellschaft gefährden und die langfristig sehr negative Folgen auch für die Wissenschaften haben können.

1. Wissenschaften produzieren nicht einfach Fakten

Es gehört zu den grundlegenden Standards der Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts, dass die Wissenschaften als ein offener Forschungsprozess zu beschreiben sind. „Fakten“ sind immer Teil einer Theorie, die jederzeit problematisiert werden kann. Die Auszeichnung wissenschaftlicher Theorien gegenüber Verschwörungstheorien ist es ja gerade, dass sie sich kritischen Nachfragen stellen müssen, dass sie falsifizierbar sind. Keine Theorie steht einfach für die Wahrheit. Natürlich gibt es eine Vielzahl wissenschaftlicher Erkenntnisse, die nach menschlichem Ermessen kaum revidiert werden können. Wer sie kritisiert, muss schon sehr, sehr gute Argumente haben. Man darf in keiner Weise leichtfertig mit dem Erreichten umgehen. Aber keine Theorie ist unumstößlich. Das ist auch eine Lehre aus der Entwicklung der Wissenschaften im 20. Jahrhundert.

2. Die Stellung der Wissenschaft in der Gesellschaft ist nicht die einer Wahrheitsagentur

Hier muss man sich am stärksten wundern. Es gehörte zu dem Grundbestand jeder progressiven, gesellschaftskritischen Theorie vor wenigen Jahrzehnten, einer positivistischen Rede von den „wissenschaftlichen Fakten“ zu wehren. Damals hätte es einen Aufschrei gegeben, hätte jemand eine gesellschaftliche Position mit unumstößlichen wissenschaftlichen Fakten untermauern wollen. Doch die Positivismus Debatte scheint vergessen, heute redet, wer modern sein will und etwas auf sich hält, von den unbestreitbaren Fakten der Wissenschaft. Die Wissenschaften erscheinen als Wahrheitsagentur innerhalb des gesellschaftlichen Diskurses. Das ist äußerst heikel. Einerseits, weil wissenschaftliche Forschung sich auch irren kann, etwa auch die beste Virologie. Zum anderen sind „wissenschaftliche Wahrheiten“ IN den gesellschaftlichen Verhältnissen IMMER gedeutete Aussagen. Schon gar sind Folgerungen, die man aus wissenschaftlichen Erkenntnissen zieht, Deutungen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich in der Öffentlichkeit äußern und für sich in Anspruch nehmen, DIE Stimme der Wissenschaft zu sein, bewegen sich auf dünnem Eis. Dem mahnenden Ausruf von Thea Dorn an öffentlich auftretende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf zeitonline ist deshalb sehr zuzustimmen: „Nicht predigen sollt ihr, sondern forschen!“ Man muss ergänzen: Und auch öffentlich von der Forschung reden, aber nicht im Habitus der Wissenden, sondern der Forschenden!

3. Der problemtatische Singular „Wissenschaft“

Auf die Spitze getrieben wird diese Entwicklung immer dann, wenn nur noch von dem Singular „Wissenschaft“ die Rede ist: „die Wissenschaft sagt,…“, „wir sollten auf die Wissenschaft hören…“, „die Wissenschaft hat da eine klare Position“. Hier ist der Schritt zur Ideologisierung einer vermeintlich Wahrheit sprechenden Instanz mit Namen „Wissenschaft“ nicht mehr fern. Mit der wissenschaftlichen Forschung hat das nur noch begrenzt zu tun. Die Wissenschaft als Instanz ist immer wieder missbraucht worden. So hat man sich in den finsteren Zeiten der UDSSR auf die Wissenschaft berufen, um parteipolitische Positionen abzusichern. So hat man im 19. Jahrhundert rassistische Positionen mit der Wissenschaft (damals die beginnende Evolutionsforschung) abzusichern versucht. Das hohe Gut der Wissenschaften bestehtaber darin, dass es hier keinen Singular gibt, sondern eine offene Gemeinschaft von selbstkritischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.

Es gibt in der Summe also viele Gründe, warum man die Rede von den „fact news“ und „DER Wissenschaft“ für sehr problematisch halten sollte. Die Wissenschaften waren darin unschlagbar stark, dass sie einen selbstkritischen Erkenntnisprozess organisiert und in Bewegung gehalten haben. Hoffen wir, dass das auch die künftigen gesellschaftlichen Verhältnisse diese Bewegung weiter unterstützen!

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