Eskalation im Nebel

Der Ukraine Krieg zieht sich zeitlich in die Länge und gewinnt mit jedem Monat, der verstreicht, an Bedeutung. Die russische Invasion ist in den ersten Wochen durch eine überlegene Taktik der ukrainischen Armee erfolgreich zurückgedrängt worden. Doch nun scheint Russland seine Position im Osten konsolidieren zu wollen. Um das zu verhindern, braucht die Ukraine schwere Waffen. Nur so ist es ihr möglich, eine gute Verhandlungsbasis zu erlangen (Biden) oder auch den Krieg zu gewinnen (Baerbock, viele europäische Stimmen). Die USA und Deutschland haben in dieser Situation entschieden, der Ukraine Mehrfachraketenwerfer zu liefern.

Schwellen überschreiten

Johanna Roth schreibt dazu in „Die Zeit“: „Dennoch ist es abermals eine Schwelle, die die USA hier überschreiten.“ Und weiter: „Russland setzt darauf, seinen Angriff gegen die Ukraine in die Länge zu ziehen. Biden darauf, ihn so schnell wie möglich zu beenden, solange er noch die Mittel hat. Wie auch immer das ausgeht: Hinter dieser Schwelle wartet schon die nächste.“

Immer schärfere Sanktionen

Das, was aus der Logik des Krieges als zwingend darstellt, ist mit weiterem Abstand der Betrachtung eine kontinuierliche Eskalation. Die Eskalation erkennt man daran, dass eine selbstgesetzte Grenze nach der anderen fällt. Es reicht, die Verlautbarungen der letzten Monate nebeneinander zu stellen. Das lässt sich gut an denen der deutschen Regierung nachvollziehen. Zu Beginn, unmittelbar vor dem eigentlichen Einmarsch, hat der Bundeskanzler tunlichst vermieden, den Begriff „Nord Stream 2“ in den Mund zu nehmen, es gehe aber um starke Sanktionen.

Nach dem Einmarsch folgte die Ankündigung der Zeitenwende. Nun war die Regierung bereit, schärfste Sanktionen zu verhängen. Doch der Ausschluss der russischen Banken vom Zahlungsverkehr über das System SWIFT solle davon ausgenommen werden. Auch das ist nun für die meisten Banken geschehen. Ein Sanktionspaket folgt dem nächsten, es sind mittlerweile die schärfsten in der Geschichte wirtschaftlicher Sanktionen, wie zu lesen ist.

Immer größere Waffensysteme

Zugleich ging es und geht es nun um Waffenlieferungen. Zu Kriegsbeginn erfolgte die Ankündigung, 5000 Helme in die Ukraine zu senden, ein kommunikatives Desaster und nicht ernst zu nehmen. Im März wurden von Deutschland kleinere, mobile Waffen wie Panzerfäuste und tragbare Boden-Luft Raketen versprochen. Deutschland suchte in den Beständen und fand welche aus dem DDR Arsenal. Aus heutiger Sicht kann man über diesen Schritt nur den Kopf schütteln. Dabei ist dieser Schritt Mitte März entschieden worden, das ist ein Monat nach dem Einmarsch und gerade einmal zwei Monate her!

In einem weiteren Schritt hieß es, man erwäge alles jenseits der Lieferungen schwerer Waffen. Dann wird es möglich, schwere Waffen zu liefern, wenn dies über einen Ringtausch läuft, so dass nicht schwere Waffen westlicher Bauart, sondern solche aus ehemaligen Beständen der Ostblock Armeen geliefert werden. Haubitzen und Schützenpanzer folgten von westlichen Partnerländern. Nun also folgt als nächster Schritt die Sendung von Mehrfach-Raketenwerfern, sowohl aus den USA wie auch aus Deutschland, wenn auch von dort mit erheblicher Verzögerung, erst im Oktober.

Was genau ist das Ziel?

Das große Problem, das hinter dieser Maßnahmenkette steht: Es ist nicht eindeutig, was denn das Ziel ist. Es gibt zwei Formulierungen: „Die Ukraine muss den Krieg gewinnen.“ oder „Russland darf den Krieg nicht gewinnen.“ Niemand redet davon, Russland auf seinem eigenen Territorium zu besiegen. Aber was dann?

Die Ziele bleiben vor allem auch deshalb diffus, weil unklar ist, was Russland will. Wenn Russland in seinen eigenen Grenzen souverän bleibt, in welcher Situation willigt es ein, zum Beispiel zu dem Zustand vor dem 24.2. zurückzukehren? Erst dann, wenn es möglich ist, realistisch einzuschätzen, was den Gegner motiviert, ist auch klar, was die eigene Seite einsetzen sollte, um die eigenen Ziele zu erreichen.

Was will Russland?

Immer mehr hat sich die Formulierung „Putins Krieg“ durchgesetzt. Das legt nahe, es ist ein einzelner Mensch für die Invasion verantwortlich ist. Ist das eine realistische Beschreibung? Die Eskalationsdynamik westlicher Aktionen zielt darauf, dass die russische Führung einlenkt, zu Verhandlungen bereit ist. Davon ist aber angesichts der bisherigen Maßnahmen nichts zu sehen.

Das führt zu der entscheidenden Frage: Warum hat Russland den Krieg überhaupt begonnen und warum hat es nicht nach kurzer Zeit abgebrochen, als klar war, dass es zu einem schnellen Regime Change nicht kommt? Warum hat Russland die bislang hohen Verluste von vielleicht 15000 Soldaten hingenommen angesichts des überschaubaren Erfolgs im Donbass? Die Wirtschaft Russlands wird massiv leiden. Die Sanktionen sind alles andere als harmlos, die Bevölkerung, schon vorher auf keinem hohen Wohlstandsniveau, wird verarmen. Ist denkbar, dass Putin eine Ansprache hält, den Gewinn von ein paar Quadratkilometern im Donbass als Erfolg verkündet, angesichts einer weitgehenden Verarmung der Bevölkerung, dem Exodus einer jungen Elite, dem Tod von zigtausend russischen Soldaten, einer irreversiblen Umleitung der westlichen Energieversorgung?

Erst dann, wenn es möglich ist, abzuschätzen, was den Gegner antreibt, wird auch kalkulierbar, wann er zu Verhandlungen bereit ist, ist es auch möglich, den eigenen Einsatz abzuschätzen. Sonst bleibt nur eine Eskalationsdynamik mit einem offenen, unbekannten Ende.

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Autor: Frank Vogelsang

Ingenieur und Theologe, Direktor der Evangelischen Akademie im Rheinland, Themenschwerpunkt: Naturwissenschaften und Theologie

Ein Gedanke zu „Eskalation im Nebel“

  1. Das ist ja genau das Problem, dass nicht klar ist, was Putin antreibt. Was wir wissen, ist, dass er einem Traum vom großrussischen Reich träumt, zu dem auch die Ukraine zwingend gehört. Doch dass die Ukrainer da anderer Ansicht sind, scheint ihn irgendwie überrascht zu haben. Mir scheint, dass Putin inzwischen selber nicht mehr weiß, was genau sein Ziel ist, außer möglichst nicht sein Gesicht zu verlieren. Die Ukraine und der Westen wissen immerhin, dass sie nicht zulassen dürfen, dass Russland gewinnt. Das wird auch klar kommuniziert. Doch von Russland hören wir dagegen nichts, wohin die Reise gehen soll. Sogar die Begründungen für den Krieg variieren immer mehr. Die Kommunikation mit Russland und seinem Präsidenten sollte daher darauf abzielen, herauszufinden, was seine Ziele sind.

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